Zusammenfassung
Gefühle haben im beginnenden 21. Jahrhundert Hochkonjunktur, wie beliebig herausgegriffenen Romantiteln, Werbetexten, Schwerpunkten von Zeitschriften sowie der populären Ratgeberliteratur unschwer zu entnehmen ist.1 Nach Ansicht des Soziologen Heinz-Günter Vester ist es gerade diese Popularität, die den Ubergang vom 20. zum 21. Jahrhundert als »postemotionales« Zeitalter erscheinen läßt. Postemotional, weil intensiver als je zuvor — so scheint es zuweilen — die »McDonaldisierung« der (populären) Kultur ›wahre‹ Gefühle in Frage stelle, weil ihre Authentizität proportional zu ihrer aufdringlichen Präsenz insbesondere in den Medien abzunehmen scheine und es keinen einheitlichen und verläßlichen Interpretationskontext für Emotionen mehr gebe.2 Impliziert das Präfix ›post‹ historischen Wandel, so ist im Hinblick auf das Verhältnis von Geschlecht und Gefühl allerdings weniger eine postmoderne Veränderung zu verzeichnen als vielmehr Kontinuität in der Rede über Gefühle und in der Darstellung von Gefühlen. So belegt eine von den Stiftern des bedeutenden Orange Prize for Women’s Fiction in Auftrag gegebene Studie eine frappierende Konstante: die vermeintliche Affinität von Weiblichkeit und Gefühl. Daraus ergibt sich im Hinblick auf männliche Leser, daß diese nur dann Romane von Frauen zur Kenntnis nehmen, wenn die Titel keine emotionalen, mit ›Frauenliteratur‹ assoziierten ›Reizwörter‹ enthalten.3
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Anmerkungen
So z. B. Jeannette Winterson, The Passion (1987)
Kate Atkinson, Emotionally Weird (2000).
Vester, Heinz-Günter: Emotions in Postemotional Culture. In: Jürgen Schlaeger/Gesa Stedman (Hg.): Representations of Emotions. Tübingen 1999 (Literatur und Anthropologie; Bd. 3), S. 19–27
Vgl. Thorpe, Vanessa: Literary Love is For Girls and Sissies. In: The Observer, 19. März 2000.
Hierzu detaillierter: Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus. Pierre Drieu La Rochelles politische und literarische Entwicklung 1917–1942. München 1979 (Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie; Bd. 37), S. 114–116.
Zum folgenden siehe vor allem Jöckel, Sabine: Nouvelle histoire und Literaturwissenschaft. Rheinfelden 1985; hier v. a. Bd. 1, S. 83–107: »Das psychologische Element in der nouvelle histoire«.
Vgl. hierzu Charles, Christophe: Naissance des »Intellectuels« 1880–1900. Paris 1990.
Siehe Raulff, Ulrich: Die Geburt des Begriffs. Reden von ›Mentalitäten‹ zur Zeit der Affäre Dreyfus. In: ders. (Hg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin 1987, S. 50–68.
Febvre, Lucien: Das Gewissen des Historikers. Ubers, von Ulrich Raulff. Berlin 1988, S. 99.
Febvre, Lucien: Le Problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais. Neudruck Paris 1968, S. 143, 156, 160 u. ö.
Siehe dazu Frevert, Ute: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert. In: Paul Nolte u. a. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000. S. 95–111.
Vgl. außerdem Honegger, Claudia (Hg.): Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a. Schrift und Materie in der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt a. M. 1977
Raulff, Ulrich (Hg.): Mentalitätengeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin 1987.
Vgl. den Forschungsüberlick von Lutz, Catherine/White, Geoffrey M.: The Anthropology of Emotions. In: Annual Review of Anthropology, 15, 1986, S. 405–436. Einen Überblick über neuere Ansätze bietet Evans, Dylan: Emotion. The Science of Sentiment. Oxford 2001, wenn auch überwiegend aus philosophisch-naturwissenschaftlicher Perspektive.
