Zusammenfassung
„Unstreitig ist die Sprache das allerwichtigste Element, wie der Poesie überhaupt, so speziell auch des Dramas, und jede Kritik täte wohl, bei ihr zu beginnen“, notiert sich Hebbel gelegentlich in sein Tagebuch1. Wir beziehen die Bemerkung als Vorwurf auf uns und haben uns zu rechtfertigen ; denn weder haben wir mit der Sprache begonnen, noch haben wir einen eigenen Fragenkreis für sie vorgesehen. Dabei hält heute jede Wissenschaft von der Literatur das für eine Binsenwahrheit, was Hebbel sich seinerzeit notierte. Dichtung ist das, was sie ist, als Sprache. Sie ist als Kunstwerk ein sprachliches Kunstwerk, und es ist nur folgerichtig, daß an ihm gilt, was sprachlich gilt. Die Gesinnung eines Dichters mag so verbindlich sein, wie sie will — wenn er sie nicht in Sprache zu verwandeln weiß, bedeutet sie nichts. Theodor Haecker findet in diesem Punkt weithin ungeteilte Zustimmung, wenn er in Wertungsfragen der Dichtung auf der Sprache als einem absoluten Maßstab insistiert: „Die Sprache allein gehört so unbedingt zum Dichter, daß ohne ihre Sanktion keiner einer sein kann ; erst wenn sie klar und aufrichtig ihr Ja gesagt hat, ist er angenommen, sagt sie Nein, so kann er der Größte sein, ein ehrenwerter Mann nicht nur, sondern ein Genie, ja ein Heiliger -ein Dichter ist er nicht.
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Anmerkungen
Friedrich Hebbel »Sämtliche Werke«, hg. von R.M. Werner. Abt. II, Tagebücher, Bd 3, 1903, S. 131.
Theodor Haecker »Christentum und Kultur«, 1927, S. 181. — L.Beriger zitiert beide Äußerungen, die von Hebbel und die von Haecker in dem Kapitel »Die Sprache« (»Die Literarische Wertung«, S. 52ff.).
Walter Hinck »Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie«, 1965, S. 186.
Schiller, Nationalausgabe, Bd 22, 1958, S. 327.
Hermann Hettner »Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert«, Neuaufl. 1961, Bd I, S. 697.
Heinrich Bornkamm »Die innere Handlung in Lessings ‚Miß Sara Sampson’«, in: Euph., Bd 51, 1957, S. 385–396.
vgl. zum Thema fernerhin die eben veröffentlichte Betrachtung von Gerhard Fricke »Bemerkungen zu Lessings ‚Freigeist’ und ‚Miß Sara Sampson’«, in: Festschrift f. J. Quint, 1964, S. 83–120.
Hugo von Hofmannsthal: Ges. Werke in Einzelausgaben, Bd »Aufzeichnungen«, 1959, S. 269.
Peter Szondi »Theorie des modernen Dramas«. (edition suhrkamp. 27.), 1963, S. 89.
E.T.A. Hoffmann »Poetische Werke«, Bd 10, 1961, S. 212.
Georg Ellinger »Das Disziplinarverfahren gegen E.T.A. Hoffmann«, in: Deutsche Rundschau, 1906, H. 10, S. 97.
Volker Klotz »Geschlossene und offene Form im Drama«, 1960; dort S. 158 das Kapitel ‚Autonomie der Szene’. — Helmut Krapp »Der Dialog bei Georg Büchner«, 1958.
Franz H. Mautner »Wortgewebe, Sinngefüge und ‚Idee’ in Büchners ‚Woyzeck’«, in: DVjs. Jg 35, 1961, S. 521–557; auch V. Klotz (S. 160) macht auf die „metaphorischen Verklammerungen“ aufmerksam. Sie tragen ihrerseits dazu bei, daß eine Ganzheit entsteht. Nur ist sie anderer Art als im klassischen Drama.
Victor Erlich »Russischer Formalismus«, 1964, S. 182–183.
Wellek/Warren »Theorie der Literatur«, S. 276; mit Beziehung auf S.C. Pepper »Basis of Criticism«, 1945, S. 79.
Herman Meyer »Zum Problem der epischen Integration«, in: H.M. »Zarte Empirie«, 1963, S. 12–32.
Wilhelm Emrich in: »Deutsche Literatur in unserer Zeit«, 1959, S. 69.
Hans Egon Holthusen »Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn«, in: Merkur, Jg XI, H. 4, 1957, S. 305.
Gedichte von Hermann von Gilm. Gesamtausgabe. Hg. von Rudolf Heinrich Greinz, [1895], S. 9–11; das angeführte Gedicht dort S.132.
Büchmann »Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes«, 1961 (30. Aufl.), S. 333.
Emil Staiger »Versuch über den Begriff des Schönen«, in: Trivium, Jg III, 1945, S. 192.
Emil Staiger »Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit«, 1963, S. 17.
Wolfgang Kayser »Literarische Wertung und Interpretation«, in: W. K. »Die Vortragsreise«, 1958, S. 50.
Erich Schmidt: Kleist’s Werke, Bd III, [1936], S. 135.
Emil Staiger »Kleists Bettelweib von Locarno«, in: »Meisterwerke deutscher Sprache aus dem neunzehnten Jahrhundert«, 3. Aufl. 1957, S. 100–117.
vgl. über die positive Funktion des Begriffs »Stilbruch« H. Seidler »Die Dichtung«, 1959, S. 335. — Max Wehrli spricht davon, daß eine Unstimmigkeit im höheren Sinne stimmig sein kann. Mit dieser Ein schränkung ist der zur Diskussion stehende Begriff allenfalls verwendbar auch im Gebiet der modernen Dichtung und Poetik. Wird aber im Gebrauch des Begriffs eine solche Dialektik mitvollzogen? Wir glauben es nicht. In seinem einfachen und gleichsam undialektischen Verständnis ordnet sich der Begriff einer bestimmten Ästhetik zu; und daß bestimmte Kriterien der Wertung an eine stets historisch bedingte Ästhetik gebunden bleiben, ist einer der Gründe für den Verzicht auf jenen imaginären Katalog, von dem einleitend die Rede war.
Erich Auerbach »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur«, 1946, S. 268.
Heinrich Heine »Sämtliche Werke«, hg. von Ernst Elster, Bd III, 1888, S. 304. Das interpretierte Gedicht nach derselben Ausgabe, Bd I, 1887, S. 96.
Hugo von Hofmannsthal »Ein Brief«, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa II, 1951, S. 14.
Georg Trakl »Nachlaß und Biographie«, hg. von Wolfgang Schneditz, 1949, S. 50 (Brief an Ludwig von Ficker vom 21. 11. 1913).
Rainer Maria Rilke »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, in: Ausgewählte Werke, 1938, Bd II, S. 17.
Ernst Jünger »Strahlungen«, 1949, S. 8–9.
Max Frisch »Tagebuch 1946–1949«, 1958, in der Vorrede »An den Leser«.
Walther Killy »Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen«, 1962, S. 14–15.
Hermann Broch »Der Kitsch« (Kap. V der Untersuchung »Das Böse im Wertsystem der Kunst«), Essays I, 1955, S. 348.
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Müller-Seidel, W. (1965). Der dritte Fragenkreis: Die Probleme des Ganzen. In: Probleme der literarischen Wertung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02978-2_4
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