Skip to main content

Adel der Tat

Genealogie und Evidenz

  • Chapter
Kleist-Jahrbuch 2008/09
  • 229 Accesses

Zusammenfassung

»Da ist keiner, sagte er, der nicht ein schönes Werk schrieb, oder eine große Tat beging« (SW9 II, 656). In dem Zitat, Kleists Brief vom 3. Juni 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge entnommen, erinnert Kleist die Worte Johann Wilhelm Ludwig Gleims, seiner Auskunft nach »eine[r] der berührendsten und interessantesten Greise, die ich kenne« (SW9 II, 665). In Gleims Halberstädter Wohnhaus war Kleist auf einer Reise zu Gast, die er kurz entschlossen gemeinsam mit seiner Schwester Ulrike angetreten hatte. Angesichts des ›Freundschaftsaltars‹ Gleims, der Porträts von Freunden und Künstlern einer sich gerade ihrem Ende zuneigenden Epoche versammelt, scheint Gleim das Kriterium zur Sprache gebracht zu haben, welches zur Aufnahme in »sein Kabinett, geschmückt mit Bildern seiner Freunde« (SW9 II, 665), befähigt.1 Dadurch besitzt die Situation einen geradezu emblematischen Charakter; sie verbindet durch die Aufzählung von »schöne[m] Werk« und »große[r] Tat« zwei jener Phantasmen, die die semantische Schleuse des Übergangs von der ›Zeitlichkeit‹ zur ›Ewigkeit‹ — den zwei Polen jeder heilsgeschichtlichen Ordnung2 — bilden. Indem sich der Name jenseits der bloßen Referenz auf seinen Träger mit der semantischen Qualität auflädt, Synonym einer historischen Formation und überhistorischer Werte zu sein, gewinnt er den Nimbus der Zeitlosigkeit.3 Der anzitierte Brief und das darin erzählte Zusammentreffen enthält in nuce die ideengeschichtlichen Konstellationen, in denen Kleists Versuch aufzufassen ist, die Grenze zwischen den beiden Polen der Zeitordnung zu überschreiten.

Gnädiger Herr — als ich

Vorbeiging an dem Bilde, riß es mich

Gewaltsam zu sich nieder. —

Heinrich von Kleist,

Die Familie Schroffenstein, 1802

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Notizen

  1. Vgl. Ute Pott (Hg.), Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, Göttingen 2004 (Schriften des Gleim Hauses Halberstadt; 3).

    Google Scholar 

  2. Allgemein zur kulturellen Verbindung von Sinnkonzepten und Zeitstrukturen: Klaus E. Müller und Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997; weiterführend: Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München und Wien 2000.

    Google Scholar 

  3. Einen ersten Überblick zu diesem Komplex bietet Matthias Waltz, Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne. Rousseau, Proust, Sartre, Frankfurt a.M. 1993.

    Google Scholar 

  4. Die Biographen Kleists sind aufgrund der entsprechenden Briefe Kleists immer wieder auf diesen Punkt eingegangen; ein Problembewusstsein für die Schwierigkeit identifikatorischer Brieflektüren entwickelten sie dabei in sehr unterschiedlichem Maß. Vgl. zuletzt dazu Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2007, hierzu besonders S. 212–240.

    Google Scholar 

  5. Wichtige Anregungen zum Problem der Adligkeit bei Kleist finden sich in Jochen Strobels Studie: Adel auf dem Prüfstand. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: KJb 2005, S. 216–232.

    Google Scholar 

  6. Vgl. Friedhelm Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel adeliger Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchischen Zentralstaat, Berlin 1993. Zum Konnex von Ehrbegriff und Militär um 1800

    Google Scholar 

  7. vgl. auch Ute Frevert, Men of Honour. A Social and Cultural History of the Duel, ins Englische von Anthony Williams, Cambridge 1995, S. 36–84.

