Zusammenfassung
Vielleicht beginnt die komplizierte Geschichte zwischen der Dekonstruktion und der Politik am 12. Mai 1968. Mit diesem Datum — einen Tag nach der Pariser Nacht der Barrikaden und einen Tag nach dem Beginn der Utopie — signiert Jacques Derrrida (1988: 119ff.) einen Text, den er einige Monate später in New York als Vortrag hält: Der Titel lautet „Les fins de l’homme“. Derrida, 1930 als Sohn jüdischer Eltern in Algerien geboren, ab 1960 an der Sorbonne in Paris lehrend und spätestens seit den 1970er Jahren einer der bedeutendsten französischen Philosophen25, beschäftigt sich hier u.a. mit dem Problem der Verbindung zwischen der metaphysischen Tradition der Philosophie und der Politik. Jene stellt die Frage nach dem Wesen des Menschen und der Humanität sowie der politischen Form der Gesellschaft, insbesondere der Demokratie. Beide sind miteinander verschlungen, indem sie versuchen, dem Menschen als zoon politikon einen Sinn zu geben, der wiederum das Endziel der Politik wäre. Das Ende des Menschen als Erreichen seiner gegebenen Bestimmung wäre die Vollendung des Politischen als Ende der Politik. Statt nun einfach den metaphysischen Kern dieser Konzeption hervorzuheben und sich davon ein für allemal zu verabschieden und die Metaphysik für beendet zu erklären, fragt Derrida nach der Paradoxie dieses Unternehmens und schlußfolgert, daß nur die Unmöglichkeit einer endgültigen Beantwortung der Frage nach dem (Zweck, Ziel, Ende des) Menschen die Möglichkeit bereithält, diese Frage überhaupt zu stellen. Nur wenn wir nicht schon wissen, wer wir sind, was unsere Bestimmung ist, können wir uns nach uns befragen und können Politik machen. Das Antworten der Politik auf die Frage nach dem Wir wäre abhängig von einer prinzipiellen Unbeantwortbarkeit dieser Frage als Frage.
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Literatur
a. verwendete Literatur
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Bonacker, Thorsten (1998): Die Zweideutigkeit der Demokratie. Zur Macht-und Herrschaftsproblematik bei Jürgen Habermas und Jean-François Lyotard. S. 199–219 in: Peter Imbusch (Hg.): Macht und Herrschaft. Opladen.
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Derrida Jacques (1985): Racism’s Last Word. Critical Inquiry 12, 290–299.
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Derrida Jacques (1987): Die Bewunderung Nelson Mandelas oder Die Gesetze der Reflexion. S. 11–45 in ders. u.a. (Hg.): Für Nelson Mandela. Reinbek.
Derrida Jacques (1988): Randgänge der Philosophie. Wien.
Derrida Jacques (1988a): Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Paul de Mans Krieg. Mémoires II. Wien.
Derrida Jacques (1988b): Mémoires. Für Paul de Man. Wien.
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Derrida Jacques (1993): Aporias. Stanford.
Derrida Jacques (1995): Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M.
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Derrida Jacques (1997a): Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs. S. 15–41 in: Anselm Haverkamp (Hg.): Die Sprache der Anderen. Frankfurt a.M.
Derrida Jacques (1997b): Aufzeichnungen eines Blinden. München.
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Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hg.) (1997): Einsätze des Denkens. Zur Phi-
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Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M.
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Menke, Christoph (1994): Für eine Politik der Dekonstruktion. S. 279–287 in Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.
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b. kommentierte Literatur
Derrida, Jacques (1980): Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens. Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Textanalytik. o.O. S. 64–69
Hier setzt sich Derrida mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten auseinander und weist nach, daß sie wie jede Gründungserklärung einer politischen oder sozialen Institution auf paradoxen Voraussetzungen beruht.
Derrida Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt a.M.
