Zusammenfassung
Wer sich mit der volkssprachlichen Dichtung des frühen Mittelalters beschäftigt hat, so möchte man meinen, schwerlich etwas beizutragen zu einem Band, in dem es um die „Abkehr von Schönheit und Ideal in der Liebeslyrik“ geht. Der Befund für diese Zeit scheint recht eindeutig: Von einem physischen Schönheitsideal ist noch keine Rede, und gemeinhin geht man davon aus, daß es im frühen Mittelalter keine volkssprachliche Liebeslyrik gab. Bei dieser Fehlmeldung könnte es die Altanglistin belassen, gäbe es nicht die Gedichte The Wife’s Lament und Wulf and Eadwacer, die beide im Exeter-Buch überliefert sind und den sogenannten „altenglischen Elegien“ zugeordnet werden.1 Zwar sind diese Gedichte dem Verständnis ganzer Generationen von Interpreten weitgehend verschlossen geblieben, dennoch ist die Meinung weit verbreitet, es handle sich bei The Wife’s Lament und Wulf and Eadwacer um Liebesgedichte, um „poignant poems of love-longing“, wie es zum Beispiel Stanley B. Greenfield ausgedrückt hat.2
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Literatur
Das Exeter-Buch wird in das 11. Jahrhundert datiert. Es enthält u.a. Bibelepik, allegorische Dichtung, Heiligenlegenden, die sogenannten „altenglischen Elegien“ (denen auch die genannten Gedichte zugerechnet werden), eine Spruchsammlung und weitere Weisheitsdichtung sowie die altenglischen Rätsel. Gängige Editionen sind The Exeter Book (ASPR 3). Hg. v. G.P. Krapp u. W.V.K. Dobbie. New York 1936; The Exeter Book Part I: Poems I–VIII (EETS, O.S. Bd. 104). Hg. u. übers. v. I. Gollancz. London 1895 zusammen mit The Exeter Book Part II: Poems IX–XXXII (EETS O.S., Bd. 194). Hg. u. übers. v. W.S. Mackie. London 1934. Die — selbstverständlich von den modernen Herausgebern erfundenen — Titel der Gedichte variieren. Ich bleibe hier bei den in der Forschungsliteratur gängigen neuenglischen Titeln. Zum Genre „altenglische Elegie“ vgl. beispielsweise A. Klinck: „The Old English Elegy as a Genre“; in: English Studies in Canada 10, 1984, S. 129–140.
S.B. Greenfield: „Wulf and Eadwacer: all passion pent“; in: Anglo-Saxon England 15, 1986, S. 14. Die Zahl der Beiträge zu The Wife’s Lament und Wulf and Eadwacer ist groß; für die Literatur bis 1992 vgl. A. Klinck (Hg.): The Old English Elegies: A Critical Edition and Genre Study. Montreal, London 1992.
The Allegory of Love: A Study in Medieval Tradition [1936]. New York 1958, S. 9; ein drittes Gedicht des Exeter-Buchs, nämlich The Husband’s Message (mit einer männlichen persona) wird ebenfalls vielfach als „Liebesgedicht“ klassifiziert. Ich klammere dessen Betrachtung hier aus, weil sich für dieses Gedicht noch einmal ganz andere Probleme auftun.
Ich selbst habe mehrfach dafür plädiert, daß es sich bei The Wife’s Lament und Wulf and Eadwacer sehr wahrscheinlich nicht um Liebesgedichte im uns geläufigen Sinn handelt; vgl. speziell zu The Wife’s Lament „Two Women in Need of a Friend: A Comparison of The Wife’s Lament and Eangyth’s Letter to Boniface“; in: B. Brogyanyi u. Th. Krömmelbein (Hg.): Germanic Dialects: Linguistic and Philological Investigations (Current Issues in Linguistic Theory 38). Amsterdam, Philadelphia 1986, S. 491–524; zu den Elegien: Vokalität: Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 39). Tübingen 1992, S. 143–154 („Narrativ-lyrische Exordien“) und S. 211–230 („Gnomik in den Elegien“); vgl. zu den Elegien auch L.C.H. Tristram: „The Early Insular Elegies: ITEM ALIA“; in: M. Ball u.a. (Hg.): Celtic Linguistics: Readings in the Brythonic Languages. Festschrift for T. Arwyn Watkins (Current Issues in Linguistic Theory 68). Amsterdam, Philadelphia 1990, S. 343–361; zur möglichen Verbindung mit lateinischen Frauenbriefen vgl. auch J. Cünnen: „‘Oro pro te sicut pro me’: Berthgyths Briefe an Balthard als Beispiele produktiver Akkulturation“; in: E. Poppe u. L.H.C. Tristram (Hg.): Übersetzung, Adaption und Akkulturation im insularen Mittelalter. Münster 1999, S. 185–203, zu unseren Gedichten: S. 191 ff.