Siehe z. B. die Diskussion, die sich an William M. Reddys Artikel anschließt: Reddy, W: Against Constructionism. The Historical Ethnography of Emotions. In: Current Anthropology, Bd. 38, Juni 1997, Nr. 3, S. 327–351.
Stearns, Carol Z./Stearns, Peter N.: Introduction. In: dies. (Hg.): Emotion and Social Change. Toward a New Psychohistory. New York, London 1988, S. 1–21; hier S. 12.
Stearns, Peter N.: History of Emotions: The Issue of Change. In: Michael Lewis/Jeannette M. Haviland (Hg.): Handbook of Emotions. New York, London 1993, S. 17–28; hier S. 26.
Harré, Rom (Hg.): The Social Construction of Emotions. Oxford 1986
Lutz, Catherine/Abu-Lughod, Lila: (Hg.): Language and the Politics of Emotion. Cambridge 1990.
Vgl. z. B. Lutz/Abu-Lughod (Hg.) 1990. Zwar an historischen Fragen eher desinteressiert, aber dennoch um einen synthetisierenden Ansatz bemüht, ist Evans 2001.
Bruder, Klaus-Jürgen: Psychologie der Emotion. Der psychologische Diskurs über die Gefühle. In: ders.: Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt a. M. 1993, S. 167–201
Averiii, James A: Inner feelings, works of the flesh, the beast within, diseases of the mind, driving force, and putting on a show: six metaphors of emotions and their theoretical extensions. In: Leary, David E. (Hg.): Metaphors in the History of Psychology. Cambridge 1990, S. 104–132 über die Ursprünge gängiger psychologischer Emotionsmetaphern.
Vgl. auch Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen 1999, eine Arbeit, die den Gender-Aspekt wie selbstverständlich mit thematisiert.
Solche ›Alteritäten‹ finden sich zum Beispiel bei Duby, Georges: Mâle Moyen Âge. De l’amour et autres essais. Paris 1988. ›Liebe‹ besteht im Mittelalter demnach in brutaler Sexualität, die ›höfische Liebe‹ habe nur der Sicherungen der Lebensbedingungen gedient und so fort. Dubys Primitivierung des Mittelalters ist eine Konsequenz des Mangels an Reflexion über das, was für ihn ›Modernität‹ bedeutet.
Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte des Gefühls in der Literatur des 18. Jh. Stuttgart 1988
Hansen, Klaus P (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau 1990 (Passauer Kolloquien; Bd. 2). In einigen neueren Studien, die auch das 20. Jh. miteinbeziehen, steht die Frage nach dem Erkenntniswert von psychoanalytischen Modellen und nach dem Verhältnis von Geschlecht und Emotion im Zentrum des Interesses.
Vgl.: Anz, Thomas (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999
Kanz, Christine: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns »Todesarten-Projekt« in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Stuttgart, Weimar 1999.
Siehe aber: Benthien, Claudia u. a. (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln u. a. 2000
Dinzelbacher, Peter: Emotionen. In: Das andere Mittelalter. Emotionen, Rituale und Kontraste. Krems 1993, S. 101–110
Althoff, Gerd: Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Benthien u. a. (Hg.) 2000, S. 82–99
James, Susan: Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy. Oxford 1997
Müller, Marion: ›These savage beasts become domestick‹: The Discourse of the Passions in Early Modern England with Special Reference to Non-Fictional Texts. Diss. University of Oxford 1999
Gaukroger, Stephen (Hg.): The Soft Underbelly of Reason: The Passions in the Seventeenth Century. London u. a. 1998 (Routledge Studies in Seventeenth-century Philosophy; Bd. 1).
Aus systemtheoretischer Sicht vgl. auch Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982.
Jager, Eric: The Book of the Heart. Chicago, London 2001, S. xiv.
Siehe dazu König, Eberhard: Das liebentbrannte Herz. Der Wiener Codex und der Maler Barthélemy d’Eyck. Graz 1996.
Unterkircher, Franz: René d’Anjou. Vom liebentbrannten Herzen. Graz 1975, S. 9 f.
