Zusammenfassung
In einem Brief an Max Brod vom Januar 1918 benutzt Kafka den Ausdruck westjüdische Zeit (B 223). Er sucht damit die menschliche Situation und die Bewußtseinslage zu kennzeichnen, in der sich die deutschsprachigen Juden, insbesondere die Juden Prags, während eines kurzen Zeitraums der Kultur- und Sozialgeschichte Mitteleuropas, nämlich in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, befunden haben. Dieser Ausdruck westjüdische Zeit ist die einzige geschichtliche Kategorie, die Kafka bewußt angewendet hat. Sie dient ihm hauptsächlich dazu, sein Selbstverständnis als Schriftsteller zu veranschaulichen, und gibt vielleicht die einzig mögliche Legitimation für seinen Anspruch ab, die „ganze Negativität der eigenen Zeit“ zu repräsentieren, wie es in einem bekannten Abschnitt der Zürauer Oktavhefte heißt (H 121). Das erinnert an einen Brief an Milena Jesenská aus dem Jahre 1920, in dem Kafka schreibt:
Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen mir Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts — ich weiß nicht, ob sie das tut — müßte ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen. Nun habe ich aber zu allen diesen Verpflichtungen nicht die geringste Kraft, ich kann nicht die Welt auf meinen Schultern tragen, ich ertrage dort kaum meinen Winterrock (M 294).
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Baioni, G. (1994). Prag und der Kulturzionismus Martin Bubers. In: Kafka — Literatur und Judentum. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00019-4_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00019-4_1
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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