Zusammenfassung
Der Raum unterliegt Begrenzungen, die Zeit schafft sie. Das Reden über den Raum scheint ins Unendliche zu führen, aber die unendliche, alles endende Zeit verhindert den Fortgang der Rede, die der Zeit nicht achten will.
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Notizen
Henri Focillon, Le Livre des Magiciens, in: La Revue de l’Art ancien et moderne, Paris, Dezember 1924/Januar 1925. Zitiert nach Michel Courtois, Chinesische Malerei, Lausanne 1968, S. 108
Theodor W. Adorno, Musikalische Schriften V(Gesammelte Schriften Bd. 18), Frankfurt a.M. 1984, S. 149
Heimito von Doderer, Tangenten, München 1995, S. 92f.
Immerhin sind Hinweise auf die Räumlichkeit der europäischen Musik zahlreicher als solche auf die Zeitlichkeit der chinesischen Malerei.
Chiang Yee, The Chinese Eye, London 1935, S. 88. — Der Titel von Chiang Yee’s Buch weist auf das Auge als kulturschaffendes Organ in China hin. Eine in verschiedenen Versionen verbreitete Geschichte berichtet, daß ein Maler mit wunderbarer Vollkommenheit einen
Drachen malte, dem aber die Augen fehlten. Befragt, warum das so sei, antwortete er, der Drache werde sonst lebendig: wie es auch geschah, nachdem der Maler, gezwungen, die Augen eingeftigt hatte. — Das gemalte Auge wird hier zum lebendigen Auge, zum über das Leben des Ganzen entscheidenden Körperteil.
Da die gesamte abendländische Kultur eine musikalische heißen kann, werden manchen Komponisten geniale Fähigkeiten auch auf Gebieten weit außerhalb des ihrigen nachgesagt. — Meiner Ansicht nach kann aber etwa Bach genausowenig als „großer Theologe” gelten wie Mozart als „genialer Kenner des menschlichen Lebens”, womöglich „des Lebens, wie es wirklich ist”. 2
In Europa wird mit der Musik vieles verglichen, es ist aber letztlich unmöglich zu sagen, die Musik sei „wie...”.
Pavel Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens. Ein Lesebuch, hrsg. von Sieglinde und Fritz Mierau, Berlin 1991, S. 209
In diesem Buch wird mit „Abendland” ausschließlich die nachantike europäische Welt bezeichnet.
Die „Volksreligion” Chinas läßt sich etwa als abergläubische Form des Buddhismus und des Daoismus bezeichnen (was dem Vorrang des Hörens entspricht — Laozi wird in volkstümlichen Darstellungen immer mit besonders großen Ohren abgebildet), die Europas als materialistischer Aberglaube (Vorrang des Sehens).
Übrigens scheint mir auch der Vorrang des Sehens in Griechenland Ergebnis bewußter kultureller Anstrengung (die zum Sieg des „apollinischen” Prinzips des Auges Ober das „dionysische” des Ohrs fiihrte) zu sein und nicht ursprünglicher Veranlagung zu entsprechen. (Eine solche würde ich erst dem Abendland zuerkennen.) Das griechische Volk wäre also auch zum „Osten” zu rechnen; bei seiner Gegenüberstellung verwendet Florenski ja einerseits den Ausdruck „das alte Griechenland”, d.h. er redet von der griechischen Kultur, andererseits spricht er einfach von „dem Osten”, d.h. den östlichen Völkern ganz allgemein.
Das Verhältnis zwischen Musik und Leben ist nicht nur das einer Art Sprache zu einer anderen Art Sprache, es ist auch das Verhältnis der vollkommenen Hörwelt zu der gesamten Schauwelt.” (Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, in: Unzeitgemäße Betrachtungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 307). — Nur im Abendland konnte folgerichtig eine derartig monströse Erscheinung wie die „Lebensphilosophie” auftreten.
In jüngerer Zeit wird auf einen möglichen Einfluß der europäischen Malerei auf die der Chinesen schon seit dem 17. Jahrhundert hingewiesen. Ich kann daran nicht recht glauben (bezeichnenderweise stammen Vermutungen in dieser Richtung meist von Amerikanern, die offenbar deutlich das Fehlen einer der politischen entsprechenden kulturellen Hegemonie Amerikas spüren und daher wenigstens Amerika und China in gleicher Weise von europäischen Vorbildern abhängig sein lassen wollen). — Wu Li (1632–1718), ein bedeutender Maler der frithen Qing-Zeit, der zum Christentum übertrat, war mit westlicher Kultur wohl vertraut, dennoch bewirkte der Anblick westlicher Malerei in ihm keineswegs den Wunsch, seinen Malstil zu ändern.
Marcel Granet, Das chinesische Denken. Inhalt — Form — Charakter. Ubersetzt und eingeleitet von Manfred Porkert, Frankfurt a.M. 1985, S. 317f. (frz. Originalausgabe unter dem Titel La pensée chinoise, zuerst Paris 1934)
Im europäischen Kontext liefert China das Paradigma für „Unverständlichkeit”. („Ich bin Chinese, niemand versteht mich.” [Ossip Mandelstam, Das Rauschen der Zeit. Gesammelte „autobiographische” Prosa der 20er Jahre. Aus dem Russischen übertragen und hrsg. von Ralph Dutli, Frankfurt a.M. 1989, S. 258]). Als solchem kommt ihm aber auch eine durchaus positive Rolle zu, und es kann nicht Ziel des Bemühens um China sein, auch die letzten Reste dieser Unverständlichkeit auszutilgen.