    Google Scholar 

  8. Zur Bedeutung Napoleons für die Geschichte der deutschen Literatur vgl. die materialreiche Studie von Barbara Beßlich, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945, Darmstadt 2007.

    Google Scholar 

  9. Vgl. Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, Stuttgart 1988; Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 22003.

    Google Scholar 

  10. Vgl. weiterführend: Tanja Reinlein, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003.

    Google Scholar 

  11. Zu einer Verortung Kleists innerhalb der sprachkritischen Tradition vgl. Dieter Heimböckel, Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, Göttingen 2003.

    Google Scholar 

  12. Zum Diskurs der Intensität im 18. Jahrhundert vgl. die erhellende Studie Erich Kleinschmidts, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004.

    Google Scholar 

  13. Das konstruktive Moment in der Gestaltung der Geschlechter in der ›Penthesilea‹ untersucht Joachim Pfeiffer in einem inspirierenden Aufsatz, der indes nur am Rand auf die sprachlichen Voraussetzungen dieser Konstruktion eingeht und deswegen zugunsten vermeintlich dekonstruktiver Elemente die binäre Gestaltung metaphorisch erzeugter Kippfiguren verfehlt: Joachim Pfeiffer, Die Konstruktion der Geschlechter in Kleists ›Penthesilea‹. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001 (Stiftung für Romantikforschung; XII), S. 187–198. Vgl. zur Bildlichkeit des Dramas auch Alexander Honold, Die Sonne steigt, der Apfel fällt. Bewegte Körper und ihre Bahnen auf Kleists astronomischem Theater. In: KJb 2005, S. 79–91.

    Google Scholar 

  14. Es ist exakt dieser Effekt, den Roland Barthes in der Konzeptualisierung dessen im Auge hatte, was er den Realismus der Moderne nennt: Roland Barthes, L’effet de réel. In: Littérature et réalité, Paris 1982, S. 81–90.

    Google Scholar 

  15. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (1938). In: Ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 61980, S. 73–110, hier S. 82f. Es geht mir hier nur um dieses Moment der Verfügbarkeit; für eine philosophiehistorische Diskussion der Ästhetik Heideggers vgl. Otto Pögeler, Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger, Freiburg i.Br. 1984; zu Heideggers Perspektivierung der Dichtung Hölderlins vgl. nach wie vor Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger, Zürich, Freiburg i.Br. 1956.

    Google Scholar 

  16. Vgl. Ulrich van Loyen und Michael Neumann (Hg.), »Unveralteter Sinn«. Figuren des Rückzugs, Berlin 2004, S. 7–12.

    Google Scholar 

  17. Vgl. die Überblicksdarstellungen entsprechender Theorien und Modelle: Dietrich Harth und Gerrit Jasper Schenk (Hg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004.

    Google Scholar 

  18. Man kann in dieser radikalen Konsequenz Kleists die Rückseite des Auseinandertretens von Religion und Politik sehen, die Paul de Man im Falle Rousseaus dazu veranlasst, auf den Doppelsinn des ›Versprechens‹ abzuheben, um Notwendigkeit und Leere des versprechenden Sprechakts in seiner allegorischen Komplexität zum Movens von Geschichte zu erklären: Paul de Man, Versprechen (Gesellschaftsvertrag). In: Manfred Schneider (Hg), Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt, München 2005, S. 137–170, hier S. 170.

    Google Scholar 

  19. Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. In: Ders., Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übersetzt und hg. von Kurt Weigand, Hamburg 1995 (Philosophische Bibliothek; 243), S. 173–177.

    Google Scholar 

  20. Zu Kleists Rousseau-Lektüren und den entsprechenden Implikationen vgl. Walburga Hülk, Natur und Fremdheit bei Rousseau und Kleist. In: KJb 2000, S. 33–45;

    Google Scholar 

  21. Marcel Krings, Naturunschuld und Rechtsgesellschaft. Kleists romantische Rousseau-Modifikationen. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 37 (2005), H. 1, S. 13–27.

