Zusammenfassung
Der Auftrag aus Cadiz hatte instrumentale Begleitmusik zum rituellen Vollzug erbeten, präzis auf die sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuz bezogen, und Haydn war dem nachgekommen auf eine Weise, an der sich über Identitäten und Unterschiede vokaler und instrumentaler Musik wohl mehr lernen läßt als irgendwo sonst. Die nur scheinbar paradoxe Herausforderung einer zugleich textgebundenen und textlosen Musik spielte er in einer Höhenlage durch, in der die Vergegenwärtigung der Worte, die Anstrengung, sie in unterschiedlichen Bezügen und Entfernungen mit der Musik zusammenzudenken, unausgesetzt gefordert bleibt. In vielerlei Entfernungen, auf vielerlei Ebenen: Wie sehr die musikalischen Themen an den Worten entlangdeklamiert, an ihnen erfunden sind, läßt sich leicht nachvollziehen; wie sehr sie aber zugleich zur kompliziertesten Verarbeitung taugen, ist ebenso wunderbar wie in der Architektur des Ganzen die Equilibrierung von motivisch Ähnlichem und Neuem, von Ton- und Taktarten, sonaten- und liedhaften Formen. Zugleich werden alte musikalische Symbole vergegenwärtigt — dasjenige des Kreuzes, in allenthalben begegnenden Gleichschlägen das Hämmern derer, die Jesus ans Kreuz nageln, ohne Begleitung und Stützung zerflatternde Melodieteile als Sinnbilder des in tödlicher Einsamkeit Verlassenen; unschwer assoziieren sich Bilder mit Vorder- und Hintergrund, gar mit verschiedenen Gruppen — im »Sitio« in dürren Pizzikati und dem zagen, kaum noch artikulierenden Terzfall der Dürstende, danach im Fortissimo-Einbruch das verzweifelte Schreien der um das Kreuz Versammelten; im »Hodie mecum eris in paradiso« als Läuterung einer Melodie vom Moll ins Dur der Aufblick aus tiefer Verzweiflung zur himmlischen Verheißung, die Verwandlung einer schwerschrittigen, mehrmals stockenden Marcia funebre zum heiter-befreiten Paradiesgesang genau in dem Ton, den Glucks Orfeo in den Gefilden der Seligen findet; im »Consummatum est« zunächst fortissimo unisono die einfache, unreflektierte Wucht der furchtbaren Gewißheit, danach deren Verinnerlichung in einer Klagefigur, die immer tiefer ins Orchester hineinsinkt und zugleich doch an die kadenzierenden Grundschritte des »Consummatum« als den unabdingbaren Hintergrund gebunden bleibt; und danach, wie von woandersher kommend, eine epilogische Tröstung, ebenbürtiges Gegenstück zum »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« der Matthäuspassion.
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Gülke, P. (2001). Worte Wortdeutung versperrend. In: Die Sprache der Musik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02813-6_20
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02813-6_20
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01862-5
Online ISBN: 978-3-476-02813-6
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