Zusammenfassung
Die Änderung der Schreibweise wird in erster Linie initiiert durch sensuell-geprägte Eindrücke, die Kleist auf den Reisen in den Jahren 1800 und 1801 aufnimmt. Sie entwickelt sich über den Weg eines neu erwachten Bewußtseins von der Wichtigkeit der subjektiven Wahrnehmung, einer Apperzeption also, deren Produktivität maßgeblich von der eigenen Gestimmtheit, der jeweiligen intellektuellen Verfaßtheit abhängig ist: „[I]ch weiß nicht, ob sich die Gegend verändert hat, oder das Herz, das ihren Eindruck empfing“ (S. 578f.). Fünf Jahre später wird es prononcierter heißen: „[E]s kommt […] nicht auf den Gegenstand, sondern auf das Auge an, das ihn betrachtet, und unter den Sinnen eines Denkers wird alles zum Stoff“ (S. 752). Kleist entdeckt die Empfänglichkeit der Sinne vor allem als eine neue geistige Möglichkeit, die in Konkurrenz tritt zur Wissenschaftsidolisierung. Die Rezeption der bildenden Kunst, der Kirchenmusik, der Landschaftseindrücke liefert hier, wie gezeigt werden soll, die entscheidenden Impulse. Die von der aisthesis gelenkte Anschauung eröffnet dem jungen Reisenden die Aussicht, über die vorrangig sensuelle Aufnahme der ihn umgebenden äußeren Wirklichkeit auch seinen Ideen-Assoziationen — etwa analog zu dem immer wieder thematisch gemachten Topos der im Unendlichen sich verlaufenden Bewegung eines Stromes — freien „Lauf“ zu lassen: „[i]ch […] verfolge den Lauf des Flusses bis er sich in die Berge verliert, und verliere mich selbst dabei in stille Betrachtungen“ (KS II, S. 579).
Die Natur ist eine Aeolsharfe — Sie ist musikal[isches] Instrument — dessen Töne wieder Tasten höherer Sayten in uns sind [Ideenassoziation] (Novalis, 1798/99).
Mir wars, als ob ich vorher ein totes Instrument gewesen wäre, und nun, plötzlich mit dem Sinn des Gehörs beschenkt, entzückt würde über die eignen Harmonieen (Juli 1801 an Adolfine von Werdeck).
Das sind […] Bilder, die man stundenlang mit immer beschäftigter Seele betrachten kann. Man steht vor einer solchen Gestalt, wie vor einem Schatze von Gedanken, die in üppiger Mannigfaltigkeit auf den Ruf einer Seele heraufsteigen (November 1801 an Adolfine von Werdeck).
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Kapp, G. (2000). Die Lehr- und Reisebriefe 1800–1801: Die Wende zur Sprache. In: »Des Gedankens Senkblei«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02697-2_7
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02697-2_7
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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Online ISBN: 978-3-476-02697-2
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