Zusammenfassung
An dieser Stelle aus Platos Dialog Meno, die wir hier in gekürzter Fassung bringen, untersucht Sokrates die Frage, ob Tugend Erkenntnis ist. Ebenso wie in einem früheren Dialog Platos, dem Protagoras, wo die gleiche Frage behandelt wird, ist Sokrates’ Antwort kein klares „Ja“ oder „Nein“. Er kann auch zu keiner endgültigen Antwort kommen, weil er die Worte „Erkenntnis“ und „lehren“ nicht eindeutig gebraucht. Sokrates besteht immer darauf, daß er niemals lehrt, sondern einem Menschen nur hilft, die Wahrheit durch die eigenen Augen zu sehen. Seine Methode besteht darin, Fragen zu stellen, und der Schüler lernt, weil die Fragen seine Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Punkte richten, so daß er die wahre Antwort findet, indem er sich auf die wichtigen Tatsachen konzentriert und daraus seine Schlüsse zieht. Von dieser Art ist z. B. das Lernen in der Geometrie; die Einsicht in die Wahrheit der geometrischen Beziehungen, die für einen Beweis benutzt werden, bleibt immer dem Schüler überlassen, und der Lehrer kann ihn nur dazu anleiten, solche Einsicht zu vollziehen. Aber wenn der Schüler als Folge dieser sogenannten dialektischen Methode „lernt“, dann kann man wohl sagen, daß die Person, die ihn zum Lernen veranlaßt, „lehrt“. Wenn Sokrates nämlich seine seltsame Ausdrucksweise auf die Geometrie ausdehnen und leugnen würde, daß sie lehrbar sei (was er manchmal tut), dann folgte daraus, daß die Geometrie nicht Erkenntnis ist (einen Schluß, den er nicht zieht). Es erscheint daher berechtigt, Sokrates’ Ansicht dahin zu interpretieren, daß Tugend eine Form der Erkenntnis ist im gleichen Sinne, wie die Geometrie eine Form der Erkenntnis genannt werden kann.
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© 1968 Friedr. Vieweg & Sohn GmbH, Braunschweig
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Reichenbach, H. (1968). Die Suche nach Ethischen Leitsätzen und der Kognitiv-Ethische Parallelismus. In: Der Aufstieg der Wissenschaftlichen Philosophie. Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie, vol 1. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98770-9_4
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