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Zensur — Klassenkampf — Säuberung — Beugung — Strafverfolgung. Aleksandr Mosolov und Nikolaj Roslavec im repressiven Netzwerk der sowjetischen Musikpolitik

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Zusammenfassung

Seit den biographischen Untersuchungen von Inna Barsova1 und Marina Lobanova2 ist bekannt, daß Aleksandr Mosolov und Nikolaj Roslavec Opfer von kulturpolitischen Repressionen in der Sowjetunion wurden und zu den verfemten Komponisten des 20. Jahrhunderts zu zählen sind. Ihre Namen stehen paradigmatisch für die „Tragödie der russischen Musikavantgarde“. Anhand der mit diesen Komponisten verbundenen Vorfalle scheint sich — in Zusammenschau mit den inzwischen gut dokumentierten Attacken gegen Dmitrij Šostakovič und den antiformalistischen Kampagnen der Jahre 1936 und 1948 — die Amplitude der Gewaltbereitschaft sowjetischer Musikpolitik ermessen zu lassen.

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Notizen

  1. Nina Meško (Hrsg.), A. V. Mosolov. Stat’i i vospominanija, Moskau 1986.

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  2. Irma Barsova (Hrsg.), „Iz ne- opublikovannogo archiva A.V. Mosolova“ (Aus dem unveröffentlichten Archiv A.V. Mosolovs), in: Sovetskaja Muzyka 1989, Nr. 7, S, 80–92;

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  3. Marina Lobanova, Nikolaj Andreevič Roslavec und die Kultur seiner Zeit, Frankfort/Main u.a. 1997;

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  4. dies., „Die Tragödie der russischen Musikavantgarde“, in: Russische Avant- garde. Musikavantgarde im Osten Europas. Internationale Musik-Festivals Heidelberg 1991 und 1992. Dokumentation — Kongreßbericht, hrsg. von Roswitha Sperber und Det- lef Gojowy, Heidelberg 1992, S. 183–193.

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  5. Richtungweisend sind hier jüngere Arbeiten, die demonstrieren, wie ergiebig eine an der modernen Geschichtswissenschaft orientierte Quellenexegese für die Interpretation mu- sikhistorischer Vorgänge sein kann: Leonid Maksimenkov, Sumbur vmesto muzyki. Stalinskaja kul’turnaja revoljucija 1936–1938 (Wirrwarr statt Musik, Stalins Kulturrevoluti- on 1936–1938), Moskau 1997;

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  6. und Friedrich Geiger, Musik in zwei Diktaturen. Verfol- gung von Komponisten unter Hitler und Stalin; Kassel etc. 2004, vgl. auch Geigers Arti- kel in diesem Band.

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  7. Vgl. stellvertretend für andere; Boris Schwarz, Musik und Musikleben in der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart, Teil I, Wilhelmshaven 1982 (Taschenbücher zur Musik- wissenschaft 67)“ S. 100–104.

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  8. Schlüsseltexte sind in dem Band Sheila Fitzpatrick, The Cultural Front, Power and Culture in Revolutionary Russia, Itaca, London 1992, zusammengestellt (bes. Kap. 5: „The Soft Line on Culture and Its Enemies“ und Kap. 6: „Cultural Revolution as Class War”). Grundlegend ist ferner die Studie „The Emergence of Glaviskusstvo. Class War on the Cultural Front, Moscow, 1928–29“, in: Soviet Studies 23 (1971/72), Nr. 2, S. 236–253.

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  9. Zwischen 1928 und 1931 wurden nach offiziellen Angaben 138.000 Beamte aus dem öffentlichen Dienst entfernt (vgl. Nicolas Werth, „Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Un- terdrückung und Terror in der Sowjetunion“, in: Stéphane Courtois et al., Das Schwarz- buch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München u. a. 1998, S. 191).

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  10. Der Philosoph Aleksej Losev wurde 1930 als Mitglied eines „kirchlich-politischen Zent- rums“ zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Kampagne gegen ihn kam ins Rollen, nachdem er seine Schrift Dialektika mifa (Die Dialektik des Mythos) ohne die Streichun- gen des Zensors im Selbstverlag drucken ließ. Die Strafe wurde 1933 aufgehoben (vgl. die Einführung Alexander Haardts zu Aleksej Losev, Die Dialektik des Mythos, übers. von Elke Kirsten, Hamburg 1994, S. XIIIf.). Der Literaturkritiker Aleksandr Voronskij, der die Mitläufer-Zeitschrift Krasnaja nov‘ (Rotes Neuland) redigierte und gute Kontakte zu Trockij unterhielt, wurde als Links-Oppositioneller 1928 aus der Partei ausgeschlossen und in den Ural verbannt. Nachdem er 1930 ein Reuebekenntnis abgelegt hatte, konnte er nach Moskau zurückkehren und im Staatsverlag als Redakteur für klassische Literatur ar- beiten.

