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Spaßige Rassen

Ethno-Flanerie und Gender-Transgression in Robert Müllers Manhattan (1923)

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Zusammenfassung

Als sich Robert Müller 1924 in den Wiener Praterauen im Laufen erschoss, erfand er damit nicht nur eine konsequente Form expressionistischer performance, er verdammte auch sein größtes literarisches Projekt zum ewigen Fragment Vom akkumulativen Zeitroman Die graue Rasse, der zusammen mit den expressiven Tropen aus dem Jahre 1915 und der offenbar verschollenen Erzählung Geld die transatlantische Triadenformation Atlantis bilden sollte, hat allein das fünfteilige Textkorpus Manhattan Müllers Autodafé überlebt Die einzelnen um 1920 in diversen Zeitschriften veröffentlichten Teile des Manhattan-Zyklus zählen freilich zum Gewagtesten und Originellsten, was die expressionistische Essayistik hervorgebracht hat Zugleich erscheinen sie als idealtypisches Beispiel jener „[c]harakteristisch verquetschte[n]“, „geoplastisch beröckende[n] Darstellung“,1 die Robert Musil Müllers Duktus attestiert. Er selbst bezeichnete die neue Gattung, den „Roman-Essay“, als Programmatik und ‚Gedankenkunst‘ „der nächsten Zukunft“,2 jenen Gattungs- und Modalitätshybriden, welchen Musil idealtypisch verwirklicht hat und dem auch die Manhattan-Texte zuzurechnen sind. Im heiklen Grenzbereich von deskriptiv-affirmativer Dokumentation, kulturkritischer Reflexion, kulturpolitischer Agitation und fiktionaler Überformung konstruieren Müllers Texte eine progressive Reflexionstopographie, die unter der Rubrik ‚Amerika‘ die prominentesten kulturgeschichtlichen Diskurse ihrer Zeit amalgamiert.

Menschen und Rassen sind in die Sichtbarkeit geschleuderte Ideen.

Friedrich Lienhard, Wege nach Weimar

Now I see what there is in a name, a word, liquid, sane, unruly …,

I see that the word of my city is that word from of old …

Walt Whitman, Mannahatta

Er beging die Stadt vorsätzlich.

Robert Müller, Manhattan

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Notizen

  1. Robert Musil, Tagebücher, Heft 9, 1919/20, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1976, S.441.

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  2. Robert Müller, Okkultistische Romane, in: Ders., Kritische Schriften III. Mit einem Anhang hrsg. von Thomas Köster, Paderborn 1996, S.100–104 (101). Vgl. dazu das Kapitel ‚Essayismus‘ in: Stephan Dietrich, Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa, Siegen 1997, S.124ff.

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  3. Die produktiven Trangressionen wiederum vollziehen sich im Rahmen eines ebenso dynamischen wie ‚konstruktiv verfertigten‘ Kulturmodells: „Kultur ist einmal etwas Federndes, Elastisches, andermal etwas konstruktiv Fertiges“, ein mit der „Geste des Idealismus“ versehenes „Kräftesystem“. Robert Müller, Heroisch Bürgerlich (1913), in: Ders., Kritische Schriften I. Mit einem Anhang hrsg. von Günter Helmes und Jürgen Berners, Paderborn 1993, S.91–96 (93).

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  4. Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen (1976), Frankfurt a.M. 142003 [11983], S.19.

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  5. Vgl. Robert Müller, Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt (1914), in: Ders., Irmelin Rose und andere verstreute Texte, hrsg. und mit einem Nachwort von Daniela Magill, Paderborn 1993. Vgl. dazu meinen Beitrag Der Einkaufsbummel als Horrortrip. Ein diskursgeschichtlicher Versuch zur Attraktionskultur in Robert Müllers Erzählung Irmelin Rose (1914), in: Hormannsthal-Jahrbuch 2000, S.311–355.

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  6. Zu Müllers Partizipation am aktivistischen Diskurs Kurt Hillers vgl. Stephanie Heckner, Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers, Wien/Köln 1991, und Roger Willemsen, Die sentimentale Gesellschaft. Zur Begründung einer aktivistischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils und Robert Müllers, in: DVjs 58 (1984), S.289–316.

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  7. Guido K. Brand, Rez. zu Robert Müller, Rassen, Städte, Physiognomien, in: Das literarische Echo 26 (1924), zit. nach: Helmut Kreuzer / Günter Helmes, Expressionismus — Aktivismus — Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924), Göttingen 1981, S.292f. (292).

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  8. Robert Müller, Manhattan (1919–1921/1923), in: Ders., Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte. Mit einer Einführung hrsg. von Stephanie Heckner, Paderborn 1992, Nachweise im Text in Klammern. Vgl. dazu neben der Einführung der Hrsg. (S.16–20) insbes. Thomas Köster, Bilderschrift Großstadt Studien zum Werk Robert Müllers, Paderborn 1995, S.206–239.

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  9. ‚Klassische‘ Prä-Benjamin-Flaneure findet man im Anschluss an Baudelaire vor allem bei den impressionsästhetischen Assoziierern Hofmannsthalscher Provenienz. Zur Flaneurtypologie und -theorie vgl. Harald Neumeyer, Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999. Der Begriff fällt — bei der Diskussion des „weibliche[n] Flaneur[s]“ — auch im Manhattan-Zyklus selbst (184).

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  10. Franz Hessel, Spazieren in Berlin (1929), in: Ders., Werke, Bd.3: Städte und Porträts, hrsg. von Bernhard Echte, Oldenburg 1999, S.7–192 (103).

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  11. Zur Figur des ‚urban explorer‘ vgl. den Beitrag von Klaus Müller-Richter in diesem Band.

