Zusammenfassung
Der folgende kurze Essay gründet auf Erfahrungen, die ich als Interpret gemacht habe und die die ersten etwa zwanzig Jahre meiner Tätigkeit als Musiker fast ausschließlich bestimmt haben. Diese Bemerkung ist als Einschränkung zu verstehen, da ich nicht einmal in Ansätzen versuchen werde, eine Theorie der Interpretation zu entfalten. Die einschränkende Bemerkung selbst bildet wiederum nicht nur eine topische Bescheidenheitsfloskel der Introductio, sondern sie ist im Anspruch und Forschungsstand der Sache selbst begründet: Der Begriff der Interpretation selbst ist ein junger, sein Problemkreis einer der Moderne, und seine Virulenz hat er erst durch die technische Entwicklung der akustischen Reproduktionsmittel nach dem II. Weltkrieg erhalten.1 Er selbst ist so eng verwoben mit den zentralen ästhetischen, philosophischen, sozialen und technischen Fragen der Musik, daß er sich schwer abtrennen und unter den Aspekten einer musikwissenschaftlichen und musiktheoretischen Spezialdisziplin behandeln läßt. (Wodurch nicht geleugnet sei, daß er diese Spezialisierung durchlaufen muß — und dies ist genau das, was gegenwärtig geschieht —, aber Interpretation läßt sich als Theorie eben nicht alleine unter den Kategorien der SpezialWissenschaft fassen.) Hierin mag der Grund ebenso für den „Fragmentcharakter der modernen Vortragslehre“ wie für die Beobachtung liegen, daß „eine solche Unabschließbarkeit […] in eigentümlicher Weise zur Sache selbst, zu einer differenzierten Theorie der musikalischen Interpretation [gehört]“.2 Neben den fragmentarischen Versuchen von Schönberg, Schenker und Busoni steht hier der von Adorno, von dem wohl am meisten zu erhoffen gewesen wäre.3
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Literatur
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Holtmeier, L. (2002). Der schizophrene Interpret. In: Schwab-Felisch, O., Thorau, C., Polth, M. (eds) Individualität in der Musik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02839-6_10
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