Ein solches Postulat lugt beispielweise hinter der folgenden Feststellung P. Dronkes vor, in der er — allerdings eingeschränkt auf den amour courtois — feststellt: „I am convinced that the question, why did this new feeling [i.e. die höfische Liebe] arise at such a place, at such a time, in such a society, is a misleading one. For I should like to suggest that the feelings and conceptions of amour courtois are universally possible, possible in any time or place and on any level of society“ (P. Dronke: Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric [2 Bde]. Oxford 1965, Bd. 1, S. 2; meine Hervorhebung).
N. Luhmann: Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982, S. 49.
Ebd., S. 22.
Ebd., S. 9; vgl. auch ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (2 Bde.). Frankfurt a.M. 1980.
Luhmann 1982, S. 9.
K. Malone: „Two English Frauenlieder“ in: Comparative Literature 14, 1962, S. 106–117.
Malone 1962, S. 117.
„Minnesang und Trobadors“; in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften XXXIV, zitiert in Malone 1982, S. 106f.
„The Mozarabic Lyric and Theodor Frings’s Theories“; in: Comparative Literature 4, 1952, S. 1–22; zitiert im Malone 1962, S.106.
„Erotic ‘Women’s Songs’ in Anglo-Saxon England“; in: Neophilologus 59, 1975, S. 451–462. Seine anglo-lateinischen Belege stammen aus MS Gg.5.35, Cambridge University Library. Einen generell engen Zusammenhang zwischen dem Exeter-Buch und diesem Manuskript sieht Seth Lerer: Literacy and Power in Anglo-Saxon Literature. Lincoln, N.E., London 1991, S. 104ff.; zu den Cambridge Songs siehe auch Dronke 1965, Bd. 1, S. 271–277.
Vgl. hierzu meinen Aufsatz „‘A Song of Myself’: Propositions on the Vocality of Old English Poetry“; in: H.-J. Mühlenbrock u. R. Noll-Wiemann (Hg.): Anglistentag 1988 Göttingen: Vorträge. Tübingen 1989, S. 196–208; s. auch Schaefer 1992, S. 143–154.
Klinck 1984, S. 137.
K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 21968, S. 222; zur Spannung zwischen dem scheinbar lyrischen Gestus der Elegien und ihrer narrativen Form vgl. Schaefer 1992, S. 143–154.
Ich zitiere hier wie im folgenden nach der Ausgabe von Mackie (vgl. Anm. 1): EETS O.S., Bd. 194, S. 152–55 (The Wife’s Lament; von Mackie als The Wife’s Complaint betitelt) und S. 86f. (Wulf and Eadwacer). In der Regel wird altenglische Dichtung nach der Ausgabe von Krapp/Dobbie zitiert (vgl. Anm. 1); ich weiche davon ab, weil Mackie, im Gegensatz zu Krapp/Dobbie, nicht interpunktiert und keine Großbuchstaben einsetzt. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir.
„:7“ markiert im MS des Exeter-Buchs das Textende.
Die Probleme sind u.a. gut skizziert in M. Osborn: „The Text and Context of Wulf and Eadwacer“; in: M. Green (Hg.): The Old English Elegies: New Essays in Criticism and Research. Rutherford, N.J., u.a. 1983, S. 174–189; nachgedr. in: K. O’Brien O’Keeffe (Hg.): Old English Shorter Poems: Basic Readings. New York, London 1994, S. 409–426 (ich zitiere im folgenden aus dem Nachdruck) und Greenfield 1986.
EETS O.S. 194, S.87; vgl. dagegen beispielsweise die Übersetzung dieser Zeilen durch Dolores W. Frese (mit „{xxx}//{yyy}“ gebe ich Freses alternative Übersetzungen wieder: „To my people it is as if someone offered a sacrifice for them. / Will they {receive him}//{devour him} if he comes in their midst? / is otherwise with us://{Our destiny is different}“ (D.W. Frese: „Wulf and Eadwacer: The Adulterous Woman Reconsidered“; in: Notre Dame English Journal 15, 1983, S. 1–22; nachgedr. in: H. Damico und A.H. Olsen (Hg.): New Readings on Women in Old English Literature. Bloomington, IN 1990, S. 286; ich zitiere hier und im folgenden aus dem Nachdruck).
