Zusammenfassung
Selten wird mit Blick auf Kleists Stellung zur Aufklärung gefragt,1 wie er es mit der Forderung nach ›Publizität‹ hielt. Die »Freyheit der Presse«, hatte Christoph Martin Wieland erklärt, sei »Angelegenheit und Interesse des ganzen Menschenge-schlechtes«,2 weil dessen Vervollkommnung sie erfordere. Eben darum handele es sich auch um ein natürliches Recht: »Alles was wir wissen können, das dürfen wir auch wissen«.3 Dieser Satz richtet sich gegen jede Art der Vorenthaltung von Wissen einschließlich der absolutistischen Arkanpolitik. Publizität wurde auch in Staatsgeschäften gefordert. Solange »Politik das anmaßliche Geheimnis der Höfe und Kabinette ist«, musste sie sich nach Wielands Überzeugung als Werkzeug der
Täuschung und Unterdrückung mißbrauchen lassen. […] Nicht so, wenn die Ver-nunft sich ihrer ewigen unverjährbaren Rechte wieder bemächtigt hat, um alle Wahrheiten, an deren Erkenntnis allen alles gelegen ist, wieder ans Licht hervorzuziehen, und ihnen mit Hilfe aller Musenkünste, unter allen nur ersinnlichen Gestalten und Einkleidungen, die möglichste Popularität zu verschaffen.4
Solcher Popularisierung politischer Wahrheiten schrieb man eine kritische Funktion zu: Wie Urteile und Meinungen waren auch Verordnungen und Gesetze einer öffentlichen Prüfung zu unterziehen. Publizität sollte ein »Probirstein der Recht-mäßigkeit«5 sein; darum erklärte Kant die Freiheit der Feder zum »einzige[n] Palladium der Volksrechte«.6 Was sich dagegen der Kritik zu entziehen suche, errege »gerechten Verdacht wider sich« und könne »auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen«.7
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Anmerkungen
Siehe etwa die Beiträge in Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel (Hg.), Kleist — ein moderner Aufklärer? Göttingen 2005.
Christoph Martin Wieland, Über die Pflichten und Rechte der Schriftsteller. In: Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nazionen, Regierungen und andere öffentliche Gegenstände (1785). In: C. M. Wielands sämmtliche Werke, Bd. 30, Leipzig 1857, S. 379–393, hier S. 381.
Christoph Martin Wieland, Gespräche unter vier Augen (1799). In: C. M. Wielands sämmtliche Werke, Bd. 32, Leipzig 1857, S. 209.
Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußi-schen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1917, Bd. VIII, S. 273–314, hier S. 297.
Vgl. Hermann F. Weiss, Zur Datierung von Heinrich von Kleists politischen Schriften des Jahres 1809. In: Neophilologus 67 (1983), S. 568–574, hier S. 568.
Vgl. Richard Samuel, Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewegungen der Jahre 1805–1809, Frankfurt/Oder 1995 (1938), S. 243.
Vgl. Jacques Godechot u.a. (Hg.), Histoire générale de la Presse française, Bd. 1, Paris 1969, S. 550.
Siehe dazu Robert N. Proctor, Agnotology: A Missing Term to Describe the Cultural Production of Ignorance (and Its Study). In: Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, hg. von dems. und Londa Schiebinger, Stanford 2008, S. 1–33.
Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990.
Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 36.
Zur Unterscheidung von einfacher und reflexiver Geheimhaltung siehe zusammenfassend Claudia Schirrmeister, Geheimnisse. Über die Ambivalenz von Wissen und NichtWissen, Wiesbaden 2004, S. 55–61.
Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992, S. 383–455, v.a. S. 414–421.
Siehe dazu Günter Blamberger, Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: KJb 1999, S. 27–40, sowie Adam Soboczynski, Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800, Berlin 2007.
Im Zuge der Machiavelli- und Tacitus-Diskussion des 17. Jahrhunderts war die Lehre von den arcana in die politische Ratgeberliteratur eingegangen war. Siehe dazu Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio statuts. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980.
Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, S. 127.
Ludwig Tieck, Vorrede. In: Heinrich von Kleists ausgewählte Schriften, hg. von dems., Berlin 1846, S. XVII.
Als kluge Reaktion empfiehlt Gentz »ein neues, möglichst mildes, möglichst liberales Zensurreglement«, das den »moralischen Kredit der österreichischen Regierung ungeheuer heben« werde (Friedrich von Gentz, Brief an Metternich vom 24. Februar 1810. In: Briefe von und an Friedrich von Gentz, hg. von Friedrich Carl Wittichen und Ernst Salzer, Bd. 3, Teil l, München u. Berlin 1919, S. 77).
Gustave Mathieu, Heinrich von Kleist’s Primer for Propaganda Analysis. In: Monats-hefte 46 (1954), S. 375–382.
Siehe zum folgenden Oliver Kuhn, Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung — am Beispiel der Verschwörungstheorien. Ein Beitrag zur Soziologie des Nichtwissens. In: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 106–123.
Vgl. Wolfgang Schieder und Christof Dipper, Propaganda [Art.]. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Kosellek, Bd. 5, Stuttgart 2004, S. 69–112.
Vgl. Otto Groth, Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik), Bd. II, Mannheim, Berlin und Leipzig 1929, S. 45.
Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848, Neuwied und Berlin 1966, S. 173. Der in der älteren Forschung vorherrschenden Auffassung, dass die absolutistischen Regierungen gegenüber jeder Veröffentlichung negativ eingestellt waren, hat vor allem Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 25), S. 17, widersprochen. Tatsächlich sind seit dem 17. Jahrhundert und vor allem in Kriegszeiten auch im Deutschen Reich Versuche zu beobachten, die öffentliche Meinung zu steuern; siehe dazu etwa Sonja Schultheiß-Heinz, Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 2004; Manfred Schort, Politik und Propaganda. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Flugschriften, Frankfurt a.M. 2006. Trotz dieser notwendigen Korrektur bleiben im Vergleich zu Frankreich deutliche Unterschiede festzustellen.
So mit Blick auf die Entwicklung in Preußen ab 1806 Paul Czygan, Zur Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskriege, 2 Bde., Leipzig 1909–1911, Bd. I, S. 7.
GStA Merseburg, Rep. 9 F 2 a l, Fase. 22, Bl. lff. zit. nach Andrea Hofmeister-Hunger, Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg (1792–1822), Göttingen 1994, S. 166.
Johannes von Müller, Von dem Krieg an die Preußen 1805, zit. nach Matthias Pape, Johannes von Müller. Seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793–1806, Bern und Stuttgart 1989, S. 239.
Karl Wagner, Die Wiener Zeitungen und Zeitschriften der 1808 und 1809, Wien 1914, S. 40.
Nach dem Sieg der Engländer bei Trafalgar wies er die französische Redaktion an, für einen raschen Friedensschluss Stimmung zu machen. Vgl. Johann W. Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn, Bd. II.1, Wien 1914, S. 856.
Vgl. Helmut Hammer, Österreichs Propaganda zum Feldzug 1809. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Propaganda, München 1935, S. 33.
Wolfgang Piereth, Propaganda im 19. Jahrhundert. Die Anfänge aktiver staatlicher Pressepolitik in Deutschland (1800–1871). In: Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–1989, hg. von Ute Daniel und Wolfram Siemann, Frankfurt a.M. 1994, S. 21–43, hier S. 24.
Nach Weiss’ Einschätzung ist Kleists Politisierung in seiner Dresdner Zeit nicht zuletzt auf den Einfluss von Buol und Gentz zurückzuführen; vgl. Hermann F. Weiss, Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, Tübingen 1984, S. 196f.
Friedrich von Gentz, Brief an Metternich vom 4. November 1810. In: Briefe von und an Friedrich von Gentz, hg. von Friedrich Carl Wittichen und Ernst Salzer, Bd. 3, Teil 1, München u. Berlin 1919, S. 79–82, hier S. 82.
Adam Müller, Brief an den Finanzrat Stägemann vom 21. August 1809. In: Adam Müllers Lebenszeugnisse, hg. von Jakob Baxa, München, Paderborn und Wien 1966, S. 482–484, hier S. 483.
Aus Müllers Gegensatzphilosphie erklärt diese Konzeption Benedikt Köhler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980, S. 120.
Siehe dazu mit Beleg bei Johann Michael Moscherosch: Ingo Stöckmann, Deutsche Aufrichtigkeit. Rhetorik, Nation und politische Inklusion im 17. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 373–398.
Ein 1809 für die Rückkehr des preußischen Königs nach Berlin geschriebenes Gedicht spielt darauf an, dass Friedrich Wilhelm III. es 1806 abgelehnt hatte, die Franzosen vor Ablauf eines Ultimatums anzugreifen, was Napoleon die Zeit gab, seine Truppen für die Entscheidungsschlacht zu sammeln; vgl. Samuel, Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewegungen (wie Anm. 10), S. 194. Der Dichter versteht es, seinem König nach den Regeln des Herrscherlobs vorzuhalten, dass die Niederlage auf dem Schlachtfeld seiner Wahrheitsliebe geschuldet ist: »Die schönste Tugend, (laß mich’s kühn dir sagen!) / Hat mit dem Glück des Krieges dich entzweit: / Du brauchtest Wahrheit weniger zu lieben, / Und Sieger wärst du auf dem Schlachtfeld blieben« (DKV III, 437). Deutlicher rechtfertigt ein Epigramm von 1810 die Täuschung des Feindes als ›Notwehr‹: »Wahrheit gegen den Feind? Vergib mir! Ich lege zuweilen / Seine Bind um den Hals, um in sein Lager zu gehn« (DKV III, 445). Martin Dönike hat ausgehend von diesem Distichon Kleists Praktiken der Täuschungs- und Verstellungskunst in den ›Berliner Abendblättern‹ behandelt; siehe Martin Dönike, »… durch List und den ganzen Inbegriff jener Künste, die die Notwehr dem Schwachen in die Hände gibt«. Zur Gedankenfigur der Notwehr bei Kleist. In: KJb 1999, S. 53–66.
Vgl. dazu Gesa von Essen, Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 183–194.
Vgl. Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, S. 25–31.
Vgl. Adam Soboczynski, Moralistik [Art.]. In: Kleist-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart und Weimar 2009, S. 260–262, hier S. 261.
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Twellmann, M. (2010). Was das Volk Nicht Weiss …. In: Blamberger, G., Breuer, I., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2010. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00563-2_12
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