Z. B. Stone, Lawrence: The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800. London 1977.
Vgl. aber Wehler, H.-U.: Emotionen in der Geschichte: Sind soziale Klassen auch emotionale Klassen? In: ders.: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert. München 2000, S. 251–264. Kritisch dazu: Trepp in diesem Band, Anmerkung 31.
Vgl. z. B. Corbin, Alain: Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung. In: Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998, S. 121–140.
Vgl. Gillis, John R.: From Ritual to Romance. Toward an Alternative History of Love. In: Stearns/Stearns (Hg.) 1988, S. 87–121
Cancian, Francesca M.: The Feminization of Love. In: Signs, Sommer 1986, Heft 2, S. 692–709 zur Rolle des romantischen Liebesideals, das den Emotionsbegriff des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlicher Hinsicht und im Alltag nachhaltig geprägt hat.
Bereits Gillis 1998 und Stearns, Carol: ›Lord Help Me Walk Humbly‹: Anger and Sadness in England and America, 1570–1750, in: Stearns / Stearns (Hg.) 1988, S. 39–68, haben überzeugend für eine differenziertere Sicht der Frühen Neuzeit argumentiert. Allerdings scheint unter den Emotionshistorikern Peter Stearns mit seinen Schwerpunkten im 19. und 20. Jahrhundert allein durch die Zahl seiner Publikationen einflußreicher zu sein, als Carol Stearns’ Arbeiten zur Frühen Neuzeit es zumindest bisher waren. Vgl. jedoch den Rezensionsteil im vorliegenden Band.
Stearns, Peter N./Stearns, Carol Z.: Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards. In: American Historical Review, 90, 1985, Bd. 4–5, S. 813–836.
Vgl. dazu Kroll, Renate: Grand siècle und feministische Literaturwissenschaft. In: Kroll, Renate/Zimmermann, Margarete (Hg.): Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen — Forschungsstand — Neuinterpretationen. Stuttgart, Weimar 1995, S. 86–100; hier v. a. S. 91 f.
Bethune, Geo. W: The British Female Poets: With Biographical Notices. Philadelphia 1848, S. iii.
Siehe hierzu zuletzt Pieper, Julia: Louise Labe (1522–1566). In: Zimmermann, Margarete/Böhm, Roswitha (Hg.): Französische Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen — Malerinnen — Mäzeninnen. Darmstadt 1999, S. 95–109.
Vgl. dazu Zimmermann, Margarete: Gender, Gedächtnis und literarische Kultur: Zum Projekt einer Autorinnen-Literaturgeschichte bis 1750. In: Kroll, Renate/Zimmermann, Margarete (Hg.): Gender Studies in den Romanischen Literaturen: Revisionen, Subversionen. Frankfurt a. M. 1999
Böhm, Roswitha: Unter Ausschluß der Weiblichkeit. Strategien französischer Literaturgeschichtsschreibung. In: Kroll/Zimmermann (Hg.) 1999, S. 315–336.
Christine de Pizan: Œuvres poétiques. Bd. I. Hg. Maurice Roy. Paris 1886 (Société des Anciens Textes Français), S. 51 (Übersetzung von Margarete Zimmermann)
Siehe hierzu: Altmann, Barbara: L’art de l’autoportrait littéraire dans les Cent Balades de Christine de Pizan. In: Liliane Dulac/Bernard Ribémont (Hg.): Une femme de lettres au Moyen Âge. Études autour de Christine de Pizan. Orléans 1999 (Medievalia; Bd. 16: Études christiniennes), S. 327–337
vgl. Zimmermann, Margarete: Les Cent Balades d’Amant et de Dame. Une réécriture de L’Elegia di Madonna Fiammetta de Boccace? In: Liliane Dulac/Bernard Ribémont (Hg.): Femme de Lettres. Orléans 1995, S. 337–346.
Erste Ansätze dazu in Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
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Kasten, I., Stedman, G., Zimmermann, M. (2002). Einleitung: Lucien Febvre und die Folgen. In: Kasten, I., Stedman, G., Zimmermann, M. (eds) Querelles: Jahrbuch für Frauenforschung 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02869-3_1
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