Im Manuskript sind die Wörter wulf und eadwacer selbstverständlich nicht kapitalisiert. Ich behalte hier diese Schreibung bei, um deren Interpretation als Eigennamen typographisch nicht von vornherein zu insinuieren.
Mit „unser beider“ übersetze ich das Possessivum der 1. Ps. Dual uncerne. Leider wird aus dem Dual auch nicht klar, ob die zweite Person, auf die damit Bezug genommen wird, wulf oder eadwacer ist.
S. Greenfield beispielsweise kommt nach einigen früheren ‘Lösungsversuchen’ 1986 dazu, die Zahl der Akteure auf zwei zu reduzieren: die Sprecherin und Wulf. Das gemeinhin für einen Personennamen gehaltene eadwacer interpretiert er als „the guardian of her happiness“ (ein Kompositum aus ead-„happiness“ und -wacer „guardian“, also dt. „Glückswacher“) und hwelp als eine Metapher für die Liebe zwischen der Sprecherin und Wulf: „Their love […] is what Wulf carries with him into his exile retreat in the woods on that island“ (Greenfield 1986, S. 12 mit Anm. 22).
Das Geschlecht der persona ergibt sich in beiden Gedichten aus weiblich flektierten Formen; für The Wife’s Lament sind dies die Endungen -re der Formen geomorre und minre sylfre in Z. 1f.; für Wulf and Eadwacer die Endung -u in reotugu (Z. 10; „[die] Traurige / Weinende“). Um der Abnormität einer weiblichen persona abzuhelfen, hat es für The Wife’s Lament zu diesen Endungen Emendationsvorschläge gegeben; vgl. dazu J. Mandel: Alternative Readings in Old English Poetry. New York 1987, S. 154; als solche Emendationen ablehnende Stimme immer noch sehr schlüssig: B. Mitchell: „The Narrator of The Wife’s Lament“ in: Neuphilologische Mitteilungen 73, 1972, S. 222–234.
So charakterisiert u.a. Th. Frings 1949 die von ihm untersuchten Frauenstrophen; zitiert in Malone 1962, S. 107.
Von „phallic authority“ spricht Desmond anhand der in der Literatur vorgeschlagenen „geschlechtsumwandelnden“ Emendationen und allegorisierenden Interpretationen der Gedichte (M. Desmond: „The Voice of Exile: Feminist Literary History and the Anonymous Anglo-Saxon Elegy“; in: Critical Inquiry 16, 1990, S. 574).
Desmond 1990, S. 577. Es mag sein, daß mein Erkenntnisinteresse zu weit von diesem Ansatz entfernt ist; dennoch halte ich die Ausblendung des „historical gender“ gerade hier für einen extrem fahrlässigen Kurzschluß.
Desmond 1990, S. 585.
„From freolicu folccwen to geomuru ides: Women in Old English Poetry Reconsidered“; in: The Michigan Academician 9, 1976, S. 117.
Hansen 1976, S. 113.
Frese 1983/94, Osborn 1983/94; eigentümlicherweise beziehen sich weder Frese noch Osborn auf den Aufsatz von Hansen.
Osborn 1983/94, S. 420.
Ebd.
Frese 1983/94, S. 273.
Frese 1983/94, S. 283; ich selbst habe — wenn auch in einem anderen Argumentationszusammenhang — die auch meiner Ansicht nach notwendigerweise konfligierenden heidnisch-germanischen und christlichen Todesvorstellungen diskutiert in Schaefer 1992, S. 190–210. Leider hatte ich dazu Dolores Freses Artikel noch nicht zur Kenntnis genommen.
Luhmann 1980, Bd. 1, S. 19; gerade die Todesvorstellung scheint mir — wie in der vorangehenden Anmerkung angedeutet — ein soziokulturell hoch relevanter Komplex von „Sinnverarbeitungsregeln“ zu sein.
Greenfield 1986, S. 9.
Übersetzung von Greenfield, ebd.
Ebd.
Ebd.
Luhmann 1982, S. 49.
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Schaefer, U. (2000). Altenglische ‘Liebesgedichte’ oder: Zwei Beispiele für einen semantischen Trugschluss. In: Fischer, C., Veit, C. (eds) Abkehr von Schönheit und Ideal in der Liebeslyrik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02695-8_2
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