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  12. Robert Müller, Die europäische Seele im Bilde. Zum Verständnis des Expressionismus (1917), in: Ders., Kritische Schriften II. Mit einem Anhang hrsg. von Ernst Fischer, Paderborn 1995, S.18–21 (19).

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  13. Ebd., S.19, 21.

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  14. Zur Flanerie der Frau vgl. Anke Gleber, Female Flanerie and the Symphony of the City, in: Katharina von Ankum (Hrsg.), Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley et al. 1997, S.67–88.

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  15. Vgl. Müllers Charakterisierung der empfindsamen Jugendstilgeneradon: „Die Vernunft war ihr plötzlich zu kühl, die Willenskraft zu wenig lustspendend, die Kraft ein zu karges Lebensgefühl, da stürzte sie sich selbstverloren, traumheischend, singsingend in die Tiefe, ihre Dichter und Künstler kamen und verköndeten sie.“ R.M., Vernunft oder Instinkt? (1913), in: Ders., Kritische Schriften I, S.59–62 (59).

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  16. Robert Müller, Roosevelt, in: Ders., Kritische Schriften I, S.50–52 (52). Vgl. dazu allgemein Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Darmstadt 1998.

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  17. Neumeyer, Flaneur, S.185.

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  18. Vgl. Dietrich, Poetik der Paradoxie, S.42: „Kristallisationspunkt des Neuen ist der neue Typus […] nur insofern, als er zur Chiffre einer neuen Art von Vertextung werden kann, die den avantgardistischen Anspruch als sprachliche Form einlöst.“ Perez ist in diesem Sinne nicht nur „adäquate[r] Exeget“ und „idealer Leser“ seiner Stadt (Köster, Bilderschrift Großstadt, S.221), er ist ihr Produzent.

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  19. Robert Müller, Die Zeitrasse (1917), in: Ders., Kritische Schriften II, S.21–23 (23).

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  20. Im deutschen Umfeld wiederum verdankt sich dieser Ruf nach Reinheit, der zu immer abenteuerlicheren Konzepten angewandter Erbhygiene führte, paradoxerweise der Erkenntnis, dass „[d)ie meisten Deutschen“ nicht nur „einer Kreuzung zweier verschiedenrassiger, aber beiderseits reinrassiger Eltern“ entstammten, sondern „Mischlinge“ seien, „die selbst wieder von Mischlingen abstammen.“ Hans F.K. Günther im locus classicus der völkischen Ethnologie: Rassenkunde des deutschen Volkes, München 21923 [11922] (mit bereits 15 Aufl. bis 1932), S.210. Vgl. Ludwig Wilsers Einschätzung im Beitrag Die Bedeutung der Germanen in der Weltgeschichte (1903/04): Die Germanen waren — im Vergleich zu andern Völkern und im Gegensatz zum ‚Deutschen der Moderne‘ — „am längsten vor Vermischungen […] geschützt und hatten die meiste Zeit, ihre […] hervorragenden […] Eigenschaften auszubilden und, gewissermaßen in Reinzucht, erblich zu befestigen“ (zit. nach Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache — Rasse — Religion, Darmstadt 2001, S.88). Die völkische Eugenik ist in diesem Sinne ein ‚Entmischungsprojekt‘. Zur zeittypischen Degenerations- und Mischungsparanoia, die im „Blutchaos“ den „Rassentod“ — die „Arierdämmerung“ — perhorresziert, vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, Kapitel ‚Rasse‘, S.49ff., insbes. S.100f.

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  21. Spengler spricht sich gegen „messende und wägende“ „Rassesteckbriefe“ der anthropometrischen Forschung aus und hält „Gefühl“ und landschaftliche Einflüsse für „rassebildend“. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1917). Mit einem Nachwort von Anton Mirko Koktanek, München 141999, S.705f., 712.

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  22. Houston Steward Chamberlain, Die Grundlagen des XIX Jahrhunderts, Bd. 1, München 131919 [11898], S.320: „Wer einer […] reinen Rasse angehört, empfindet es täglich. […] Rasse hebt eben einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm ausserordentliche, fast möchte ich sagen übernatürliche Fähigkeiten, so sehr zeichnet sie ihn vor dem aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus […].“ Auch nach Kurt Hildebrandt „belehrt uns die Geschichte, daß die wahllose Mischung, das Rassenchaos zum Verfall führt“ K.H., Norm und Entartung des Menschen, Dresden 1920, S.226.

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  23. Vgl. dazu exemplarisch Hector de Crèvecœur in seinen Letters from an American Farmer (1759): „The American is a new man, who acts upon new principles. […] Here individuals of all nations are melted into a new race of men.“ Zit. nach: Arthur M. Schlesinger, Jr., „E Pluribus Unum?“, in: American Culture. An Anthology of Civilization Texts, hrsg. von Anders Breidlid et al., London/New York 1996, S.41f. Kritik an dieser Position im Paradigma der Verfallsgeschichte findet sich zu Müllers Zeit v.a. in den Werken Madison Grants, dem Autor des im Jahre 1925 auch auf Deutsch erschienen Pamphlets The Passing of the Great Race. So heißt es im Zusammenhang der Frage „What the Melting Pot actually does in practice“: „Whether we like to admit it or not, the result of the mixture of two races, in the long run, gives us a race reverting to the […] lower type.“ M.G., The Mixture of Two Races (1917), in: Breidlid, American Culture, S.40f.

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  24. Robert Müller, Der Americano (1921), in: Ders., Rassen, Städte, Physiognomien, S.83–98 (87). Vgl. Müllers Volksdefinition: ‚„Volk‘ ist weder ein nationaler folkloristischer Begriff, noch ein sozialer, sondern ein typgemäßer.“ Ebd., S.83.

