Zusammenfassung
Die Zeit zwischen dem ausgehenden 18. und dem frühen 20. Jahrhundert war eine Schlüsselperiode für die Herausbildung der modernen Medizin. Zum einen befanden sich die Handlungsgrundlagen der Ärzteschaft im Umbruch: Krankheitskonzepte und Behandlungsweisen, die sich zum Teil bis in die Antike zurückverfolgen lassen, wurden durch ein zunehmend komplexeres Expertenwissen ersetzt, das aus der Forschung in Kliniken und Laboratorien hervorging. Zum anderen konnte sich die medizinische Profession als zentrale Instanz der Krankenversorgung etablieren: die Verdrängung bzw. Unterordnung konkurrierender Heilberufe (z.B. Wundärzte, Bader, Hebammen), die quantitative Expansion und der soziale Prestigegewinn der Ärzteschaft, das Entstehen neuer Institutionen wie des Krankenhauses und des Kassenarztes — all dies trug dazu bei, daß immer größere Bevölkerungskreise im Krankheitsfall eine medizinische Versorgung in Anspruch nahmen.1
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Literatur
Vgl. hierzu die Arbeiten zur Sozialgeschichte der Medizin. Zur deutschen Entwicklung insbesondere Frevert 1984; Huerkamp 1985; Göckenjan 1985; Drees 1988; Loetz 1993.
Eine anthropologische Perspektive auf Krankheit und Medizin wird heute vor allem im Bereich der amerikanischen “medical anthropology” verfolgt (vgl. Kleinman 1980; Chrisman/Maretzki 1982; Lindenbaum/Lock 1993). Interaktionistische und ethnomethologische Ansätze liegen seit den siebziger Jahren vielen qualitativen Arbeiten zur Medizinsoziologie zugrunde (vgl. Dingwall 1976; Freidson 1979). Zur Relevanz dieser Ansätze für die historische Forschung vgl. auch Lachmund/Stollberg 1992.
Wir folgen hier der an Wittgenstein orientierten Sichtweise der „symbolischen Anthropologie“, dergemäß die „Bedeutung” eines symbolischen Ausdrucks (Geste, Diskurs etc.) sich aus ihrer praktischen Funktion, dem „Gebrauch“, innerhalb einer kulturellen Lebensform ergibt (Geertz 1987; für Krankheitsbegriffe vgl. auch schon Good/Good 1977).
Bislang wurde diese meist sehr allgemein anhand weniger für die moderne Arzt-Patient Beziehung als charakteristisch angesehender abstrakter Rollenerwartungen gekennzeichnet: vgl. z.B. Huerkamp (1985), die sich eng an Parsons (1958) anlehnt. Die konkreten Probleme und das situative Mangement der Arzt-Patient Beziehung blieben dabei jedoch außer acht.
In ihrer Studie über medizinische und literarische Phantasien um 1800 ist Wöbkemeier (1990) auf die literarischen Formen der Hypochonderkomödie und der Autobiographie ausführlich eingegangen. Ihrer These (S. 5 ff.), daß mit der Entwicklung der Medizin zur Naturwissenschaft narrative Strukturen aus diesem Bereich ausgegrenzt wurden, ist jedoch entgegenzuhalten, daß medizinische Fallgeschichten narrativer Bestandteil des medizinischen Diskurses waren und blieben.
So wurden Probleme wie die individuelle Identitätsbildung (Orth-Peine 1990), die Geschichte der Kindheit (Hardach-Pinke/Hardach 1978) oder die Arbeiterkultur (Emmerich 1974) in historisch-soziologischen Arbeiten auf der Grundlage von Autobiographien untersucht.
Klassische bürgerliche Autobiographien bilden die Hauptquelle des ersten Teils dieses Buches. Sie sind durch die sinngebende Konstruktion einer Ich-Identität im Lebenslauf charakterisiert. Im deutschen autobiographischen Genre waren seit den Anfängen des Pietismus zu Ende des 17. Jahrhunderts Gattungstypen entwickelt worden, die von der religiösen über die säkularisierte Berufsautobiographie insbesondere der Gelehrten bis zur abenteuerlichen Lebensgeschichte reichten. Im 18. Jahrhundert wurden diese Gattungstypen weiter entfaltet (vgl. Niggl 1977; Groppe 1990). Auch die Arbeiterautographien (vgl. Emmerich 1974; Bergmann 1991), deren Zahl ab 1880 zunimmt, sind von den Charakteristika der bürgerlichen Literaturgattung geprägt, wenngleich die Handwerker und Arbeiter neue Themen aus ihrer alltäglichen Lebenswelt einbrachten, z.B. Armut, Handwerkerstolz und Sozialismus (Bergmann 1991, 81 ).
So betont Chartier z.B., daß es sich bei dem Text Contats nicht um eine Autobiographie im engeren Sinne handele; der Autor gebe dem Text einen halb fiktiven Charakter und benutze nicht die Ich-Form.
Zu den historischen Voraussetzungen der textuellen Repräsentation der Krankheit und des Körpers in medizinischen und literarischen Diskurses unseres Untersuchungszeitraums vgl. etwa die anregende Studie von Laqueur (1989).
Zum Problem des „Referenzirrtums“ hinsichtlich historischer Texte und zur Kritik einer entsprechend „skeptischen” Position vgl. Ginzburg (1992).
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Lachmund, J., Stollberg, G. (1995). Einleitung. In: Patientenwelten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99735-7_2
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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Online ISBN: 978-3-322-99735-7
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