Zusammenfassung
Am 26. Juli 1902 erscheint in der Wiener Zeit Arthur Schnitzlers Erzählung Andreas Thameyers letzter Brief. Der Abschiedsbrief der Titelfigur vor dem Suizid ist erkennbar bemüht, seinen Lesern einsichtig zu machen, dass der Verfasser freiwillig den Tod wählt, um die Ehre seiner Frau zu retten und die Spötter in seiner Umgebung zum Schweigen zu bringen. Um diese eigentümliche Begründung verständlich zu machen, listet der Brief an seinem Beginn nicht weniger als sechs verbürgte und von Autoritäten der Geistesgeschichte überlieferte Exempla zum Phänomen des so genannten ‚Versehens‘ bei Schwangeren auf; gemeint ist die Vorstellung, dass extreme Erlebnisse bei schwangeren Frauen — etwa das Erschrecken über einen Totenkopf — Einfluss auf die physiognomische Gestalt des Kindes nehmen können: so z.B., dass die Form seines Gesichts an einen Totenkopf erinnert. Mit diesem beachtlichen rhetorischen Aufwand versucht Thameyer zu belegen, dass seine Frau ihm stets treu war. Doch der Versuch läuft ins Leere, denn je angestrengter Thameyer argumentiert, desto deutlicher wird, dass er sich tatsächlich aufgrund der Untreue seiner Frau zu entleiben gedenkt. Sein Problem lautet wie folgt:
Mein Testament ist längst gemacht, ich habe keinen Grund, es abzuändern, denn meine Frau ist mir treu gewesen, und das Kind, das sie mir geboren hat, ist mein Kind. Und daß es eine so eigentümliche Hautfarbe hat, werde ich nunmehr auf die einfachste Weise erklären.1
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Notizen
Arthur Schnitzler, Andreas Thameyers letzter Brief [1902], in: Jahrhundertchronik. Deutsche Erzählungen des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Walter Hinck, Stuttgart 2000, S.15–22 (18).
Schnitzler, Andreas Thameyers letzter Brief, S.19–21.
Vgl. Alexander Honold, Peter Altenbergs „Ashantee“. Eine impressionistische crossover Phantasie im Kontext der exotistischen Völkerschauen, in: Thomas Eicher (Hrsg.), Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang, Oberhausen 2001, S.135–156 (142).
Vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag von Werner Schwarz in diesem Band.
Vgl. dazu u.a. Stephan Dietrich, Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa, Siegen 1997, S.97–100.
Auf die Problematik der Begriffsbildung kann hier nicht eingegangen werden; vgl. z.B. Günter Heintz, Nachwort: Literarischer Impressionismus, in: Detlev von Liliencron, Gedichte, hrsg. v. Günter Heintz, Stuttgart 1987, S. 135–157.
Klaus R. Scherpe, Die Poetik der Beschreibung in ethnographischen Texten, in: Ders., Stadt. Krieg. Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen, Tübingen / Basel 2002, S.239–272 (263).
Die Angaben zu Ort und Zeitraum der Ausstellung variieren in der Literatur. Ich folge der gut informierten Studie von Werner Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1914, Wien / Köln / Weimar 1999, S.351ff.; vgl. auch Peter Plener, Waltzing Mnemosyne. Zur Konstruktion von Erinnerung in der k.u.k. Monarchie, in: Wolfgang Müller-Funk / Peter Plener / Clemens Ruthner (Hrsg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen / Basel 2002, S.81–92 (86ff.).
Vgl. z.B. die deutlichen Worte von Richard Beer-Hofmann, zitiert bei Michler, Darwinismus und Literatur, S.364.
Alexander Honold, Kakanien kolonial. Auf der Suche nach Welt-Österreich, in: Müller-Funk, Kakanien revisited, S. 104–120 (117).
Vgl. zu dieser Diskurs-Kopplung den Überblick bei Thomas Schwarz, „Die Tropen bin ich!“ Der exotistische Diskurs der Jahrhundertwende, in: Nana Badenberg u.a. (Hrsg.), Tropische Tropen — Exotismus, Essen 1995 (= Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 32/33), S. 11–21.