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  25. Müllers Text entwirft damit zugleich ein Konkurrenzmodell zur Konzeption der ‚Blut- und Rassenschande‘, welche nicht zuletzt ihn zahlreichen Romanen dieser Zeit verhandelt worden ist Vgl. dazu den Beitrag von Stephan Dietrich in diesem Band.

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  26. Vgl. etwa Johannes Mumbauer, Vaterland! Gedanken eines katholischen Deutschen über Volk, Staat, Rasse und Nation, M.Gladbach 1915, S.33f.: „Volk, Staat, Rasse und Nation glühen für uns zusammen im deutschen Vaterland.“ Günther, Rassenkunde, legt dagegen Wert auf die exakte Unterscheidung der Begriffe.

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  27. Robert Müller, Im Kampf um den Typus (1918), in: Ders., Kritische Schriften II, S.100–105 (103f.).

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  28. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: Ders., Gesamtausgabe Bd.7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hrsg. von Rüdiger Kramme et al., Frankfurt a.M. 1995, S.116–131 (116f.).

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  29. In dieser Deutung ist die Großstadt — der „Moloch“ — „das seelische und wirtschaftliche Grab der blonden […] Rasse“ (Lanz von Liebenfels) bzw. — mit den Worten Puschners — das zentrale ‚Instrument der negativen Selektion‘. Puschner, Die völkische Bewegung, S.115f. Vgl. auch die Werbeschrift der ‚Siedelungs-Gesellschaft Heimland‘ (1909; zit. nach ebd., S.198): „Unverkennbar hat die ausgeartete Stadtkultur Vieles zur leiblichen wie auch zur sittlichen Schwächung unseres Volkes beigetragen […].“

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  30. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S.122: „Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. […] Ja, wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserve nicht nur Gleichgültigkeit, sondern […] eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

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  31. Friedrich Lienhard, Gobineaus Amadis und die Rassenfrage, in: Ders., Wege nach Weimar, Bd.5: Schiller, Stuttgart 1908, S. 1–17, 49–62, 97–114 (7; meine Kursivierung). Lienhards Optimismus — „[d]er letzte Sinn und Zweck […] des planetarischen Wachstums kann doch wohl nicht eine sinnlose Entartung sein, sondern nur eine Frucht“ (ebd., S.6) — steht als Kritik an einschlägigen Degenerationsmodellen Gobineaus und Nordaus den Erneuerungsbestrebungen der Expressionspoetik nahe. Müllers „Einwand gegen Spenglers Pessimismus“ deutet in die gleiche Richtung: Spenglers Werk erscheint ihm als ein „Buch historisch erstarrter Neurasthenie, hypochondrischen Sterbeduselns“, das „an die Klimax aufsteigenden Lebens […] nicht glauben kann […].“ R.M., Homosozialität (1921), in: Ders., Kritische Schriften III, S.8–11 (8).

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  32. Robert Müller, Die Juden als Rasse und Kulturvolk. Rez. Fritz Kahn (1921), in: Ders., Kritische Schriften III, S.48f. (48). Im Gegensatz zu Taines stabiler Determinationstriade race, milieu, moment (die aber von der ‚faculté maîtresse‘ — der individuellen Anlage des einzelnen — aktiv gekontert werden kann), sind Müllers allgemeine ‚Umstände‘ und ‚Phasen‘ selbst ‚elastisch‘ und ermöglichen durch ihre Transgressionsdynamik die Subjektgenese erst. Entsprechend werden physiognomische Besonderheiten als elastische Formierungsresultate aufgefasst. Das „römische Profil“ z.B. ist nach Müller „wie der jüdische Gesichtsschnitt und die modernen sogenannten ‚amerikanischen‘ Züge ein konstruktives Ergebnis“, das Ergebnis einer Akkulturation (Im Kampf um den Typus, S.101). Im völkischen Diskurs dagegen werden die sozialen wie die individuellen Konstruktionsspielräume gleichermaßen eingeengt; ‚Milieu‘ wird als Funktion der Rasse dieser faktisch ‚inkorporiert‘: „Man kann daher sagen, dass jede kulturfähige Rasse gewissermassen ihr Milieu in sich und mit sich herumträgt […].“ Heinrich Driesmans, Rasse und Milieu, 2. Aufl., neu bearbeitet und vermehrt, Berlin-Charlottenburg 1909, S.39.

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  33. Müller, Die Zeitrasse, S.22.

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  34. Müller, Der Americano, S.87.

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  35. Vgl. ähnlich Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903), München 1997, S.406 (zum Judentum): „Es handelt sich mir nicht um eine Rasse und nicht um ein Volk, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis. Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat.“

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  36. Lienhard, Gobineaus Amadis, S.49. Vgl. ebd., S.3: „[D]ie neue Gruppierung setzt sich aus allen Rassen und Nationen zusammen nach einem viel feineren, viel reineren Prinzip und Gesichtspunkt“; vgl. auch S.104, wo von der „Verinnerlichung und Symbolisierung der Rassenfrage“ die Rede ist.

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  37. Müller, Der Americano,. S.88.

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  38. Ebd., S.88f.

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  39. Vgl. Max Nordau, Suggestion, in: Ders., Paradoxe, Leipzig 1885, S.222–242 (239).

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  40. Ebd., S.242.

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  41. Gottfried Benn, Akademie-Rede (1932), in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd.1: Essays, Reden, Vorträge, Wiesbaden / München 41977, S.431–439 (436). Vgl. auch Benns Metaphorik einer ‚Geologie des Ich‘ in Der Aufbau der Persönlichkeit Grundriß einer Geologie des Ich (1930), in: Ders., Werke Bd.1, S.90–106.

