Zusammenfassung
Nach einer Definition des Begriffs „Tabu“ und seines Korrelats „Tabubruch“ wird man in Lexika und Handbüchern zur Soziologie, wohin der Begriff schließlich auch gehört, eher vergeblich und selbst in Wörterbüchern zur Religion und Ethnologie mit zumeist nur unbefriedigenden Resultaten fahnden. Der bereits im Ursprung nicht eben präzise Begriff hat bei seinem Eintreten in die europäischen Umgangssprachen in dem Maße, in dem er an semantischem Umfang zugewonnen hat, an terminologischer Schärfe verloren. Immerhin scheint bei aller Bedeutungsvielfalt doch konsensfähig, daß sich die beiden Termini von benachbarten Begriffspaaren wie „Gebot“ und „Sünde“ durch ihre Verwendung auch in vergleichsweise profanen Sinnwelten unterscheiden. Andererseits aber heben sie sich von den dort nächstliegenden Begriffen der „Norm“ und des „Normverstoßes“ durch ihre geringeren politischen oder juristischen Konnotationen ab — der Begriff „Tabu“ beinhaltet hier ein Surplus des Leiblichen und Elementaren, das den profanen Kontext der res publica überschreitet. Im kultischen Bereich entspricht dieser Dimension des Körperlichen die Aufladung des religiösen Geheimnisses mit einer Aura des Sexuellen. Die Erotisierung des Numinosen erhebt die Übertretung über das bloß Ketzerische hinaus in den Rang einer Blasphemie.
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Notizen
Zit. nach Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 422.
Zit. nach Jürgen Becker, Wolf Vostell: Happenings. Fluxis, Pop Art, Nouveau Realisme. Eine Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 190.
Wolf Vostell: Aktionen. Happenings und Demonstrationen seit 1965. Reinbek bei Hamburg 1970.
Vgl. Gorsen, Sexualästhetik & (Anm. 1), S. 423.
Zit. nach Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 424.
Ebd., S. 424.
Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung. Frankfurt a.M. 1969, S. 54, zit. nach Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1). S. 424.
Zit. nach Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 425.
Zur Bedeutung Artauds hat sich Nitsch explizit geäußert. „Ich sah in artauds schriften die prophetie meines theaters und sehe darin einen auftrag, mein projekt tatsächlich zu verwirklichen. die Übereinstimmung mit dem Werk von Artaud, die sich bis 1970 ohne kenntnis seiner Schriften ergab, überzeugt mich von der archetypischen not-wendigkeit meiner bemühungen um ein neues Theater.“ Hermann Nitsch: zur theorie des o.m. theaters. In: Hermann Nitsch: O.M.Theater. Lesebuch. Wien o.J., S. 17–210, hier S. 162.
Vgl. Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 428.
Oswald Wiener: das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe. In: Die Wiener Gruppe, Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Hg. von Gerhard Rühm, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 401–418, hier S. 408.
Vgl. Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 430.
In einer zeitgenössischen Reaktion auf die Kunstskandale von Nitsch und Muehl hat P. Willehad Paul Eckert die Materialaktionen Muehls in den Kontext des Satanismus gerückt. Vgl. W.W.P. Eckert: Zu den Materialaktionen von Otto Muehl und Hermann Nitsch. In: Das Böse. Dokumente und Interpretationen, hg. von Gerhard Zacharias. München 1972, S. 41–44.
Otto Muehl: Mama & Papa. Materialaktionen 63–69. Frankfurt a.M. 1969, S. 11. Die Erwähnung des Klaviers in diesem Zusammenhang bezieht sich auf die im neodadaistischen Happening der Fluxus Gruppe nahezu unvermeidliche Zertrümmerung oder auch fachgerechte Zerlegung eines Klaviers, des Symbols schlechthin für eine tote, museale Kultur.
Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 450.
Ausführlicher dazu Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte — Körperbilder — Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 265–279.
Vgl. ebd., S. 8.
Vgl. Jürgen Schilling: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Luzern, Frankfurt a.M. 1978, S. 160f.
Otto Muehl, Mama & Papa … (Anm. 14), S. 11.
Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 461.
Ebd.
1976 hat der Amerikaner Allan Shackleton einen Film Mit dem Titel Big Snuff gedreht. Eine Trickaufnahme des Films täuschte eine Enthauptung — ohne Schnitt — so lebensecht vor, daß sich die urban legend von Pornofilmen entwickeln konnte, in denen echte Lustmorde ausgeführt werden, die man in Erinnerung an Shackletons Film Snuffs nennt.
