Zusammenfassung
Rilke, der Lou Andreas-Salomé nach Berlin gefolgt war, verfaßte ihr zu Ehren am 22. November 1897 ein kurzes Gedicht, einen Zehnzeiler, der in den Zyklus Dir zu Feier aufgenommen werden sollte. Wie man weiß, stellt diese Sammlung ein Pendant zu Mir zur Feier dar und schöpft weitgehend aus denselben Quellen — das neue Leben, das die Geliebte dem Dichter eröffnet. Aber während die zweite Sammlung, die die Meisterschaft des Dichters zelebriert, 1899 erscheint, bleibt die erste, deren Stücke von Lou selbst ausgewählt werden, lange Zeit geheim und wird nicht vor 1959 veröffentlicht. Es ist das Gedicht „Du warst so kinderweiß in deiner Seide“, bei dem ich verweilen möchte, da es einen neuen Ton der Inspiration des jungen Dichters erklingen läßt: die Ankündigung seiner eigenen Stimme. Er drückt hier in der Tat die erste Unstimmigkeit in der Beziehung zwischen dem Dichter und der geliebten Frau aus, die er bis zu diesem Zeitpunkt als heilbringende Figur idealisiert und deren Liebe und deren Lächeln dem Schicksal des staatenlosen Waisenkindes Sinn und Stabilität geben. Der Liebende im Dienste der Geliebten, der Ergebene, überglücklich über die Gnade, die ihm seine Madonna in reichem Maße zuteil werden läßt, verläßt die Passivität des Wartens. Er spielt sich als Geistlicher auf, der den Kult derjenigen organisiert, die er feiert. Das fleischliche Verlangen und die Souveränität des Dichters bestimmen von nun an die Liebesliturgie. Da ihn seine Schritte bisher noch nicht auf die Spuren Baudelaires geführt haben — dieses Grausamen, der einer sterblichen Madonna ergeben ist und über ihr seine Perversität entlädt — verläßt der junge Dichter die manieristischen Wege: Er erinnert an die Liebe in ihrer konfliktreichen und elementaren Dimension und stellt das Imaginäre ins Zentrum der Beziehung.
Beauty […] and Good […] are one and the same.
Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711)
Que faire pour qu’il y ait quelque sens encore à dire Je?
Yves Bonnefoy, La Présence et l’image (1983)
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Literatur
Mein Beitrag behandelt also weder die ‘häßliche’ Frau noch die Sarkasmen, die die Dichtung in der Folge von Horaz und Tibull über die Zaubereien der ‘tyrannischen’ Liebenden ergießt. P. Veyne (L’élégie érotique romaine. Paris 1983) hat gezeigt, daß die Ästhetisierung des Abgewiesenen weder mit Baudelaire und seinem Gedicht A une charogne, noch mit den Hexen und Puffmüttern von Goya beginnt, sondern in der Antike verwurzelt ist. Die antipetrarkistische Linie, die er von Villon bis zu Rimbaud verlaufen sieht und von Shakespeare zum Grotesken des Barocks, wird hier nicht mein Thema sein.
Vgl. der Beitrag von M. Milner in diesem Band.
Über die Beziehungen zwischen Rilke und Baudelaire siehe Ch. de Sugar: Baudelaire et R M. Rilke. Étude d’influence et d’affinités spirituelles. Paris 1954; J.E. Jackson: „Rilke et Baudelaire“; in: Stanford French Review 3, 1979, S. 325–341. Ich möchte an folgende Zeilen Rilkes an Anita Forrer erinnern, 12. April 1921: „Les fleurs du mal von Baudelaire: ein Buch fürs Leben, für alle Leben, möchte man sagen, das die Fassung Ihres jetzigen Herzens, Anita, weit weit, weit überholt —, in dem vielleicht nur ganz wenige Zeilen vorkommen, die Ihnen jetzt schon zeitgenössisch und zeitgemäß sind. Aber eines jener Bücher, an das man sich doch, im Moment des Erwachsenseins, mindestens gewöhnen muß, um vielleicht viel später, wahrhaftigen Antheil, unaussprechliches Glück, süßeste Tröstung oder ungeheueres Mitwissen des eigenen Elends aus seiner Überlegenheit zu gewinnen.“ (in: R.M. Rilke, A. Forrer: Briefwechsel. Hg. v. M. Kerényi. Frankfurt a.M. 1982, S. 66)
„Ich sehne oft nach einer Mutter mich“, erklärte ohne Zweideutigkeit ein Gedicht, das im November 1896 verfaßt wurde und den Zyklus Mütter in der Sammlung Advent eröffnet (R.M. Rilke: Sämtliche Werke [6 Bde.]. Hg. v. E. Zinn. Wiesbaden, Frankfurt a.M. 1955–1966, Bd. 1, S. 137).
Siehe z.B. Nacht, Die Madonna, Velasquez, drei Gedichte aus der Prager Zeit, alle drei im März 1895 entstanden (Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 502, 505, 507).
„Du bist der Grund von allem meinem Fühlen / Nicht etwas ausser mir / Könnt ich recht tief mich in mich selber wühlen / Ich käm zu Dir“. (Madonna Lisa; in: H. v. Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Hg. v. Freien Deutschen Hochstift. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 2, S. 88)
Im gemeinsamen Einverständnis haben Rilke und Lou die Briefe, die sich auf die leidenschaftliche Jahren zwische 1897 und 1901 bezogen, verbrannt. Gleichzeitig wurde auf Lous Initiative hin, die sich als Schiedsrichterin aufspielte, eine große Anzahl an Gedichten vernichtet. Als sie Mir zur Feier publizieren ließ, verstümmelte sie im Gegenzug die entsprechende Sammlung Dir zur Feier, die ihr gewidmet ist. Der Gedichtzyklus ist zwischen Mai 1897 und Mai 1898 verfaßt worden. Lou hat davon gut die Hälfte vernichtet. Die 48 übriggebliebenen Gedichte wurden in einem Manuskript neu gruppiert, welches sie unter ihren persönlichen Papieren aufhob. Heute befindet es sich im Fond Rilke im Deutschen Literaturarchiv in Marburg. Später fragte sie sich, ob sie das Recht hatte, so bestimmend einzugreifen. Was diese Punkte im einzelnen betrifft, erlaube ich mir, auf meine Biographie über Lou Andreas-Salomé zu verweisen, die 2000 bei Éditions du Seuil erscheint.
„Mißbrauchte Frauenkraft“; in: Die Frau, Juni 1899, S. 513–516; „Ketzereien gegen die moderne Frau“; in: Die Zukunft, 11. Februar 1899, S. 237–240; „Der Mensch als Weib“; in: Neue deutsche Rundschau X, März 1899, S. 225–243; „Gedanken über das Liebesproblem“; in: Ebd. XI, 3. u. 4. Vierteljahr 1900, S. 1009–1027.
Zum Typus Weib (1914); in: L. Andreas-Salomé: Das zweideutige Lächeln der Erotik. Hg. v. I. Weber u. B. Rempp. Freiburg i.Br. 1990, S. 100.
Ebd. S. 101.
„Was die Beziehung der Geschlechter betrifft, nimmt man den Mann wirklich allzusehr als den einzelnen Herrn So und so, — während er neben der Frau immer ein wenig ein Joseph neben der Maria dasteht, die von Gott empfängt (darin versteht sich alles.)“ (An E. Diederichs, 1915, Marbach, Deutsches Literaturarchiv)
Rilke 1955–66, Bd. 3, S. 187.
Ebd., S. 19f.
München, 6. Juni 1897, ebd., S. 15.
R.M. Rilke, L. Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. v. E. Pfeiffer. Frankfurt a.M.31990, S. 26. Das Gedicht, laut E. Pfeiffer bereits im Sommer 1897, nach E. Zinn erst im Sommer oder im Herbst 1899 entstanden, wird ins zweite Buch des Stundenbuches integriert werden.
Rilke 1942, S. 80.
R.M. Rilke: Die Flagellanten. Prag, 3. November 1895; in: Ders. 1955–66. Bd. 3, S. 512f.
R.M. Rilke: Da log das Mittelalter. München, Mitte Mai 1897; in: Ebd., S. 566f.
Ch. Baudelaire, Œuvres complètes (2 Bde.). Hg. v. C. Pichois. Paris 1975, Bd. 1, S. 58f.
Rilke: „Gedanken über das Liebesproblem“, S. 1026.
R.M. Rilke: „Vom religiösen Affekt“; in: Die Zukunft 23. April 1898, S. 151.
An E. v. Bodman, Westerwede bei Bremen, am 17. August 1901; in: R.M. Rilke: Briefe. Hg. v. Rilke-Archiv u. K. Altheim. Frankfurt a.M. 1950, Bd. 1, S. 29.
Rilke: „Gedanken über das Liebesproblem“, S. 1023.
L. Andreas-Salomé: Eintragungen letzte Jahre. Hg. v. E. Pfeiffer. Frankfurt a.M. 21986, S. 27, April 1934. Entsprechend dem Willen von Lou hat E. Pfeiffer, der Herausgeber der Memoiren, hier ihre späteren Seiten angefügt (L. Andreas-Salome: Lebensrückblick. Frankfurt a.M. 1970, S. 138).
Die Memoiren sprechen von einem „Ineinanderschwingen von Geist und Sinnen“, von „zweisame[n] Ineinanderleben“. (Andreas-Salomé 1970, S. 115f.) In einer verblüffenden Art ist diese letzte Äußerung derjenigen sehr nahe, die sie in bezug auf Mauthner gebraucht, um von ihrer Beziehung zu Rée zu sprechen („unser Ineinanderleben“, Brief vom 27. September 1921, Marbach, Deutsches Literaturarchiv). Es ist also wahr, daß die von Rilke eingeführte sinnliche Dimension nicht existiert hat.
Rilke 1942, S. 100f.
R.M. Rilke: Dir zw Feier, in: Dens. 1955–66, Bd. 3, S. 188f.
S. Freud: „Nachruf“ (1937); in: Ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt a.M., Bd. 16, S. 270.
L. Andreas-Salomé: Die Erotik. Frankfurt a.M. 1910, S. 44.
Rilke 1942 S. 114.
Ebd., S. 135f.
R.M. Rilke: Schmargendorfer Tagebuch; in: Ebd., S. 208: „1900: 12. Januar, nachts“.
R.M. Rilke: Das Florenzer Tagebuch; in: Ebd., S. 74.
R. Dehmel: Ausgewählte Gedichte, Berlin o.J., S. 21, 22.
L. Andreas-Salomé u. A. Wolynskij: „Amor“; in: Sewertnyj Westnik 9, 1897, S. 1–6.
K. Asadovski: „Sur les traces du Vieil Enthousiaste: A. Volyski, L. Andreas-Salomé, R.M. Rilke“; in: Études germaniques, April–Juni 1998, S. 291–311.
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Michaud, S. (2000). Variationen über die Madonna bei Rilke und Baudelaire. In: Fischer, C., Veit, C. (eds) Abkehr von Schönheit und Ideal in der Liebeslyrik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02695-8_22
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