Derrida liest den von Walter Benjamin 1921 geschriebenen Text „Zur Kritik der Gewalt“ und zeigt am Beispiel dieser Lektüre und der vorangestellten Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit wie die Dekonstruktion auf dem Gebiet der Rechtstheorie entwickelt werden kann.
Derrida, Jacques (1997): Politics of Friendship. London:
In dem Buch, das zu den wichtigsten Derridas gehört, geht er den Verbindungen zwischen Freundschaft und Politik beziehungsweise Demokratie nach und zeigt, daß die klassischen Konzepte der Demokratie immer auch bestimmte phallozentrische und familiale Vorstellungen von Freundschaft und Brüderlichkeit beinhalteten. In diesem Kontext setzt sich Derrida mit Autoren wie Schmitt, Blanchot, Nietzsche, Plato und Montaigne auseinander, die alle den von Aristoteles stammenden Ausruf „Oh meine Freunde, es gibt keine Freunde“ zitiert und interpretiert haben.
Beardsworth, Richard (1996): Derrida & the Political. London
Das Buch eignet sich hervorragend für eine komplexe Einführung in das Werk Derridas mit dem Schwerpunkt auf der Frage nach den politischen Implikationen und den im Werk verstreuten Analysen des Politischen. Die Rekonstruktion verläuft über die unterschiedlichen Lektüreetappen Derridas: von Saussure über Kafka, Kant, Hegel, Heidegger zu Levinas.
Bennington, Geoffrey (1995): Legislations: The Politics of Deconstruction. London
Es handelt sich um eine Aufsatzsammlung, in der es entweder um Rekonstruktionen einzelner Aspekte des Werkes von Derrida geht oder aber — in der Hauptsache — um Lektüren im Anschluß an Derrida, die sich mit politiktheoretischen Fragen wie der Konstitution der Nation oder des Staates beschäftigen.
Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques (1994): Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt a.M.
Das Buch enthält eigentlich zwei Bücher: eine als eine Art Hypertext geschriebene Einführung in das Denken Derridas, in der auch die Probleme der Politik, der Institution und des Gesetzes behandelt werden, und ein sehr persönlicher Text Derridas: die Zirkumfession, die jeweils das untere Drittel des Buches bildet.
Critchley, Simon (1992): The Ethics of Deconstruction. Derrida & Levinas. Oxford (dt. Teilübersetzung in dem Sammelband von Gondek/Waldenfels)
Critchley untersucht das Verhältnis von Derrida zum Denken von Emmanuel Levinas, um so zu den ethischen Impulsen der Dekonstruktion zu kommen, die hauptsächlich auf die Rezeption des Werkes von Levinas durch Derrida herrühren.
Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hg.) (1997): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Frankfurt a.M.
Der Sammelband bezieht sich vor allem auf die Arbeiten Derridas nach der „performativen Wende“ und ist der erste seiner Art in Deutschland. Es finden sich hier sehr genaue und gewissenhafte Rekonstruktionen zum Problem der Gabe, des Gesetzes, der Ethik, der Zeit und der Schrift. Von Derrida selbst ist sein Vortrag anläßlich seiner thèse de doctorat d’État von 1980 abgedruckt.
Haverkamp, Anselm (Hg.) (1994): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin. Frankfurt a.M.
Cornell, Drucilla/Rosenfeld, Michael/Carlson, D. (Hrsg) (1992): Deconstruction and the Possibility of Justice. New York
Die Sammelbände enthalten Texte eines Colloquiums der New Yorker Cardozo Law School, jeweils ergänzt um einige weitere den Kontext überschreitende Aufsätze. Es geht dabei um Derridas Benjamin-Lektüre, um die Möglichkeiten einer Dekonstruktion des Rechts und der Gerechtigkeit sowie um eine Politik der Dekonstruktion. Im deutschen Band ist ein Beitrag von Derrida („Den Tod geben”) abgedruckt.
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Bonacker, T. (1999). Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida. In: Brodocz, A., Schaal, G.S. (eds) Politische Theorien der Gegenwart. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97432-7_5
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