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  42. Müllers Rassen, Städte, Physiognomien nimmt auf diese Weise teil an der Genese des modernen Körperparadigmas, das von Carus’ wirkungsmächtiger Gestaltsymbolik bis zu Klages’ ‚Ausdruckswissenschaft‘ und Benns Konzept des ‚Phänotyps‘ die geistig-seelische Potenz des Menschen als somatisches Ereignis definiert. Es ist der Beitrag der modernen Expressionpoetik zur Erneuerung des alten physiognomischen Projekts. Vgl. dazu Georg Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995. Zum lebensphilosophischen Zusammenhang der Ausdruckswissenschaft und ihrer Nähe zur emphatischen Moderne vgl. Baal Müller, Kosmik. Prozeß-ontologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler — Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, Ms. (im Druck).

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  43. Bis heute bleiben Claußens Schriften auch in einschlägigen Arbeiten zum Thema — so in Puschners umfangreichen Untersuchungen zur völkischen Bewegung selbst noch im Kapitel ‚Rassenseele‘ — unerwähnt. Dies ist erstaunlich, da sie noch bis in die 30er Jahre hohe Auflagen erfahren haben und als wirkungsvollster Beitrag einer aufgeklärten Anthropologie in diesem Zeitraum gelten können. Zur Biographie vgl. Peter Weingart, Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand Gauss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt a.M. / New York 1995.

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  44. Ludwig Ferdinand Clauß, Von Seele und Antlitz der Rassen und Völker. Eine Einführung in die vergleichende Ausdrucksforschung. Mit 231 Abbildungen auf 86 Tafeln, München 1929, passim.

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  45. Die Proponenten der empirisch-biologischen Ethnologie und Anthropologie bezeichnet Clauß als „Tatsachenschwärme[r]“ (Antlitz und Seele, S.67), deren „einseitig rassenbiologisches Begriffsschema“ er auch 1939 noch rügt (Ludwig Ferdinand Clauß, Die nordische Seele. Eine Einführung in die Rassenseelenkunde, München/Berlin 71939 [11921], S.98).

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  46. Clauß, Seele und Antlitz S.94f. Vgl ebd., S.15: „Stiltypen auf ihren Wert hin gegeneinander abzuwägen, ist hoffnungslos und wissenschaftlich widersinnig. Jeder Stiltypus trägt den Maßstab und die Ordnung seiner Werte in sich und darf mit dem Wertmaßstab eines andern Typus nicht gemessen werden.“

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  47. Vgl. ebd., S.IX: „[S]elbst wenn so etwas wie seelische Merkmale nach naturkundlich-anthropometrischer Methode erforschbar wäre, dann wäre mit ihrer Erforschung wenig geleistet für eine Erkenntnis der Rassen, weil die rassische Gesetzlichkeit der Seele irgendwo anders als in diesen Merkmalen entspringt.“

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  48. Clauß, Seele und Antliz S.61.

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  49. Ebd., S.62.

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  50. Ebd., S.72; vgl. S.80, wo die Psycho-Anthropologie auch dezidiert als „Psychologie der Stilmischungen“ angesprochen wird, sowie die Hinweise zu „Mischgestalten“, „stilgemischten Köpfen“, „Stileinschlag“ und „Anmischung“ der Typen (45f., 50, 69). Zugleich verweist die Schauspielmetaphorik, welche Claußens Werk durchzieht, auf die entschieden künsüerische Dimension des Ausdrucks und der Ausdrucksanalyse, etwa wenn der „Leib“ zum „Schauplatz“ oder „Ausdrucksfeld“ erklärt wird und die „stilkritische Arbeit“ der Methode „ähnlich zu verstehen [ist] wie in der Kunstwissenschaft“ (ebd., S.33, 73, 93).

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  51. Die seelenkundliche Methode definiert sich dabei analog zu Müllers aktivistischem Konzept der Ethno-Flanerie als Partizipationsverhältnis, das vom Seelenkundler selbst die Fähigkeit zur permanenten ‚Mimesis‘ verlangt: „Der Weg der Forschung bleibt […] immer der gleiche: mitzuleben und dann die Rolle des andern aus sich selbst heraus auf unsrer inneren Bühne zu entfalten. Darum soll unsre Arbeitsweise die mimische Methode heißen.“ (ebd., S.63.) Clauß hat diese ‚theatralische Verfahrenshermeneutik‘, die das prominente ethnologische Konzept der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ zum „mitlebende[n] Verstehen“ steigern will (ebd., S.57), tatsächlich praktiziert: als ‚Beduine unter Beduinen‘ (so der Titel eines seiner Werke) oder als Matrose auf dänischer See.

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  52. Die Einzelbilder der „mimischen Reihen“ zielen auf die möglichst vollständige Repräsentation der mimischen Gestaltungs- oder Ausdrucksmöglichkeiten des Probanden im Zusammenhang. Wie in den seriellen fotografischen Bewegungsstudien geht es dabei nicht um eine quasi-filmische Simulation der (mimischen) Bewegung, sondern um die hermeneutische Fixierung dessen, was das Auge selbst nicht sehen kann.

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  53. Clauß, Seele und Antlitz Tafel 67c und 68a. Die Übereinstimmung betrifft nicht nur die Mimik sondern selbst die Kleidung der Probanden — Jackenaufschlag, V-Ausschnitt der Weste, Hemd. Ähnlich werden normative Hierarchien durch verhaltenstypische Analogien unterlaufen, etwa wenn die „Eigenschaft ‚Verschlagenheit“‘ nicht einer Rasse zugewiesen, sondern paritätisch ebenso im ‚nordischen‘ wie ‚wüstenländischen‘ und ‚vorderasiatischen Stile‘ visualisiert und textuell erläutert wird (ebd., Tafel 82–84, dazu S.96f.).

