Zusammenfassung
Die Beiträge zu diesem Band beschäftigen sich bei aller Unterschiedlichkeit ihrer historischen Bezüge, ihres thematischen und analytischen Zugriffs mit Problemlagen, die die Herausbildung oder die Folgen von kollektiven Identitäten betreffen. Unter dem Titel »Gebrochene Identitäten« wird über Diskurse und Diskussionen reflektiert, die implizit voraussetzen oder es auch explizit zum Thema machen, daß die Entwicklung und Veränderung gesellschaftlicher Systeme und Handlungszusammenhänge als Ergebnis kollektiver Lern- und Selbstdefinitionsprozesse verstanden werden können.
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Literatur
Zu den Diskussionslinien über den Identitätsbegriff in den Sozialwissenschaften: Peter Wagner, Fest-Stellungen, Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt 1998, S. 44–72.
Vgl. dazu Werner Gepharts Beitrag in diesem Band. W. Gephart, Das Gedächtnis und das Heilige, a.a.O. insb. S. 29ff.
Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 528.
Die »wirkliche« oder »echte« Identität erscheint dann als eine Art »Kollektivpersön-lichkeit«. Diese Begriffsverwendung ist, wie Reinhard Kreckel treffend bemerkt, selbst »ideologisierend«, da sie mit empirisch fragwürdigen Typisierungen und Verallgemeinerungen arbeiten muß und allzu leicht instrumentalisiert werden kann. Vgl. dazu: Reinhard Kreckel, Soziale Integration und nationale Identität, in: Berliner Journal für Soziologie 4, 1994, S. 13–20. Will man den reifizierenden Gebrauch des Begriffs »kollektive Identität« vermeiden, muß man sich von Subjektvorstellungen lösen und auf den Umstand der sozialen Konstruiertheit und der intersubjektiven Geltung dieser Konstrukte abstellen. Dazu braucht man keine Kollektivpsychologie,sondern eine Analyse von Kommunikations- und Institutionalisierungsprozessen. Eine instruktive Analyse des Unterschieds zwischen personaler und kollektiver Identität bietet: Jürgen Straub, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: A. Assmann und H. Friese ( Hrsg. ), Identitäten, a.a.O., S. 73–104.
Vgl. dazu Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1993; T. Blank, P. Schmidt, Verletzte oder verletzende Nation? Empirische Befunde zum Stolz auf Deutschland, in: Journal für Sozialforschung, 33, 1993, S. 391–415; Peter Mohler, H. Götze, Worauf sind die Deutschen stolz. Eine vergleichende Analyse zur gefühlsmäßigen Bindung an das politische System der Bundesrepublik, in: Peter Mohler u.a. (Hrsg.), Blickpunkt Gesellschaft 2, Opladen 1992, S. 45–63.
Die Realismusannahme bedeutet keinesfalls, daß kollektive Identitäten als ontologi sche Größen betrachtet werden müssen und dann als Fiktion eines methodologischen Kollektivismus ad acta gelegt werden können. Gleichwohl ist die »Naturalisierung« von kollektiven Identitäten ein empirisch-historischer Prozeß, der das Welt- und Selbstverständnis von (kollektiven) Akteuren kennzeichnet. Die Wirklichkeit kollektiver Identitäten liegt nicht in dem Nachweis, daß die Selbstbeschreibungen nach den Kriterien eines wissenschaftlichen Beobachters wahrheitsfähig sind, sondern darin, daß Menschen diese Realität unterstellen oder sich an deren sozialer Geltung orientieren. Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt 1996.
Der Verweis auf den »inneren« und »äußeren« Bezug von kollektiven Identitäten soll darauf aufmerksam machen, daß die symbolischen Grenzziehungen auch von denen anerkannt werden müssen, die als Nichtmitglieder gelten. Insoweit sind Identitätsdarstellungen immer auf Offentlichkeiten bezogen, die nicht durch das Referenzsystem bestimmt sind. Differenzen zwischen Selbst- und Fremdbild sind damit vorprogrammiert und werden dann im Referenzsystem als Imageproblem gehandelt.
Bei James Coleman bezeichnet der Begriff »soziales Kapital« die Bereitschaft zur sozialen Kooperation in Gruppen oder Organisationen, um bestimmte, als wünschenswert erachtete Kollektivgüter zu erlangen. Vgl. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge 1990, insb. S. 300–321. Zum Zusammenhang zwischen den Konzepten »Sozialkapital« und Vertrauen vgl. die systematische Darstellung der Diskussion bei: Tanja Ripperger, Ökonomik des Vertrauens, Tübingen 1998, insb. S. 165ff.
Ernest Renan hat dazu ebenso treffend wie sarkastisch zu nationalen Vorstellungen bemerkt: »Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, daß alle Individuen vieles miteinander gemein haben; aber auch, daß alle manche Dinge vergessen haben.« Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am l 1. März 1882 an der Sorbonne, Hamburg 1996, S. 15.