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  11. Andrej Krjukov (Hrsg.), Materialy k biografa B. Ásafeva (Materialien zur Biographie B. Asaf evs), Leningrad 1981, S. 187.

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  12. An der Zwangskollektivierung, insbesondere an der von Stalin geforderten „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“, war die OGPU maßgeblich beteiligt. Nach jüngsten Unter- suchungen wurden seinerzeit ca. 2,1 Millionen sog. „Kulaken“ in ferne Gebiete deportiert und weitere 2–2,5 Millionen innerhalb ihrer Heimatregion zwangsumgesiedelt, wovon mehrere Hunderttausend umkamen. Für die Hungersnot der darauffolgenden Jahre, die als Folge der Zwangskollektivierung gesehen wird, wird die Zahl der Todesopfer auf 4 bis 10 Millionen geschätzt (vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917- 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 398–401).

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  13. Bezeichnend ist folgende Aussage des RAPM-Führers Lev Lebedinskij aus dem Jahr 1931: „Dort in Leningrad gibt Ščerbačëv mit seiner Schule ab und zu ein paar Lebenszei- chen von sich, — eine Erscheinung, die offenbar nicht sonderlich interessant ist, aber — wie ich offen zugeben muß — von uns noch kaum untersucht worden ist“ (Lev Lebe- dinskij, 8 let bor’by za proletarskuju muzyku [8 Jahre Kampf für die proletarische Mu- sik], Moskau 1931, S. 104).

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  14. Der Staatsverlag konnte bis 1926/27 die Zensur über alle seine Druckerzeugnisse selbst ausführen. Da die Flut der eingesandten Manuskripte bald nicht mehr zu bewältigen war, wurde 1920 eine eigene Politabteilung (politotdel) eingerichtet, die bis 1930 existierte. Die dort beschäftigten „Politischen Redakteure“ (politredaktory) hatten die Vollmachten eines Zensors (vgl. Arien Bljum, Zensur in der UdSSR, Teil 1: Hinter den Kulissen des „Wahrheitsministeriums“ 1917–1929, Bochum 1999, S, 57 und 96). Roslavec wurde 1924 zum Vorsitzenden der Politabteilung des Musiksektors des Staatsverlags ernannt (vgl. Lobanova 1997, wie Anm. 2, S. 61). Nach Lev Lebedinskij wurde diese Abteilung nach einem Streit mit den proletarischen Musikern sehon 1924 wieder aufgelöst (vgl. da- zu Anm. 45). Lebedinskij bezeichnet Roslavec in diesem Zusammenhang als „unseren Zensor und Vorgesetzten“ (Lebedinskij 1931, wie Anm. 36, S. 19). Nach Roslavec’ An- gaben bestand seine Aufgabe als Politischer Redakteur nicht nur in der Zensur, sondern auch in der Gründung einer Zeitschrift und einer Organisation, die die kooperationswillige Musikintelligencija versammeln sollte (vgl. Lobanova 1997, wie Anm. 2, S. 61). Dies entspricht ganz dem — historisch gesehenen neuartigen — Selbstverständnis der sowjeti- schen Zensur: sie sollte nicht nur verbieten, sondern vor allem auch beraten und erziehen (vgl. Bljum 1999, Teil 1 [wie oben], S. 95). Dies hatte zur Folge, daß es keine „feste, Demarkationslinie’ zwischen den eigentlichen Zensurdokumenten und den literaturkritisehen Pressebeiträgen (d. h. Verrissen)“ gab (ebenda, S. 249).