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  54. Ebd., S.90; vgl. Tafel 73.

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  55. Ebd., Tafel 51a.

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  56. Das „typisch Jädische“ zum Beispiel ist nach Clauß „gar nicht an eine bestimmte Rasse oder Rassenmischung gebunden, sondern liegt […] in einer gewissen Ausdrucksprägung, die verschiedenen Menschenrassen (Vertretern von Stiltypen) und ihren Mischungen aufgeprägt werden kann“. Im Einzelfall kann so „dieselbe Gesichtsbildung das eine Mal jüdisch wirken […] und das andre Mal nicht.“ Ebd., S.83f.

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  57. Ebd., S.66.

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  58. So heißt es etwa in der Kommentierung einer Tafel, die einen Juden und einen Araber zeigt: „Für die Betrachtung des Stiltypus spielen solche Unterschiede — z.B. daß der eine ein Jude, der andere ein Araber ist — keine Rolle. […] Stiltypisch genommen, könnte auch der zweite ein Jude sein und der erste ein Araber.“ Ebd., S.27 (zu Tafel 28).

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  59. Vgl Siegfried J. Schmidt, Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, im Druck. Für die Möglichkeit, das Manuskript der Arbeit einzusehen, gilt dem Autor mein besonderer Dank.

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  60. Clauß, Seele und Antlitz S.69 und passim.

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  61. In jedem Fall verkörpert Perez damit das somatisch ‚Andere‘ der „idealen völkischen Lichtgestalt“; der Held des Expressionspoeten wird geradezu zum Mitglied jener „Mischrasse der Tschandalen“, die der ‚Rassenmystiker‘ Jörg Lanz von Liebenfels — am Tiefpunkt des Diskurses um dieselbe Zeit — in seinen übellaunigen Ostara-Heften vehement bekämpft (Puschner, Die völkische Bewegung, S.91).

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  62. Clauß Seele und Antlitz Tafel 54. Die Legende zu den beiden Bildern, die denselben jemenitischen Probanden zeigen, lautet: „Stilwechsel im Ausdruck. Jemenitischer Jude“ und wird mit folgenden kulturkritischen Worten kommentiert: „Die Störung des wüstenländischen Stiles wird […] noch gefördert durch die europäische Kopfbedeckung, die […] an der allgemeinen Verwirrung des Stilgefühls und der Verkitschung der stilechten Lebensformen im Morgenlande mithilft.“ Ebd., S.71. ‚Rassenreinheit‘ wird mithin durch ‚Stilreinheit‘ ersetzt; de facto aber werden beide Intentionen vom tatsächlichen Verfahren konterkariert.

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  63. Vermag doch schon ein „einigermaßen geschickter Lichtbildner […] in einem auch nur wenig stilgemischten Antlitz auf verschiedenen Bildern jeden einzelnen Stileinschlag so ausschließlich zu betonen, daß dieses selbe Antlitz bald als Vertreter der einen, bald als Vertreter der anderen Rasse beansprucht werden kann. […] Und was der geschickte Photograph absichtlich tun kann, das kann dem Stümper aus Dummheit geschehen, nämlich daß er einen Menschen durch eine ungewollte, aber entscheidende Verlegung des Stilakzents gleichsam in sein Gegenteil umphotographiert […].“ Ebd., S.72. Kritik ist hier v.a. auch am Wert der fotografischen Portrait-aufnahmen in der biologisch orientierten Rassenkunde impliziert.

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  64. Vgl. etwa Spengler, Untergang des Abendlandes, S.712: „Rasse ist […] durch und durch unsystematisch. Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seines Daseins seine eigene Rasse“, und Emst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886), Darmstadt 1987, demzufolge „der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird“, nur „relativ beständig“ ist (S.2).

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  65. Paradigmatisch ist in diesem Sinne auch die Charakterisierung des notorisch ominösen Müller-Protagonisten Jack Slim: „Nichts von seinen Ideen wurde bis beute verwirklicht; vielleicht nicht einmal er selbst.“ Robert Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915), hrsg. von Günter Helmes, Stuttgart 1993, S.14.

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  66. „Der höchste Individualismus ist der hächste Universalismus“, hat schon Weininger bezüglich des Genies vermerkt (Geschlecht und Charakter, S.233).

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  67. Gottfried Benn, Geist und Seele künftiger Geschlechter (1933), in: Ders., Werke Bd. 1, S.232–239 (234). Benns Konzept der diachronen Resomatisierung bleibt dem mythischen Modell verhaftet und entwickelt keine prospektive Mischungsstrategie; vgl. Benn, Der Aufbau der Persönlichkeit, S.104: „[I]mmer stoßen wir auf diesen Körper, seine unheimliche Rolle, das Soma, das die Geheimnisse trägt, uralt, fremd, undurchsichtig, gänzlich rückgewendet auf die Ursprünge, beladen mit Erbgut rätselhafter und unerklärlicher Zeiten und Vorgänge […], ewig natürlicher Regulator der Norm […].“

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  68. Müllers Präferenz der slawischen Kultur, die ihrerseits den Raum f„r Fernöstliches öffnet, läuft — wie Claußens Bayernmädchen — auch der antislawischen Tendenz im völkischen Diskurs entgegen: dem „Rassenkampf des All-Slawenthums gegen das All-Germanenthum“ (Puschner, Die völkische Bewegung, S.102).

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  69. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.V.

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  70. Ebd, S.5

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  71. Ebd., S.10.

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  72. Ebd., S.64f.

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  73. Weininger hat selbst erwogen, ob nicht „das Prinzip der sexuellen Zwischenformen vielleicht Aussicht hätte, für eine Rassenanthropologie bedeutsam zu werden […]“ (ebd., S.404). Kösters Untersuchung weist den naheliegenden Diskurszusammenhang (im Gegensatz zu Heckners Einleitung) aus unerfindlichen Gründen zurück (Bilderschrift Großstadt, S.208f.).