    Article  Google Scholar 

  22. Zur Genese der entsprechenden Konzepte in der mittelalterlichen Literatur vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.

    Google Scholar 

  23. Vgl. weiterführend: Daniel Fulda, ›Der Wahrheit Schleier aus der Hand der Dichtung. Textilmetaphern als Vehikel und Reflexionsmedium ästhetisch-wissenschaftlicher Interferenzen um 1800. In: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, hg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann und Gerhard Wolf, München 2005, S. 165–184.

    Google Scholar 

  24. Michel Foucault, Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck u.a., Leipzig 1993, S. 34–46.

    Google Scholar 

  25. Christoph Jamme und Helmut Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 1984, S. 11–14, hier S. 12ff.

    Google Scholar 

  26. Vgl. aus kulturwissenschaftlicher Sicht dazu die Aufsatzsammlung Sigrid Weigels, die es indes versäumt, trotz ihres umfassenden Anspruchs die Koevolution von Generation und Degeneration hinreichend zu berücksichtigen: Sigrid Weigel (Hg), Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006; in konsequent wissenschaftshistorischer Sicht zu diesem Problem: Helmut Müller-Sievers, Über Zeugungskraft. Biologische, philosophische und sprachliche Generativität. In: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt, Berlin 1997, S. 145–164.

    Google Scholar 

  27. Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie. In: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 252–273.

    Google Scholar 

  28. Friedrich Hölderlin, Hyperion. In: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp, Bd. 1, München 1992, S. 637.

    Google Scholar 

  29. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 175.

    Google Scholar 

  30. Zur Genese vgl. Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005;

    Google Scholar 

  31. in vergleichender Perspektive: Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994;

    Google Scholar 

  32. Benedict Anderson, Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991; Ernest Gellner, Nationalism, London 1997.

    Google Scholar 

  33. Vgl. dazu Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, S. 97–108;

    Google Scholar 

  34. sowie weiterhin Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973, hierzu besonders S. 109.

    Google Scholar 

  35. Hermann Krings, Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, Hamburg 1982, S. 2. Als Gegenbild der ›Ordnung‹ benennt Krings das ›Chaos‹, dem seit Platon die Konnotation des ›Bösen‹ eignet und das seit Aristoteles sukzessive in der formlosen Materie selbst figuriert.

    Google Scholar 

  36. Vgl. ferner: Maria Moog-Grünewald und Bernhard Greiner (Hg), Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2001.

    Google Scholar 

  37. Aus diesem Verhältnis resultiert auch die Erfahrung von Beschleunigung in der Geschichte: Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2003.

    Google Scholar 

  38. Zu Kleists ›Spiel mit der Wahrscheinlichkeit‹ vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 418–438, hier besonders S. 437f.

    Google Scholar 

  39. Vgl. dazu Michael Neumann, ›Und sehn ob uns der Zufall etwas beut‹. Kleists Kasuistik der Ermächtigung im Drama ›Die Herrmannsschlacht‹. In: KJb 2006, S. 137–156.

    Google Scholar 

  40. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, Berlin 1971, S. 257–516, hier S. 358.

    Google Scholar 

  41. Seine Empfehlung trifft damit ein Moment, das Stephan Malinowski im zwanzigsten Jahrhundert als sozialhistorische Signatur des Adels beschrieben hat: Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004.

    Google Scholar 

  42. Adam Heinrich Müller, Dritte Vorlesung über Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der preußischen Monarchie, Berlin 1810, S. 13. Zu Müller vgl. auch die Untersuchungen Ethel Matala de Mazzas, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der politischen Romantik, Freiburg i.Br. 1999, S. 265–339.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Günter Blamberger Ingo Breuer Sabine Doering Klaus Müller-Salget

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2009 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Neumann, M. (2009). Adel der Tat. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2008/09. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00361-4_24

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00361-4_24

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-02280-6

  • Online ISBN: 978-3-476-00361-4

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics