Zusammenfassung
In einem Kapitel seiner Essays knüpft Michel de Montaigne an Ciceros bekannten Ausspruch an, »[p]hilosophieren sei nichts anderes als sich auf den Tod vorbereiten « und erklärt ihn dergestalt: »Studieren und tiefe Betrachtungen versetzen gewissermaßen die Seele in eine höhere Sphäre und geben ihr eine unkörperliche Pflege, welches eine Art von Schule und Ähnlichkeit des Todes ist«. Wäre also Philosophie eine Art Todesgelehrsamkeit? Statt einer direkten Antwort auf diese Frage bietet Montaigne noch eine andere Interpretation an: »daß alles Nachdenken, alle Weisheit dieser Welt sich in dem einen Punkt auflöse, uns zu lehren, den Tod nicht zu fürchten«.1 Doch genau genommen ist der Tod »etwas Unvorstellbares, etwas eigentlich Undenkbares«, wie ein Philosoph des 20. Jahrhunderts, Karl Jaspers, erklärt. Man hat vom Tod nur Fremderfahrungen, indem man den Tod »als Körpervorgang, als Nichtexistenz des Nächsten« erfasst, während man »selbst noch weiter existiert«.2 Für Montaigne bedeutet Reflexion auf den Tod gleichzeitig eine politische und gesellschaftliche Befreiung. Mit anderen Worten: »Wer sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr […]; das Leben aufgeben ist kein Übel. Zu sterben wissen, das befreit uns von aller Lebenspflicht und von jedem Zwange«. Montaigne bringt den erörterten Sachverhalt auf folgende Sentenz: »Sinnen auf den Tod ist Sinnen auf Freiheit«.3
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Anmerkungen
Michel de Montaigne, Essais, hg. und mit einem Nachwort versehen von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt a.M. 1976, S. 7.
Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin u.a. 61971, S. 261.
Johann Wolfgang v. Goethe, Faust I. In: Ders., Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. III: Faust I, Faust II, Urfaust, Hamburg 41960, Vs. 11585.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Vs. 11585. In: Ders., Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. III, hg. von Erich Trunz, Hamburg 41960, S. 348.
Friedrich Schiller, rn. In: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 1: Gedichte, Dramen I, München 31962, S. 591.
Friedrich Schiller, Briefe I, 1772–1795, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt a.M. 2002, S. 271.
Vgl. Justus Lipsius, Von der Bestendigkeit (De Constantia), hg. von Leonard Forster, Stuttgart 1965.
Walter Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle (Saale) 1928, S. 241f.
Edward Young, Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod, und Unsterblichkeit. Erster Band, übers. und hg. von Johann Arnold Ebert, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1790, S. 261.
Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, München 1962, S. 66.
Novalis, Werke. Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Hans Jürgen Balmes, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, Darmstadt 1999, S. 411.
Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, Faksimiledruck nach der Ausg. von 1810, Heidelberg 1969, S. 205.
Heinrich Nudow, Versuch einer Theorie des Schlafs, Königsberg 1791, S. 284f.
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Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. von Karl Pörnbacher, Bd. 3, Darmstadt 1971, S. 458.
Adam Müller, Von der Idee der Schönheit. In: Ders., Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe, hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert, Bd. 2, Neuwied und Berlin 1967, S. 99. Es spricht nicht für Müllers Charakter, wenn er in einem Brief an Friedrich Schulz vom 10.12.1811 seinem ehemaligen Freund und Henriette Vogel vorwirft, »das Andenken an uns in das frevelhafte Spiel ihrer letzten Gedanken verwickelt« zu haben (NR 50).
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Jean Paul, Ideen — Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichen Nachlaß, hg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel, Frankfurt a.M. 1996, S. 236.
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Wilhelm Heinrich Wackenroder, Werke und Briefe, hg. von Gerda Heinrich, München und Wien 1984, S. 332ff.
Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hg. von Henri Poschmann, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1999, S. 42.
Herbert Schöffler, Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte, Göttingen 1967, S. 167.
Vgl. Fritz Hackert (Hg.), Heinrich von Kleist. ›Prinz Friedrich von Homburg‹. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1979, S. 127–139.
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Thomas Mann, Heinrich von Kleist und seine Erzählungen. In: Ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, hg. von Hans Bürgin, Bd. IX: Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a.M. 1960, S. 823–842, hier S. 823.
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Hinderer, W. (2012). »Sinnen auf Tod ist Sinnen auf Freiheit«. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2012. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00814-5_16
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00814-5_16
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