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  74. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.64.

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  75. Ebd., S.66.

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  76. Ebd., S.9.

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  77. Ebd., S.34.

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  78. Der Topos hat Karriere gemacht; vgl. etwa Stanisław Lem, Das Märchen vom König Murdas (1964), in: Ders., Die phantastischen Erzählungen, hrsg. von Werner Berthel, Frankfurt a.M. 1988, S.315–334 (318): „Der König wucherte langsam […] bis er zur ganzen Hauptstadt geworden war […]. ‚Der Staat bin ich‘ — sagte er nicht ohne Berechtigung […].“

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  79. Die Vorlage der fiktionalen Phantasmagorie ist unschwer zu erkennen: sie ‚verwirklicht‘ idealtypisch ein Krankheitsbild im Sinne Freuds: „Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen kennen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden; Fälle, in denen uns Teile des eigenen Körpers, ja Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist […]. Also ist auch das Ichgefühl Störungen unterworfen, und die Ichgrenzen sind nicht beständig.“ Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1929/30), in: Ders., Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich et al., Bd.9: Fragen der Gesellschaft — Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 2000, S.191–270 (199).

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  80. Zur Ungeschichtlichkeit des Amazonentums und seiner Nähe zum Konzept der ‚metaphysischen‘, abstrakten Rasse s. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Mit Unterstützung von Harald Fuchs et al. hrsg. von Karl Meuli, Basel 1948 (= Gesammelte Werke, Bd.2), S.49: „Das Amazonentum stellt sich […] als eine ganz allgemeine Erscheinung dar. Es wurzelt nicht in den besondern physischen oder geschichtlichen Verhältnissen eines bestimmten Volksstammes, vielmehr in Zuständen und Erscheinungen des menschlichen Daseins überhaupt. Mit dem Hetärismus teilt es den Charakter der Universalität.“

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  81. Das Zimmer (und mit ihm die Stadt) als personifizierte ‚Transgressionsmobilien‘ zeigen dabei jene ‚Leib- und Bildraum‘-Qualitäten, wie sie Benjamins Flaneur in seiner ‚Raumwahrnehmung‘ der Passage attestiert: Subjekt und Stadt-Objekt durchdringen sich im virtuellen Raum. Vgl. dazu Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S.113ff.

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  82. Die Erfüllung des Begehrens dient auf diese Weise zur Verlängerung und nicht — wie dies gemeinhin üblich ist — zum Abbruch des Flaneriens, ein Flanieren allerdings in ‚neuer Dimension‘ (vgl. Neumeyer, Flaneur, S.190).

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  83. Müller invertiert mithin das überlieferte nominalistische Modell, in dem es nur die Namen statt der Dinge gibt: ‚nomina nuda tenemus‘; im expressionsästhetischen Diskurs gelingt der Zugang zu den wahren facta nur mit Hilfe des (abstrakten) Worts.

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  84. Vgl. Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1886). Mit Beiträgen von Georges Bataille et al., München 1984, S.234, 238 (zum Stichwort „Eviratio und Defeminatio“): „Der Kranke erfährt eine tiefgehende Wandlung seines Charakters, speziell seiner Gefühle und Neigungen im Sinne einer weiblich fühlenden Persönlichkeit […] Eine weitere Entwicklungsstufe stellen Fälle dar, wo auch das körperliche Empfinden im Sinne einer Transmutatio sexus sich umgestaltet“ Vgl. ebd., S.328: „Die konträre Sexualempfindung ist eine so komplizierte seelische Anomalie, dass nur ein Kundiger Wahrheit und Dichtung sofort unterscheiden wird.“ Vgl. Freud im Sinne Weiningers: Die „soziologische Bedeutung“ der Geschlechterdifferenz ergibt, „daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf […].“ Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Ders., Studienausgabe, Bd. 5: Sexualleben, S.37–145 (123, Anm. l [1915]).

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  85. Die in der Expressionspoetik topische Subjekt-Verletzung durch die Stadt, die etwa Rilkes Malte permanent an sich erfahrt, gewinnt bei Müller textkonstitutives Potential. Vgl. Alfred Lichtenstein im Sinne Rilkes: „Die wüsten Straßen fließen lichterloh / Durch den erloschnen Kopf. Und tun mir weh“. A.L., Punkt (1913/14), in: Ders., Dichtungen, hrsg. von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer, Zürich 1989, S.80.

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  86. Auch Allusionen religiöser Art, wie etwa die hermaphroditische Geburt der Eva aus der Wunde Adams und der Wundenkult des pietistischen Diskurses, der vor allem die Verwundung Christi mit dem Speer als Bildung eines weiblichen Geschlechtsorgans gedeutet und daraus die Lyrikproduktion der ‚Wundenkultpoetik‘ abgeleitet hat, sind hierin impliziert

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  87. Vgl. Krafft-Ebing, Psychopatbia sexualis, S.330, zur „Ermittlung der Vita sexualis im Schlaf- und Traumleben“: „Hier zeigt sich die wahre Natur der geschlechtlichen Empfindungsweise anlässlich Pollutionen, die bei psychischer Hermaphrodisie überwiegend, bei allen weiteren Stufen der Anomalie ausschließlich im Sinne der konträren Sexualität betont sind, von der Stufe der Effiminatio (Viraginität) ab sogar von Traumbildern begleitet sind, welche die dezidiert passive (beim Manne) oder aktive (Weibe) Rolle beim Geschlechtsakte markieren.“

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  88. Müller stiftet damit das genaue Gegenteil der ‚stummen‘ weiblichen Diskursfigur, die — folgt man Sigrid Weigel — „immer und unausweichlich als ‚anderes‘ bestimmt“ und „von dem einen Geschlecht, dem Subjekt der Rede, definiert wird. Der Platz des Objekts kann von der Frau nicht verlassen werden […]“ (Topographien, S. 191).