Die chinesische Malerei wie die europäischen Musik haben einen im höchsten Maße gesteigerten Typus des Kenners hervorgebacht. Im Grunde hat nur ein Kenner das Recht zum Umgang mit diesen Künsten. „Der Kenner könnte definiert werden als lakonischer Kunstgeschichtler.” (Erwin Panofsky, zitiert nach Marilyn und Shen Fu, Studies in Connoisseurship, Princeton 1973, S. 18) Ohne die Kenntnis ihres Geschichtlichen ist die Beschäftigung mit chinesischer Malerei und europäischer Musik fruchtlos; aber es geht in keinem Fall um die Konstruktion lückenloser geschichtlicher Kausalität.
Erwin Reisner, Das Selbstopfer der Erkenntnis, Wien und Leipzig 1927, S. 104
Reisner behauptet sogar, „daß der intellektuelle Künstler, der Philosoph, nicht bloß auch ein Künstler ist wie alle anderen, sondern geradezu der Künstler an sich. (...) Die Philosophie zeigt sich uns... als die reine, abstrakte künstlerische Gestaltung selbst. Sie findet nichts mehr im Objektiven vor, das vermöge seines noch bestehenden Eigenwertes auf Formung verzichten könnte.” (Erwin Reisner, Das Selbstopfer der Erkenntnis, a.a.0., S. 98f.)
Erwin Reisner, Das Selbstopfer der Erkenntnis, a.a.0., S. 160. — Auch in China sind die Philosophen (wie überall) vom Mißtrauen gegen die Sinne nicht frei. „Der Berufene... unterjocht nicht mit Sehen und Hören sein Herz.” (Chang Tsai, [Zhang Zai], Rechtes Auflichten l Cheng-meng [Zhengmeng], übersetzt aus dem Chinesischen und hrsg. von Michael Friedrich, Michael Lackner und Friedrich Reimann, Hamburg 1996, S. 40). — Zhang Zai macht immerhin eine Einschränkung: „Auch wenn Ohr und Auge das Wesen [in die Dinge] verstricken, läßt sich doch erkennen, daß sie wichtig sind, um die Tugend des Zusammenschließens von Innen und Außen anheben zu lassen.” (Chang Tsai, a.a.0., S. 41)
Zitiert nach: Art History, Juni 1996, S. 185. — Reisner zufolge läßt sich der Streit zwischen Philosophen und Künstlern „auf keine Weise schlichten”. (Erwin Reisner, Das Selbstopfer der Erkenntnis, a.a.0., S. 104). Da ich als Künstler spreche, ist meine Parteinahme eindeutig; mein Versuch besitzt nicht die rücksichtslose Erkenntnisschärfe philosophischer Schriften, sondern ist mit dem Handwerk des Künstlers geschrieben (und soll in erster Linie auch als Kunstwerk beurteilt werden).
Erwin Reisner, Der Dämon und sein Bild, Frankfurt a.M. 1989, S. 321 (zuerst Berlin 1947)
Reisner warnt eindringlich vor einer aus vorgeblichem Überdruß am westlichen Rationalismus entstandenen Begeisterung für den Osten. Die ihr Verfallenen nennt er „die schlimmsten Rationalisten..., weil sie auch noch das Irrationale ihren bewußten Zwecken dienstbar machen wollen. Ihnen ist zu sagen, daß in den Abendstunden, wenn sich die Sonne einmal dem Horizont zugeneigt hat, der Satz ‘ex oriente lux’ gar nicht mehr gilt, sondern der andere: ‘ex oriente nox’. Auch die Nacht kommt ja aus dem Osten. Und so bejaht der moderne Ostling, der optimistische Irrationalist, indem er vergeblich dem Licht zustrebt, tatsächlich die Finsternis.” (Erwin Reisner, Das Selbstopfer der Erkenntnis, a.a.0., S. 9f.)
Daß es sich bei meiner Arbeit um einen Versuch handelt, möchte ich betonen. Auch die gedanklich scheinbar mehr systematisch durchgeführten Kapitel bieten lediglich „Versuchsanordnungen”.
Vgl. den Buchtitel Ludwig Hohls: Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung.
Das Fehlen von Vermittlung ist zwar vielleicht ein philosophischer Fehler, aber sicherlich nicht in jedem Falle ein künstlerischer. — Im übrigen habe ich mich weniger um Genauigkeit als um Gründlichkeit bemüht, im Sinne der Reisnerschen Unterscheidung: „Der Genaue schafft mit Bienenfleiß überall die ratio sufficiens herbei, der Gründliche schafft gar nichts herbei, er hört auf die Stimme des Grundes und antwortet darauf.” (Erwin Reisner, Der begegnungslose Mensch, Berlin 1964, S. 39)
Dieser systematische Charakter zeigt sich meiner Ansicht nach vor allem in der öfter fast mechanisch-klappernden Ost-West-Dialektik (wenn ich auch hoffe, diese — unter chinesischem Einfluß — wenigstens an einigen Stellen aufgeweicht zu haben).
der es mit sich bringt, daß die meisten Kapitel auch fiir sich lesbar sind, obgleich das Buch durchaus als Ganzes konzipiert wurde. (Bei fortlaufender Lektüre muß der Leser einige unvermeidliche — der Geschlossenheit der Einzelkapitel geschuldete — Wiederholungen in Kauf nehmen.)
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Breier, A. (2002). Einleitung. In: Die Zeit des Sehens und der Raum des Hörens. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02777-1_2
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Online ISBN: 978-3-476-02777-1
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