Peter Altenberg, Ashantee, Berlin 1897, S.53.
Honold, Kakanien kolonial, S.117.
Honold, Kakanien kolonial, S.117.
Altenberg, Ashantee, S.3.
Altenberg, Ashantee, S.8.
Altenberg, Ashantee, S.9.
Altenberg, Ashantee, S.39.
Altenberg, Ashantee, S.18f.
Altenberg, Ashantee, S.19.
Altenberg, Ashantee, S.50.
Vgl. Honold, Peter Altenbergs „Ashantee“, S.149.
Altenberg, Ashantee, S.14, 34.
Altenberg, Ashantee, S.14f., 58f.
Altenberg, Ashantee, S.57.
Robert Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915, hrsg. v. Günter Helmes, Paderborn 1990, S.58f.
Vgl. dazu die Interpretation in Dietrich, Poetik der Paradoxie.
Müller, Tropen, S.63.
Müller, Tropen, S.71.
Vgl. z.B. Müller, Tropen, S.94f.
Vgl. zum Verhältnis von Kunsttheorie und Dichtung im zeitgenössischen Kontext Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994, S.39–59.
Müller, Tropen, S.56.
Müller, Tropen, S.200.
Müller, Tropen, S.83.
Müller, Tropen, S.84.
Müller, Tropen, S.85.
Vgl. Thomas Köster, Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers, Paderborn 1995, S.142.
Müller, Tropen, S.42f.
Müller, Tropen, S.109.
Müller, Tropen, S.116.
Müller, Tropen, S.201.
Vgl. zu dieser Überblendung narrativer Räume auch die Ausführungen zur Figur des urban explorer von Klaus Müller-Richter in diesem Band.
Müller, Tropen, S.69f.
Vgl. Köster, Bilderschrift Großstadt, S.160.
Dies ist nicht zu verwechseln mit der Beobachtung, dass bestimmte Primitivismen, wie etwa die Völkerschau, immer schon populäre Massenphänomene waren. Hier und im Folgenden geht es in erster Linie darum, wie sich die Vertreter der vermeintlichen Hochkultur zu diesen Phänomenen verhalten.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa. Roman [1926], Berlin 1987, S.77.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.121.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.122.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.30.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.31.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.21.
Vgl. zu diesem Aspekt der Zitathaftigkeit des Primitiven mit Bezug auf die Bildende Kunst Hans-Jürgen Heinrichs, Fenster zur Welt. Positionen der Moderne, Frankfurt a.M. 1989, S.188.
Vgl. z.B. Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.17, 26, 30 et pass.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.24.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.19.
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.14
Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.44f.
Rita Mielke, Nachwort, in: Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa, S.147–152 (151).
Simo, Die gefährliche Faszination der Wildnis. Zu Claire Golls Roman Der Neger Jupiter raubt Europa, in: Acta Germanica 25 (1997), S.207–218 (217).
Struck, Allegorische Musealisierung, S.267.
Wenn der Begriff hier synonym mit jenem des Wilden verwendet wird, so spiegelt dies die Verwendungsweisen des zeitgenössischen Diskurses. Freilich mag es unter bestimmten Erkenntnisinteressen sinnvoll sein, trennschärfere Differenzierungen einzuführen, also etwa zwischen Wildem, Primitivem und Barbarischem zu unterscheiden oder zwischen der Situierung des Primitiven auf einer räumlichen (z.B. Exotik) und einer zeitlichen Achse (z.B. Urzustand der Menschheit). Das Grundbedürfnis zivilisierter Kulturen, das die Faszination des Primitiven ausmacht, dürfte hingegen kaum variieren.
Entnommen aus Badenberg u.a. (Hrsg.), Tropische Tropen — Exotismus, S.132.
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Dietrich, S. (2004). Der Wilde und die Großstadt. In: Kopp, K., Müller-Richter, K. (eds) Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02937-9_10
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