Gerade die Diskussion um sinnstiftende, strategische und handlungswirksame Funktionalität von »starken« Organisationskulturen macht deutlich, daß auch durchrationalisierte Systeme eine Vielzahl von Mythen, Legenden und Ideologien hervorbringen, deren Funktionalität in der Reduktion von Ungewißheit und der Erzeugung eines positiven Handlungsklimas gesehen wird. Dieses »Managementwissen« funktioniert vermutlich nur so lange wie der Glaube an die Steuerbarkeit der Kommunikation selbst entzogen wird: Rationale Managementtheorien haben keine Antwort auf die Frage, was passiert, wenn bekannt wird, daß Manager es für rational halten, Wirgefühle und Glaubensbereitschaften zu erzeugen. Ein Überblick über die betriebswirtschaftliche Diskussion bietet: Klaus Macharzina, Unternehmensführung, Wiesbaden 1995, insb. S. 209–217; Edgar H. Schein, Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte, Frankfurt 1995. Die reflexiven Aspekte organisatorischen Wissens und Gestaltens betont: Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt 1995.
Das hat recht handfeste theoretische und empirische Konsequenzen. Theoretisch markiert dies eine Grenze von Analysestrategien, die gesellschaftliche Probleme primär als Folge des Auseinanderdriftens von systemischen Eigenlogiken verstehen. Die Koppelung von Funktionssystemen wird nicht nur über spezifische Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht, sondern auch über Öffentlichkeiten hergestellt. Öffentliche Präsenz und Darstellung unterliegt zwar eigenen Regeln, stellt aber für sich kein geschlossenes System dar, sondern ein Netzwerk für mögliche Kommunikation. Empirisch gewendet heißt das: Wer auf ein gutes Image Wert legt und Öffentlichkeitsarbeit als gut fürs Geschäft oder die Politik einschätzt, muß sich den Bedingungen und Zuweisungsregeln von Aufmerksamkeit und Achtung bzw. Mißachtung unterwerfen, unabhängig davon, ob intrinsische Erfolgserwartungen enttäuscht oder bestätigt werden. Die Existenzgrundlage professioneller Öffentlichkeitsarbeit ist die Ungewißheit ihrer Wirksamkeit, aber die gewisse Erwartung, daß es ohne sie auch nicht geht.
Die empirische Plausibilität dieser These ist im Kontext der Diskussion um Vor-und Nachteile starker Unternehmenskulturen und der Lernfähigkeit von Organisationen geläufig. Dieser Gedanke läßt sich durchaus auf politische Systeme oder Gesellschaften als ganzes beziehen. Vgl. dazu vor allem den Beitrag in diesem Band von: Moshe Zuckermann, Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung im heutigen Israel, S. 47ff.
Vgl. dazu in diesem Band: Werner Gephart, Vorbemerkung S. 7f.
Vgl. dazu z.B.: Francis Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen, München 1995; ders., Trust: Social Virtues and the Creation of Prosperty, New York 1996. Zu den Chancen und Risiken einer »europäische[n] Sozialpolitik«: Norbert Bertholt, Sozialpolitik, in: Paul Klemmer (Hrsg.), Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik, München 1998, S. 947–999.
Vgl. »Die Zeit«, Nr. 2 vom 7. Januar 1999 S. 49. Der Fernsehjournalist Wolfgang Herles konnte die englischen Imageexperten zu diesem Entwurf überreden. Die Ergebnisse präsentierte er dann im Rahmen seines dreiteiligen Fernsehbeitrags »Total Global«. Wolff-Ohlins Konzept wurde am 10. Januar 1999 im ZDF vorgestellt.
In der politischen Soziologie beschäftigt man sich seit langem mit den Folgen und Funktion symbolischer Politik. Vgl. dazu die klassische Arbeit von Murray Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt 1976. In den Wirtschaftswissenschaften wird seit langem über den Wandel von dem Produktwettbewerb zum Kommunikationswettbewerb nachgedacht, in dessen Folge nicht nur Werbung, sondern auch Öffentlichkeitsarbeit und die symbolische Arbeit an einer »Corporate Identity« zu einer eigenständigen und strategisch wichtigen Managementaufgabe werden. Vgl. dazu: James E. Grunig (Hrsg.), Excellence in Public Relations and Communication Management, London 1992; Horst Avenarius, Public Relations. Die Grundformen der gesellschaftlichen Kommunikation, Darmstadt 1995.
Zum Begriff der Identitätsinflation: Vgl. Richard Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Der schwierige Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt 1998, S. 319ff.