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  89. Vgl. Krafft-Ebings Beschreibung der Androgynie (Psychpatbia sexualis, S.293): Es handelt sich um „Konträrsexuale, bei denen nicht nur der Charakter und das ganze Fühlen der abnormen Geschlechtsempfindung kongruent sind, sondern sogar in Skelettbildung, Gesichtstypus, Stimme usw., überhaupt in anthropologischer, nicht bloss in psychischer und psychosexualer Hinsicht das Individuum sich dem Geschlechte nähert, welchem dasselbe sich der Person des eigenen Geschlechtes gegenüber zugehörig fühlt“

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  90. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.388.

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  91. Zum aporetischen Diskurs um eine gender-abhängige ‚écriture‘ — ein Punkt, mit dem die feministische Scholastik lange Zeit gehadert hat — vgl. Sigrid Weigel, ‚Das Weibliche als Metapher des Metonymischen‘. Kritische Überlegungen zur Konstitution des Weiblichen als Verfahren oder Schreibweise, in: Inge Stephan / Carl Pietzcker (Hrsg.), Frauensprache — Frauenliteratur. Für und Wider einer Psychoanalyse literarischer Werke, Tübingen 1986, S. 108–118. Dementsprechend soll die Frage, ob es eine solche écriture ‚tatsächlich‘ gibt, hier nicht verhandelt werden; zur Debatte steht die Funktionalisierung einer feminin kodierten poiesis im oder als Diskurs. Zu ähnlichen Konzepten einer ‚Gender-Narratologie‘ vgl. Gaby Allrath / Marion Gymnich, Feministische Narratologie, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 35–72.

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  92. Vgl. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.364: „Das hysterische Frauenzimmer ist die Probiermamsell der Erfolgs- und der Sozialethik […].“

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  93. Die Reflexion des Müllerschen Manhattan Girls an dieser Stelle potenziert gewissermaßen Weiningers Modell der Hysterie, da Perez, der sich selber ab ‚Hysteria‘ imaginiert, zu diesem Zeitpunkt von der Hysterie der weiblich konnotierten Stadt ‚besessen‘ ist Vgl. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.374: „Die hysterische Konstitution [des Weibes] ist eine lächerliche Mimicry der männlichen Seele, eine Parodie auf die Willensfreiheit, die das Weib vor sich posiert in dem nämlichen Augenblicke, wo es dem männlichen Einfluss [Perez’ Projektion] am stärksten unterliegt“ Zum „‚Männlichkeitskomplex‘ des Weibes“ vgl. Sigmund Freud, Über die weibliche Sexualität (1931), in: Ders., Studienausgabe Bd.5, S.273–292 (279).

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  94. Weininger, Geschlecht und Charakter, S.216f.; vgl. ebd., S.233. So werden die narzisstische Entgrenzungsphantasie (im ‚Ich-als-Welt‘-Gedanken Andrianscher Prägung) und die Existenzgefahrdung des Subjekts (bei Rilke) ebenso ‚verkörpert‘ wie die anonyme Flüchtigkeit (bei Poe und Robert Walser), die als Proprium des ‚Mannes in der Menge‘ gelten kann.

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  95. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Manche freilich (1895), in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. 1: Gedichte — Dramen I, 1891–1898, Frankfurt a.M. 1979, S.26: „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern […]. // Viele Geschicke weben neben dem meinen, / Durcheinander spielt sie alle das Dasein […].“

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  96. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 129f.

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  97. Diese wird im Binnenrahmen der Erzählung auch durch dessen Herkunft (Morgenland, Ägypten) und durch seine mit der Rasse der „Semiten“ konnotierte Physiognomie gestaltet (144); im Zusammenhang des Bandes Rassen, Städte, Physiognomien durch die Position des Textes, der am Ende einer Typenfolge mit den Essays Der Jude, Der Orientale und Der Americano gleichsam als Mixtur der dort beschriebenen Charakteristika erscheint.

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  98. Robert Müller, Der Jude, in: Ders., Rassen, Städte, Physiognomien, S.43–63 (51).

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  99. Ebd.

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  100. Vgl. dazu Susanne Omran, Frauenbewegung und Judenfrage‘. Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900, Frankfurt/New York 2000, S.109: „Der jüdische Arzt Heinrich Singer gelangt angesichts solcher [neurasthenischen] Krankheitsbilder, die ‚bei der jüdischen Rasse eine bedenkliche Höhe erreicht haben‘, zu der soziologischen Schlußfolgerung, daß ‚der Jude (…) in seiner überwiegenden Mehrheit Grossstädter (ist).‘“ Müller nähert sich dagegen jener Konzeption des ‚Muskeljudentums‘, die insbesondere im rassisch orientierten Subdiskurs der zionistischen Bewegung ein zum völkisch-deutschen analoges Wertungsmuster etabliert, und unterläuft zugleich den Rigorismus dieser Position. Vgl. Aron Sandler, Anthropologie und Zionismus. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag, Brünn (Jüdischer Buch- und Kunstverlag) 1904: „Beweist nicht gerade […] die Erscheinung, dass sich trotz der vielfachen Mischung die jüdische Individualität gewahrt hat, die eminente Rassentüchtigkeit des Stammes, die Unverwüstlichkeit der jüdischen Rasse, die sich durch Kreuzung nicht verwischen lässt […]? Wir glauben, dass eine Fortentwickelung der jüdischen Individualität […] auf dem Boden einer allgemeinen Rassenmischung unmöglich ist, dass daher eine Heraushebung des jüdischen Elements aus seinem Milieu und seine Reinzüchtung anzustreben ist.“ (S.5, 21.) Freundlicher Hinweis von Philipp Theisohn.