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  15. Der aus Lettland stammende Robert Andreevič Pel’še (1880–1955) war seit 1898 Mit- glied und Aktivist der späteren KP. 1924 wurde er Leiter der Kunstabteilung des Glavpolitprosvet, der wichtigsten sowjetischen Kunstbehörde bis zur Gründung des Glavikusstvo im April 1928. Wie aus Mende, „Dokumente“, Nr. 1 (in diesem Band) hervor- geht, war er Ende der 1920er-Jahre außerdem einer der Vorsitzenden des Glavrepertkom. Pel’še war unter den Kulturfunktionären der 1920er-Jahre offenbar einer der wichtigen Fürsprecher der modernen Musik, insbesondere der sog. Produktionsmusik. Auf einer vom Glavpolitprosvet veranstalteten Konferenz zu „Fragen der politisch-aufklärerischen Musikarbeit“ im März 1926 bezeichnete Pel’še „die Musik der Arbeitsprozesse, die Rhythmen des Arbeitsschlags und Lieder, die mit der Arbeit, mit Bewegung zusammen- hängen“ als das „beste Material der neuen Musikkultur“, warnte aber vor einem „vulgari- sierten, Urbanismus‘“, der in einer Harmonisierung des „Lärms der Straßenbahn, Fabrik- sirenen, Autohupen, Schreie und Geräusche der Großstadt“ bestehe (vgl. Semen Korev, Muzyka i politprosvetrabota, o. O. 1926, S. 20f.). Mosolov weist in seinem Brief an Sta- lin darauf hin, daß Pel’še 1927 auf einer anderen Glavpolitprosvet-Versammlung sein Maschinenstück Zavod nicht nur als „sowjetische“, sondern sogar als „proletarische“ Mu- sik bezeichnet habe (vgl. in diesem Band: Barsova, „Dokumente“, Nr. 1).

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  16. Vgl. den Bericht „Vserossijskaja muzykal’naja konferencija“ (Die Gesamtrussische Mu- sikkonferenz), in: Proletarskij muzykant 1929, Nr. 4, S. 12. Alle folgenden Zitate und Pa- raphrasen nach der Veröffentlichung des Resolutionstextes in Proletarskij muzykant 1929, Nr. 4, S. 31–33.

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  17. Lunačarskij verkündete, daß die Rhythmen des Foxtrott „unmenschlich“ seien und den „Willen zu Hackfleisch“ machten. Der Tango drückte für ihn den Zustand der „Impo- tenz“ oder der „äußersten Ermattung nach dem Liebesakt“ aus (Anatolij Lunačarskij, „Social’nye istoki muyzkal’nogo iskusstva“ [Die sozialen Quellen der Musikkunst], in: Proletarskij muzykant 1929, Nr. 4, S. 12–20;

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  18. deutsch in: Anatoli Lunatseharski, Die Revolution und die Kunst, Essays, Reden, Notizen, hrsg. von Franz Leschnitzer, Berlin 1962, S. 54–67).

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  19. „Novyj ustav Associacii Sovremennoj muzyki“ (Das neue Statut der Assoziation fior Zeitgenössische Musik), in: Sovremennaja muzyka 32, 1929, S. 6; zit. nach der dt. Über- setzung in: Detlef Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Laaber 1980, S. 346. Aus dem Dokument ist weiterhin zu erfahren, daß die ASM die Genehmigung des NKVD einholen mußte, wenn sie Sitzungen und Konferenzen einberufen wollte (ebenda, S. 347).

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  20. Vgl. Neil Edmunds, The Soviet Proletarian Music Movement, Oxford u.a. 2000, S, 289–301. Im Gegensatz zu den Akteuren der RAPP wurden die der RAPM während der gro- ßen Säuberungen ab 1937 nicht verfolgt. Eine Ausnahme bildet der Bulgare Dmitrij Ga- cev. Seine Verfolgung stand aber offenbar im Zusammenhang mit seinen Kontakten zur bulgarischen KP (ebenda, S. 299).

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  21. Darüber berichtete die Pravda am 17. Februar 1936, S. 3 (vgl. Fitzpatrick 1992, wie Anm. 9, S. 207) und die Sovetskaja muzyka in ihrer Märznummer des Jahres (vgl Nicolas Slonimsky, Music since 1900, New York 51994, S. 392). Vgl auch die Erwähnung des Vorfalls in dem Revisionsgesueh von Gliėr und Mjaskovskij (siehe in diesem Band: Bar- sova, „Dokumente“, Nr. 2).

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  22. Brat’ja Tur [Leonid Tubel’skij und Pëtr Ryzej], „Otklonenija genija“ (Abweichungen eines Genies), in: Izvestija vom 18. September 1937, S. 4;

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  23. (vgl. Wolf- gang Kasack, Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 21992, Sp. 1329–1331).

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Mende, W. (2004). Zensur — Klassenkampf — Säuberung — Beugung — Strafverfolgung. Aleksandr Mosolov und Nikolaj Roslavec im repressiven Netzwerk der sowjetischen Musikpolitik. In: Geiger, F., John, E. (eds) Musik zwischen Emigration und Stalinismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02920-1_5

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