Zusammenfassung
Wenn sich alle Energie der Verallgemeinerung, der Vernunft durch die Desintegrationsdrohung, die vom Transzendentalsubjekt ausging, verflüchtigt hat und nur noch Autonomie übriggeblieben ist, zeigt sich das Gräßliche als die brüchige Rückseite des Klassizismus. Kleist läßt den Unbedingtheitsanspruch des Subjekts sich in dem transzendentalphilosophisch abgesteckten Gebiet einer traditionell ›bedingten‹ Subjektivität zerstörerisch reproduzieren; Unbedingtes und Bedingtes stehen einander nicht länger als zwei verschiedene Welten gegenüber, nachdem die arbeitsteilige Trennung, die Kant als Lösung vorschwebte, zerbrochen ist. Dies genau erscheint als das Gräßliche. Das Gräßliche hat hier zwei Seiten: zum einen, daß die Lösung zerbrochen ist, das ist sozusagen nach der Urteilskategorie gräßlich; zum anderen ist das Zerbrechen selbst der Produzent von im Wortsinn gräßlichen Lösungen bis hin zum Kannibalismus.
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Notizen
Alle Zitate aus Kleists ›Penthesilea‹ nach DKV II, 143–256 mit Versangabe in Klammern.
Die Kunst der symbolischen Gleichsetzungen par excellence ist der Surrealismus, und er ist es darum, weil er seinen Anspruch, selbst kultische Dichtung zu sein, auf das Fehlen verbindlicher Kulte gründet. Künstler wie Aragon und Breton lebten und praktizierten ein kultisches Leben und kultisches Dichten. Sie traten damit Realkultnachfolge an: nun ist nicht mehr die Sphäre bestimmt und die Gleichsetzung fokussiert, die einen neuen Kult als diesen begründet, also etwa: mein Blut der Wein, mein Leib das Brot, sondern nun ist alles Blut und Wein geworden. Nachträglich entdeckt man so, daß ein Großteil des Widerstandspotentials der Kunst in der Kunst während der Hochzeit der christlichen Geschichte eben dies war, daß sie sich selbst zur Herrin über die symbolischen Gleichsetzungen gemacht hat. Das ist das Moment, das stets die Ketzerprozesse gegen die Kunst in Gang gebracht hat. Dadurch, daß die Künste heute davon leben, daß die symbolische Gleichsetzung freigegeben ist, sieht man, daß sie vorher auch schon davon gelebt haben und daß das, religiös gesprochen, ihr ketzerisches Potential gewesen ist.
Immer natürlich schon im Prozeß ihrer Entleerung, siehe das Hostienwunder von Bolsena etc. Seit 1215, der Zeit, wo die römisch-katholische Kirche sich im Unterschied zur Ostkirche durch die Transsubstantiationskanonisierung als absolute Institution besiegelte, wird die Symbolisierung angegriffen, durch Reifikationen ersetzt oder pervertiert.
Peter Dettmering, Heinrich von Kleist, Zur Psychodynamik in seiner Dichtung, München 1975.
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Neubaur, C. (2003). Penthesilea und die Kategorie des Grässlichen. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2003. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02897-6_13
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