Das Konzept einer nationalen Identität ist von einem Staatsbegriff zu unterscheiden. Letzterer meint die effektive Ausübung von legaler, administrativer und im Zweifel gewaltsamer Kontrolle von Aktivitäten und Ressourcen innerhalb eines Territoriums. Nationale Identitäten sind stets multidimensional angelegt. Smith nennt fünf Kriterien nationaler Identität, die empirisch in unterschiedlicher Kombination und Ausprägung miteinander verknüpft werden: (1) ein historisch gewachsenes Territorium, (2) gemeinsame Mythen und geschichtliche Erinnerungen, (3) eine gemeinsame öffentliche Kultur, (4) Definition von Handlungsrechten und Pflichten für alle Mitglieder und (5) eine gemeinsame Wirtschaft mit einer territorialen Mobilität für die Mitglieder. Vgl. Anthony D. Smith, National Identity, London 1993, S. 14.
Dies gilt nicht nur für die positive Erinnerung an große Gestalten, gelungene Revolutionen und militärische Erfolge, die Anlaß für Feste, Gedenktage und nationale Mythen bilden, sondern für Ereignisse kollektiver Schmach, die sich als Mahnung und Vermeidungsgrund in das kollektive Gedächtnis eingraben sollen. Dabei geht es nicht einfach nur um ein Abspeichern von Wissen, sondern um normativ erwartetes Erinnern, Wiedererkennen und Vergessen.
So würdigt Jürgen Habermas gerade die »Impulse zum Nachdenken über den richtigen öffentlichen Gebrauch der Historie«, die Daniel Goldhagen mit seinem Buch zum Holocaust gegeben habe. Damit haften Historiker nicht nur für den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern auch für die Qualität der kollektiven Lernprozesse, die aus belastenden Erinnerungen für das kollektive Selbstverständnis der Nachkommen ergeben können. Vgl. Jürgen Habermas, Die Geschichte ist ein Teil von uns. Über den öffentlichen Gebrauch der Historie. Die Laudatio für Goldhagen wurde abgedruckt in der Wochenzeitschrift »Die Zeit«, Nr. 12, vom 14. 3. 97.
Zu den soziologischen Implikationen der Goldhagen-These vgl. den Beitrag in diesem Band: Karl-Heinz Saurwein, Antisemitismus als nationales Identitätsprojekt, S. 61–96
Vgl. in diesem Band: Moshe Zuckermann, Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung im heutigen Israel, S. 47–60
Vgl. in diesem Band: Werner Gephart, Das Gedächtnis und das Heilige. Zur identitätsstiftenden Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust für die Gesellschaft der Bundesrepublik, S. 29–46.
Bei der Verleugnung geht es bekanntlich darum, daß eine Person eine bedrohliche Situationen und die Erinnerung an damit verbundene Ereignisse und Verantwortlichkeiten auslöscht.
Vgl. in diesem Band: Tilman Hanckel, Das neue Südafrika — »Regenbogen« oder Apartheid-Nostalgie?, S. 97–116.
Es sollte in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß das Apartheitssystem weniger den Bedürfnissen kapitalistischer Unternehmen entsprach als vielmehr dem Bündnis aus Gewerkschaften und Grundbesitzern. Der Schutz »weißer Arbeit« vor dem Wettbewerb, die Absicherung von Privilegien und die Aneignung von Land und Eigentumsrechten standen hier im Vordergrund.
Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen, München 1996, S. 513f; S. 524f.
Vgl. S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen, a.a.O., S. 118ff.
Vgl. S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen, a.a.O., S. 193ff.
Vgl. dazu die wohltuend nüchterne Analyse von Erich Weede, der die Diskussion um den Kampf der Kulturen vor dem Hintergrund der Globalisierungsdiskussion beleuchtet. Erich Weede, Machtverschiebungen, Kampf der Kulturen und Globalisierung, in: Internationale Politik, 12, 1997, S. 10–20.
Vgl. den Beitrag in diesem Band: Benedikt Giesing, Kulturelle Identitäten als strategischer Kompaß? Soziologische Anmerkungen zu S.P. Huntingtons »Clash of Civilizations, S. 117–141.
Vgl. den Beitrag in diesem Band: Werner Gephart, Zur sozialen Konstruktion euro- päischer Identität. Symbolische Defizite und europäische Realitäten, S. 143–168.
Dies wird am Beispiel des vielkritisierten Protektionismus und der damit verbundenen Bürokratisierung deutlich. Es gibt kaum jemanden (einschließlich der Begünstigten), der nicht darüber klagt — aber es gibt ebensowenig Ansätze dazu, diesen nachhaltig abzubauen und damit die Bildung von Verteilungskoalitionen zu erschweren. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß sich die Opposition gegenüber Maßnahmen zum Subventionsabbau leichter organisieren läßt und Politiker der einzelnen Mitgliedsländer Anreize haben, für unpopuläre Maßnahmen die Schuldigen in Brüssel zu suchen.
Vgl. Daniel Cohen, Fehldiagnose Globalisierung, Frankfurt 1998, S. 117f.
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Saurwein, KH. (1999). Einleitung: Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Realität der Konstruktion. In: Gephart, W., Saurwein, KH. (eds) Gebrochene Identitäten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97415-0_2
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