Zusammenfassung
Goethe hat den Deutschen demonstriert und in Dichtung und Wahrheit beschrieben, daß ein gesunder Lebenslauf einem Bildungsroman gleicht, in dem Außeres und Inneres, Leib und Seele, Ich und Gesellschaft zusammen wirken und zu einer unzertrennlichen Einheit verschmelzen. Alles Äußere soll darin seinen Außencharakter verlieren und symbolisch, also Ausdruck des selbstbestimmten Inneren werden, jedes biographische Detail soll sowohl Wert an sich als auch Teil eines Bedeutungszusammenhangs sein. Halten wir uns nicht bei der Frage auf, was an einem solchen Lebenslauf Dichtung, was Wahrheit ist, sondern stellen wir fest, daß diese Biographie ein positives Extrem in einem breiten Spektrum möglicher Lebensläufe bezeichnet. Am andern Ende dieses Spektrums oder doch in der Nähe davon steht der Lebenslauf des Jakob Michael Reinhold Lenz, von dem im folgenden die Rede sein soll. Die wiederum extreme Form, dieses verunglückte Leben zu beschreiben, ist die »Pathographie« oder der anamnetische Bericht, der lexikalisch definiert wird als »Gesamtbild der Feststellungen, die der Arzt durch sachgemäßes Befragen von Kranken oder ihrer Umgebung über frühere Krankheiten und die Vorgeschichte der zu behandelnden Erkrankungen sowie über die Persönlichkeit der Kranken und ihre Lage gewinnt«.1 Eine solche Pathographie hat für Lenz 1921 der Psychiater Rudolf Weichbrodt, Arzt an der psychiatrischen Klinik in Frankfurt/M., veröffentlicht,2 wobei er seine Absicht so beschrieb: »Wir wollen hier ein Bild von seiner Geisteskrankheit entwerfen und von dem gesunden Lenz nur das bringen, was zur Beurteilung des kranken Lenz dienen kann«.
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Anmerkungen
Der große Brockhaus. 16. Aufl. Wiesbaden 1952, Bd. 1, S. 260.
Weichbrodt, R[udolf]: Der Dichter Lenz. Eine Pathographie. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 62, 1921, S. 153–187.
Zit. nach Dedner, Burghard/Gersch, Hubert/Martin, Ariane (Hg.): »Lenzens Verrükkung«. Chronik und Dokumente zu J. M. R. Lenz von Herbst 1777 bis Frühjahr 1778. Tübingen 1999, S. 166. (Im folgenden zitiert als Chronik und Dokumente unter Angabe der Seitenzahl).
Zit. nach Chronik und Dokumente, S. 168.
Zit. nach Chronik und Dokumente, S. 181.
Vgl. Chronik und Dokumente, S. 15.
Brief vom 24. Nov. 1777, zit. nach Chronik und Dokumente, S. 89.
Brief vom 6. Dezember 1777; Chronik und Dokumente, S. 94.
Zit. nach Chronik und Dokumente, S. 155.
Noch deutlicher wird dies in Oberlins Ermahnung: »sachte ich ihm, er würde so dann wieder zu Ruhe Kommen u. schwerlich ehender, Gott wüßte Seinem worte ›Ehre Vater u. Mutten, Nachdruck zu geben.« (zit. nach Chronik und Dokumente, S. 150).
Georg Christoph Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen, 14. Mai 1778; zit. nach Chronik und Dokumente, S. 182.
So Georg Wilhelm Petersen an Christoph Friedrich Nicolai am 9. März 1778: »Die Nachricht von Lenzens Verrückung ist höchst kanonisch. Vermuthlich wird Klinger noch das nämliche Schicksal haben.« — Ähnlich schon am 12. Januar 1778: »Nehmen wir nun Klingern dazu: — Kaufmann, Kayser, Kleuker, Klinger, — der Buchstabe K. im Alphabete ist an Narren vor andern reich.« (Zit. nach Chronik und Dokumente, S. 122).
Nekrolog auf das Jahr 1792. Gesammelt von Friedrich Schlichtegroll. Gotha, 3. Jahrgang, 2. Band, 1794; zu diesen anderen Dokumenten zur Beurteilung von Lenz’ Biographie vgl. die Dokumentensammlung in Dedner, Burghard (Hg.): Georg Büchner: Lenz. Frankfurt/M. 1998, S. 61–120, sowie vor allem Müller, Peter (Hg. unter Mitarbeit v. Jürgen Stötzer): Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit 18.–20. Jahrhundert. 3 Bde. Bern u. a. 1995.
Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit, Dritter Theil, 11. Buch und 14. Buch. In: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 26. Stuttgart, Tübingen 1829, S. 75–78 und 247–253.
Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. In: Goethe 1829, Bd. 26, S. 219.
Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. In: Goethe 1829, S. 230.
Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. In: Goethe 1829, S. 218, 219, 220, 222.
Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. In: Goethe 1829, S. 247–249.
Goethe an Zelter, 2. Dezember 1812. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, (foto-mechan. Nachdruck der Ausgabe 1887–1919, München 1987), Bd. 116, Abt. 4, S. 186.
Gervinus, G.[eorg] G.[ottfried]: Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Erster Theil. Von Gottscheds Zeiten bis zu Göthes Jugend, Leipzig 1840, S. 381 ff.
Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Leipzig 1843, S. 581.
Schmidt, Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2. Leipzig 1853, S. 313–315.
Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. Bd. 3. Leipzig 1987, S. 639 f.
Lavater, Johann Kaspar: Zwei Gedichte von dem seeligen Lenz. In: Urania, für Kopf und Herz. Hg. von Johann Ludwig Ewald. Hannover 1794, Bd. 1, 1. Stück, S. 45–50.
Reichardt, Johann Friedrich: Etwas über den deutschen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, 2. Jg., Bd. 1 (Feb. 1796), S. 113–124.
Stöber, August: Der Dichter Lenz. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 250, 20. Oktober 1831, S. 1002 (zit. nach Dedner 1998, S. 85–92).
Stöber, Daniel Ehrenfried: Vie de J. E Oberlin, Paris, Strasbourg et Londres 1831, S. 215.
Rosanow, M[atvej]. N[ikanovovic]: Jakob M. R Lenz, der Dichter der Sturm- und Drangperiode. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1909.
Rosanow 1909, S. 242 f., 246 und passim.
Rosanow 1909, S. 445.
Rosanow 1909, S. 446.
Nachwort zu Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Hg. von Britta Titel und Hellmut Haug. Bd. 2. Stuttgart 1967, S. 822 f.
Berlin und Weimar 1985, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1989.
Vgl. Gersch, Hubert: Nachwort zu: Georg Büchner: Lenz. 2. Aufl. Stuttgart 1998.
Dedner, Burghard: Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese. In: Georg Büchner Jahrbuch 8, 1995, S. 3–68.
Vgl. Dedner 1998, S. 32, Z. 25 ff. m. Erläuterung.
Vgl. Dedner 1998, S. 51.
Boétius, Henning: Der verlorene Lenz. Auf der Suche nach dem inneren Kontinent. Frankfurt/M. 1985, S. 197.
In: Georg Büchner: 1813–1837; Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler (Katalog). Basel, Frankfurt/M. 1987, S. 258–261; hier S. 259.
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Dedner, B. (2001). Biographie und Pathographie. In: von der Lühe, I., Runge, A. (eds) Jahrbuch für Frauenforschung 2001. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02797-9_5
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