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Einleitung: Lucien Febvre und die Folgen

Zu einer Geschichte der Gefühle und ihrer Erforschung

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Book cover Querelles: Jahrbuch für Frauenforschung 2002

Zusammenfassung

Gefühle haben im beginnenden 21. Jahrhundert Hochkonjunktur, wie beliebig herausgegriffenen Romantiteln, Werbetexten, Schwerpunkten von Zeitschriften sowie der populären Ratgeberliteratur unschwer zu entnehmen ist.1 Nach Ansicht des Soziologen Heinz-Günter Vester ist es gerade diese Popularität, die den Ubergang vom 20. zum 21. Jahrhundert als »postemotionales« Zeitalter erscheinen läßt. Postemotional, weil intensiver als je zuvor — so scheint es zuweilen — die »McDonaldisierung« der (populären) Kultur ›wahre‹ Gefühle in Frage stelle, weil ihre Authentizität proportional zu ihrer aufdringlichen Präsenz insbesondere in den Medien abzunehmen scheine und es keinen einheitlichen und verläßlichen Interpretationskontext für Emotionen mehr gebe.2 Impliziert das Präfix ›post‹ historischen Wandel, so ist im Hinblick auf das Verhältnis von Geschlecht und Gefühl allerdings weniger eine postmoderne Veränderung zu verzeichnen als vielmehr Kontinuität in der Rede über Gefühle und in der Darstellung von Gefühlen. So belegt eine von den Stiftern des bedeutenden Orange Prize for Women’s Fiction in Auftrag gegebene Studie eine frappierende Konstante: die vermeintliche Affinität von Weiblichkeit und Gefühl. Daraus ergibt sich im Hinblick auf männliche Leser, daß diese nur dann Romane von Frauen zur Kenntnis nehmen, wenn die Titel keine emotionalen, mit ›Frauenliteratur‹ assoziierten ›Reizwörter‹ enthalten.3

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Anmerkungen

  1. So z. B. Jeannette Winterson, The Passion (1987)

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  2. Kate Atkinson, Emotionally Weird (2000).

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  6. Zum folgenden siehe vor allem Jöckel, Sabine: Nouvelle histoire und Literaturwissenschaft. Rheinfelden 1985; hier v. a. Bd. 1, S. 83–107: »Das psychologische Element in der nouvelle histoire«.

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  24. Solche ›Alteritäten‹ finden sich zum Beispiel bei Duby, Georges: Mâle Moyen Âge. De l’amour et autres essais. Paris 1988. ›Liebe‹ besteht im Mittelalter demnach in brutaler Sexualität, die ›höfische Liebe‹ habe nur der Sicherungen der Lebensbedingungen gedient und so fort. Dubys Primitivierung des Mittelalters ist eine Konsequenz des Mangels an Reflexion über das, was für ihn ›Modernität‹ bedeutet.

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  34. Gaukroger, Stephen (Hg.): The Soft Underbelly of Reason: The Passions in the Seventeenth Century. London u. a. 1998 (Routledge Studies in Seventeenth-century Philosophy; Bd. 1).

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  35. Aus systemtheoretischer Sicht vgl. auch Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982.

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  42. Vgl. Gillis, John R.: From Ritual to Romance. Toward an Alternative History of Love. In: Stearns/Stearns (Hg.) 1988, S. 87–121

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  43. Cancian, Francesca M.: The Feminization of Love. In: Signs, Sommer 1986, Heft 2, S. 692–709 zur Rolle des romantischen Liebesideals, das den Emotionsbegriff des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlicher Hinsicht und im Alltag nachhaltig geprägt hat.

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  44. Bereits Gillis 1998 und Stearns, Carol: ›Lord Help Me Walk Humbly‹: Anger and Sadness in England and America, 1570–1750, in: Stearns / Stearns (Hg.) 1988, S. 39–68, haben überzeugend für eine differenziertere Sicht der Frühen Neuzeit argumentiert. Allerdings scheint unter den Emotionshistorikern Peter Stearns mit seinen Schwerpunkten im 19. und 20. Jahrhundert allein durch die Zahl seiner Publikationen einflußreicher zu sein, als Carol Stearns’ Arbeiten zur Frühen Neuzeit es zumindest bisher waren. Vgl. jedoch den Rezensionsteil im vorliegenden Band.

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  46. Vgl. dazu Kroll, Renate: Grand siècle und feministische Literaturwissenschaft. In: Kroll, Renate/Zimmermann, Margarete (Hg.): Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen — Forschungsstand — Neuinterpretationen. Stuttgart, Weimar 1995, S. 86–100; hier v. a. S. 91 f.

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  49. Vgl. dazu Zimmermann, Margarete: Gender, Gedächtnis und literarische Kultur: Zum Projekt einer Autorinnen-Literaturgeschichte bis 1750. In: Kroll, Renate/Zimmermann, Margarete (Hg.): Gender Studies in den Romanischen Literaturen: Revisionen, Subversionen. Frankfurt a. M. 1999

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  50. Böhm, Roswitha: Unter Ausschluß der Weiblichkeit. Strategien französischer Literaturgeschichtsschreibung. In: Kroll/Zimmermann (Hg.) 1999, S. 315–336.

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  52. Siehe hierzu: Altmann, Barbara: L’art de l’autoportrait littéraire dans les Cent Balades de Christine de Pizan. In: Liliane Dulac/Bernard Ribémont (Hg.): Une femme de lettres au Moyen Âge. Études autour de Christine de Pizan. Orléans 1999 (Medievalia; Bd. 16: Études christiniennes), S. 327–337

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  53. vgl. Zimmermann, Margarete: Les Cent Balades d’Amant et de Dame. Une réécriture de L’Elegia di Madonna Fiammetta de Boccace? In: Liliane Dulac/Bernard Ribémont (Hg.): Femme de Lettres. Orléans 1995, S. 337–346.

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  54. Erste Ansätze dazu in Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.

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Kasten, I., Stedman, G., Zimmermann, M. (2002). Einleitung: Lucien Febvre und die Folgen. In: Kasten, I., Stedman, G., Zimmermann, M. (eds) Querelles: Jahrbuch für Frauenforschung 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02869-3_1

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