Gerhard Jaschke hat auf die Bedeutung einer archaischen Theaterpraxis im OMT hingewiesen: „das theater als Schauplatz einer radikalen katharsis, wie es noch die griechische tragödie kannte, erfährt in nitschs arbeit eine neubelebung und weiterführung.“ G. Jaschke: geborgenheit in einem möglichen ganzen, das leben ein fest, das orgien mysterien theater von hermann nitsch. In: O.M.Theater. Lesebuch … (Anm. 9), S. 8–16, hier: S. 12.
Ekkehard Stärk hat an die Vorbildhaftigkeit der Antikerezeption der Wiener Jahrhundertwende erinnert, deren Protagonisten, vor allem Hofmannsthal und Bahr, dem gepflegten Ideal hellenischer Klassik den Diskurs einer hysterisierten Archaik entgegengesetzt haben. Vgl. dazu E. Stärk: Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und die ‚Hysterie der Griechen‘. Quellen und Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900. München 1987.
Nitschs eigene Reflexionen kommen immer wieder auf Grundgedanken der Psychoanalyse, vor allem auf Freuds Totem und Tabu, zurück. Stärk verweist auf die vielen Freud-Zitate in Nitschs Aktionspartitur „KÖNIG ÖDIPUS. Eine spielbare theorie des dramas“, Neapel o.J.; vgl. Stärk, Hermann Nitschs Orgien Mysterien … (Anm. 24), S. 54.
Jürgen Schilling: Hermann Nitsch. Auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1990, S. 6.
Seine Kombattanten Gunter Brus und Oswald Wiener haben nach entsprechenden Erfahrungen das Land verlassen, in Berlin eine Exilregierung gegründet und als deren Zentralorgan die Schastrommel herausgebracht, in der wichtige Manifeste der Aktionisten erstveröffentlicht wurden.
Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 457.
Nitsch, zit. nach Jaschke, geborgenheit … (Anm. 22), S. 8.
Vgl. Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 456.
Vgl. Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt a.M. 1988; Gerhard Jaschke, geborgenheit … (Anm. 23), S. 12, verweist darauf, daß Nitsch den Schrei schon lange vor den amerikanischen Psychotherapieinnovationen (z.B. von Arthur Janov) eingesetzt hat; zu Nitschs Bewertung des Schreis im Kontext seiner Ästhetik vgl. Nitsch, zur theorie … (Anm. 9), S. 135.
Vgl. Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 462.
Schilling, Auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk … (26), S. 6.
Zu Nitschs komplexen Notationen vgl. Nitsch, zur theorie … (Anm. 9). S. 140.
Mit dieser Regieanweisung endet die Partitur für das dreitägige Fest des OMT in Prinzendorf 1984.
Nitsch, zur theorie … (Anm. 9), S. 64.
Ebd., S. 65.
H. Nitsch: die wortdichtung des orgien mysterien theaters, 1982, zit, nach Stärk, Hermann Nitschs Orgien Mysterien … (Anm. 24), S. 41.
Ebd., S. 151.
Vgl. Jh 6, 51–53; Mt 26, 26–28.
Nitsch, zur theorie … (Anm. 9), S. 61f.
Nitsch, zur theorie … (Anm. 9), S. 151.
Vgl. dazu Gorsen, Sexualästhetik … (Anm. 1), S. 467ff.
Peter Gorsen: Sexualästhetik. Zur bürgerlichen Rezeption von Obszönität und Pornographie. Reinbek bei Hamburg 1972. In dieser frühen Fassung seiner späteren Studie (Anm. 1) gibt Gorsen im fotomechanischen Nachdruck einige dieser Brandbriefe und Anzeigen wieder; vgl. S. 177–179. Abbildungsnachweis: Abb. 1,2,3,4: Künstler. Kritisches Lexikon zur Gegenwartskunst. WB Verlag: München; Abb. 5: Kunstforum 132 (1995).
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Brittnacher, H.R. (2002). Von der Vergänglichkeit der Tabus. Über Happenings, den Wiener Aktionismus und das Orgien Mysterien Theater. In: Eggert, H., Golec, J. (eds) Tabu und Tabubruch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02873-0_11
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