Zusammenfassung
Als Anfang April 1947 in Moskau die Außenminister der vier Besatzungsmächte über die Zukunft Deutschlands stritten, erreichte den amerikanischen Außenminister Marshall ein Telegramm seiner Militärregierung, dessen Inhalt nicht gerade geeignet schien, die westliche Verhandlungsposition gegenüber der Sowjetunion zu stärken. In ihm war von den ersten Massendemonstrationen und Streiks der westdeutschen Bevölkerung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Rede. U.a. wurde berichtet:
„Current unrest in Ruhr politically significant because demonstrations represent first mass protest against food shortages which have in fact existed for many months... Unless conditions improve it is our opinion that these strikes and demonstrations will tend to become more frequent and will spread to other parts of the British and the U.S. Zones. Although present situation appears to have developed as a spontaneous protest against conditions it could be easily exploited by organized groups in order to embarrass German authorities and Military Government as well...“1
Marshall wie sein britischer Amtskollege Ernest Bevin zeigten sich bestürzt, befürchteten sie doch, daß die Sowjets politisches Kapital aus diesen Protesten schlagen könnten. Damit war — im Frühjahr 1947 — auch den höchstverantwortlichen westalliierten Politikern das Kerndilemma ihrer Deutschland- und Besatzungspolitik vor Augen geführt worden: Der Versorgungsgrad der Bevölkerung, insbesondere in den städtischen Ballungsgebieten, hatte sich seit dem Frühjahr 1946 auf dem „niedrigsten Stand seit Menschengedenken“ 2 eingependelt; der Hunger schien bei einer Zuteilung von z.T. wenig mehr als 1.000 kcal. an die städtischen Zentren — insgesamt eine Halbierung des Vorkriegsniveaus — zum deutschen Dauerschicksal geworden zu sein.
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Literatur
Foreign Relations of the United States, Diplomatic Papers. 1945–1948,Washington 1967, 1947, Band II, S.1145.
Hoover-Bericht, Februar 1947; zitiert nach: Rudi Schmiede, Das deutsche „Wirtschaftswunder“ 1945–1965, in: Bernhard Blanke u.a. (Hg.), Die Linke im Rechtsstaat, Band I, Berlin 1976, S.117. Zur westdeutschen Hungerkrise nach 1945 vgl. die Studie des Verfassers: Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Emährungsknse in der Bi-zone (1945–1949), Frankfurt a.M. 1990.
Vgl. dazu Christoph Kleßmann/Peter Friedemann, Streiks und Hungermarsche im Ruhrgebiet 1946–1948 Frankfurt a.M. 1977.
Dazu Gerhard Beier, Der Demonstrations-und Generalstreik vom 12.November 1948 im Zusammenhang der parlamentarischen Entwicklung Westdeutschlands,Frankfurt a.M. 1968.
Entschließung des bizonalen Gewerkschaftsrates, 20.1. 1948 (DGB-Archiv, Düsseldorf, GR-Protokolle, 1947–1949 ).
Memorandum vom 24.2.1948 (Public Record Office, London, FO 943/472).
Heinrich Volkmann, Kategorien des sozialen Protestes, in: Geschichte und Gesellschaft,3/1977, S.167. Zu modifizieren wäre für das 20.Jahrhundert das Kriterium der „Gesetzesverletzung“ als Mittel. Während die Mehrheit der führenden deutschen Politiker die Proteste mehr oder weniger offen billigte, z.T. auch unterstützte, bewerteten sie die Militärregierungen offiziell wohl auch als „unrest“, dem sie zunächst mit Androhung militärischer Machtmittel entgegenzutreten versuchten, die sie schließlich aber tolerierten, letztlich überwiegend auch als im Kern berechtigt akzeptierten; dies um so mehr, als sich der Massenprotest zur Durchsetzung der von ihnen vorgetragenen politischen Lösungsvorschläge bizonaler Probleme gegenüber den Regierungen in London und Washington instrumentalisieren ließ.
Entschließung der Düsseldorfer Betriebsrätekonferenz, 8.1.1948 (HStA Düsseldorf, NW 124, Nr.148, fol.325).
Vgl. Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948,Stuttgart 1975, S.35 ff.
Erklärung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, April 1947 (SOPADE,4/1947, S.32).
Schumacher, in: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 29.6.- 2.7.1947 in Numberg Hamburg 1947, S.42.
Böckler, Große Gewerkschaftskonferenz Nordrhein-Westfalen, Februar 1948; in: Der BUND, Nr.4 v.14.2.1948 ( DGB-Archiv, Akte Ernährungspolitik 1948 II ).
Beispiele für sozialdemokratische und kommunistische Einschätzungen an der „Basis“ vor allem bei H.Grebing u.a. (Hg.), Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945–1949,Stuttgart 1983.
Erklärung des NRW-Ernährungsministers Lübke vor dem Landtag (Stenographische. Berichte über die 2.Sitzung des Landtages von Nordrhein-Westfalen, 20.5.1947, S35).
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Trittel, G.J. (1994). Hungerkrise und kollektiver Protest in Westdeutschland (1945–1949). In: Gailus, M., Volkmann, H. (eds) Der Kampf um das tägliche Brot. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99757-9_19
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-99757-9_19
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-12560-2
Online ISBN: 978-3-322-99757-9
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