Zusammenfassung
Phantastik — ein Phänomen?, eine Gattung?, eine Stilkategorie?, eine Schreibweise? — Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaft haben sich schwer getan und tun sich weiterhin schwer, hier eine genaue Bestimmung vorzunehmen, ja vielleicht liegt es in der Natur dieses Gegenstandes, daß er sich einer präzisen Definition grundsätzlich entzieht. Die Phantastik als ein bestimmtes, eingrenzbares Phänomen gibt es wohl nicht und deshalb will auch ich nicht versuchen, im Rahmen dieser einleitenden Bemerkungen eine eindeutige, eingrenzende Bestimmung dieses Phänomens zu liefern. Ich will vielmehr auf Aspekte hinweisen, die den Schwellencharakter, die Ambivalenz und die Grenzüberschreitung in phantastischen Kunstwerken besonders akzentuieren. Beginnen will ich mit einem Zitat:
Die Stadt Perle stand am alten Fleck. — Aus dem Palaste trat Patera, atmete tief und so geräuschvoll, daß ich es bis herauf hörte, streckte sich und wurde dabei immer größer. Schon war sein Kopf bis in meine Höhe gewachsen, er hätte den ganzen Palast als Schemel benutzen können. Seine Kleider waren geplatzt und von ihm abgefallen. Sein Gesicht bedeckten die lang herabfallenden Locken. Mit den ungeheuren Füßen schob er die Straßen auseinander und beugte sich über den Bahnhof, wo er nach einer Lokomotive griff. Darauf blies er wie auf einer Mundharmonika, wuchs aber zusehends immer nach allen Seiten, so daß ihm sein Spielzeug bald zu klein wurde. Da brach er den großen Turm ab und schmetterte damit entsetzliche Drommetenstöße gegen den Himmel, schrecklich war sein nackter Leib anzusehen. Jetzt entwickelte er sich ins Grenzenlose, grub einen Vulkan aus, an welchem noch ein schneckenförmig gewundener Granitdarm der Erde hing.
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Notizen
Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. München 1975, S. 260–263.
Dieter Penning: Die Ordnung der Unordnung. Eine Bilanz der Theorie der Phantastik. In: Christian W. Thomsen und Jens Malte Fischer (Hrsg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt 1980, S. 35–36.
Andrzej Zgorzelski: Zum Verständnis der phantastischen Literatur. In: Phaicon 2. Almanach der Phantastischen Literatur. Mit Illustrationen zeitgenössischer Künstler. Hrsg. v. Rein A. Zondergeld. Frankfurt a.M. 1975, S. 60.
Roger Callois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Hrsg. v. Rein A. Zondergeld. Frankfurt a.M. 1974, S. 45.
Vgl. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1994, insbes. S. 317–325.
Marianne Resting: Negation und Konstruktion. Aspekte der Phantasiearchitektur in der modernen Dichtung. In: Harald Weinrich: Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik VI). München 1975, S. 368 f., 376.
Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München 1991.
Winfried Freund: Deutsche Phantastik. Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart. München 1999, S. 9.
„[…] Alles Unbegreifliche, alles, wo wir eine Wirkung ohne Ursache wahrnehmen, ist es vorzüglich, was uns mit Schrecken und Grauen erfüllt: — ein Schatten, von dem wir keinen Körper sehen, eine Hand, die aus der Mauer tritt und unverständliche Charaktere an die Wand schreibt, ein unbekanntes Wesen, das plötzlich vor mir steht und ebenso plötzlich wieder verschwindet. Die Seele erstarrt bei diesen fremdartigen Erscheinungen, die allen bisherigen Erfahrungen widersprechen; die Phantasie durchläuft in einer wunderbaren Schnelligkeit tausend und tausend Gegenstände, um endlich die Ursache der unbegreiflichen Wirkung herauszubringen, sie findet keine befriedigende und kehrt noch ermüdeter zum Gegenstand des Schreckens selbst zurück.[…]“ Ludwig Tieck: Shakespeares Behandlung des Wunderbaren (zuerst 1796). In: ders.: Ausgewählte kritische Schriften. Hrsg. v. Ernst Ribbat. Tübingen 1975, S. 29 f.
Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt a.M. 1975, S. 31 ff.
Fürst Vladimir F. Odojewskij: Russische Nächte. Mit einem Nachwort von Heinrich A. Stammler. Deutsch v. Johannes von Guenther u. Heinrich A. Stammler. Zürich 1984.
Ebd., S. 73. Mit diesen Eigenschaften ‚antwortet’ der die äußeren Grenzen von Raum und Zeit ständig überschreitende Künstler Piranesi den im Innern des von ihm geschaffenen Labyrinths rastlos über Brücken, Schwellen und Treppen laufenden Figuren. Vgl. dazu. U. Vogt-Göknil: Giovanni Battista Piranesi. Carceri. Zürich 1958, S. 58: „Sein [Piranesis] Erlebnis von Gefangensein äußert sich somit als ein Gebanntsein in Wiederholungen, als rast — und zielloses Unterwegssein […]. Wie von Atemnot gequält, schleppen sie [die Figuren] sich über die Brücken oder erklettern sie die Treppen, um wiederum auf neue Brücken und Treppen zu gelangen. Gefesselt von der Endlosigkeit der Wiederholungsmöglichkeiten, drängen sie von einer, Übergangssituation’ zur anderen.“ Vgl. dazu auch: Kesting (Anm. 6), S. 369.
Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt a. M, Berlin u. Wien 1985, S. 138.
„Prinzessin Brambilla ist eine gar köstliche Schöne, und wem diese durch ihre Wunderlichkeit nicht den Kopf schwindlicht macht, der hat gar keinen Kopf.“ Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. II. Darmstadt 1969, S. 66.
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Lehmann, J. (2003). Phantastik als Schwellen- und Ambivalenzphänomen. In: Ivanović, C., Lehmann, J., May, M. (eds) Phantastik — Kult oder Kultur?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02835-8_1
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