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  101. Müller, Der Jude, S.51, 56ff.

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  102. Ebd., S.58.

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  103. Vgl. dazu auch Köster, Bilderschrift Großstadt, S.227.

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  104. Vgl. ähnlich Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), in: Ders., Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachwort von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2002, S.67–82 (76): „Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist […] die Übersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommenere, sie kann nichts als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis.“

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  105. Die Rassenfarbenmetaphorik zeigt sich dabei auch als personalisierte Überbietung jener „grauen Tönung“, die schon Simmel — mit Bezug auf die „Farblosigkeit und Indifferenz“ des Geldes — als „Färbung oder vielmehr Entfärbung der Dinge“ beschreibt (Die Großstädte und Geistesleben, S. 121f.).

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  106. Auf den Diskurszusammenhang von negativem race-processing (negativer Typisierung) in Manhattan mit der sogenannten Kompositfotografie, die — als erkennungsdienstliches Verfahren — typisierte Mischportraits aus Einzelbildern generiert, hat Stephan Dietrich hingewiesen. „Krise der nervösen Aufreibung“. Zum imaginierten Großstadtraum im Werk Robert Müllers, in: Ámalia Kerekes / Peter Plener (Hrsg.), Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns, im Druck.

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  107. Denn während jener alte, ideale oder bunte ‚Amerikanismus‘ noch „die individuellen Züge herausmeißelte und befreite“, die „Vertiefung des zugleich germanischen, keltischen und indianischen Profils“ bewirkte und auf diese Weise eine „schärfere und lapidarere Rasse“ schuf, entzieht der neue und „ganz ander[e]“ Amerikanismus „der Physiognomie alles Sinnliche und Individuelle“ (173). Auch Müllers „ideelle[r] Amerikanismus“ (Köster, Bilderschrift Großstadt, S.209) wird auf diese Weise ‚resomatisiert*‘. Vgl. Deniz Gögtürk, Künstler — Cowboys — Ingenieure… Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912–1920, München 1998, zu Müllers Amerikanismus S.205ff.

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  108. Im Unterschied zu Siegfried Kracauer, der zwar im ‚Ornament der Masse‘ ähnlich Müller eine „jedes ausdrücklichen Sinnes bare rationale Leerform“ konstatiert, in dieser allerdings den subversiven Aufschwung einer primitiven, vitalistischen und antizivilisatorischen Natur erkennt S.K, Das Ornament der Masse (1927), in: Ders., Schriften, Bd.5,2: Aufsätze 1927–1931, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M. 1990, S.57–67 (65).

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  109. Im Gegensatz zum Phänomen des Exotismus, das — die zeittypische Rassenproblematik überlagernd — ein ästhetisierendes und normatives Aneignungsverfahren impliziert, bewegt sich Müllers ethnologische Fiktion im Kontext des ‚avantgardistischen Primitivismus‘. Dessen Ziel, das schon Carl Einsteins Negerplastik (1915) exemplarisch diskutiert, besteht darin, das ‚Andere‘ in seiner autochthonen Wirkungskraft zur Darstellung zu bringen. Vgl. auch Einsteins prägnante Kritik: „Exotismus ist oft unproduktive Romantik, geographischer Alexandrism. Hilflos negert der Unoriginelle.“ C.E., Afrikanische Plastik (1921), in: Ders., Werke, Bd. 2: 1919–1928, hrsg. von Marion Schmid unter Mitarbeit von Henriette Beese und Jens Kwasny, Berlin 1981, S.62–144 (62). Zu Müllers Exotismus vgl. Dietrich, Poetik der Paradoxie, S.92ff. Die Aufgabe des ‚Völkisch-Primitiven‘ wiederum besteht darin, Komplexität im nationalen Ursprungsnarrativ (als ‚Mythopoiesis‘) zu reduzieren.

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  110. Die diachrone Konzeption des Primitiven weist auch hier auf die bekannte Bennsche ‚Ich-Geologie‘ voraus. Die (Rassen-)Seele des von Benn favorisierten Phänotyps, der ‚ptolemäischen Persönlichkeit‘, ist das Ergebnis einer Völkermischung, die im auserwählten Augenblick zum mystischen Erlebnis verhilft: „Wir tragen die frühen Völker in unserer Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, in Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren Riten, ihrer prälogischen Geistesart und vergeben eine Stunde der mystischen Partizipation.“ Benn, Der Aufbau der Persönlichkeit, S.99.

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  111. Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S.244: „Der gegenwärtige Kulturzustand Amerikas gäbe eine gute Gelegenheit, diesen befürchteten Kulturschaden zu studieren.“

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  112. Der Bennsche Phänotyp dagegen ist bei gleicher kultureller Mächtigkeit erheblich passiver als Müllers Perez angelegt und — wie schon Rönne im Novellenkreis Gehirne (1916) — hierin eher der Figur des Impressionsflaneurs verwandt. Auch Müllers optimistische Somatik wird von Benn, der sich v.a. an der Produktivität des „BIONEGATTVEN“ orientiert, nicht fortgeführt; vgl. Gottfried Benn, Das Genieproblem (1930), in: Ders., Werke Bd.1, S. 107–122 (120). In jedem Falle treten beide Positionen — Müllers ‚biopositives‘ Mischverfahren und die pathologische Geniesomatik Benns in Gegensatz zum völkischen Programm.

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Erdbeer, R.M. (2004). Spaßige Rassen. In: Kopp, K., Müller-Richter, K. (eds) Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02937-9_11

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