Zusammenfassung
Empirische Unterrichtsanalysen, die sich auf Videoaufzeichnungen, Transkripte und Unterrichtsprotokolle von Politikunterricht stützen, verweisen darauf, daß
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es sich um „unpolitischen Politik- und Gesellschaftskundeunterricht“1 handele,
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daß diesem Unterricht „Gegenstand und Auftrag“2 fehle,
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daß das Methodenrepertoire sich auf einen „Methodenmonismus“3 reduziere,
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daß vielfach Rateunterricht praktiziert werde,
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daß die Schüler „politischer“ seien als ihre Lehrer,
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daß im Unterricht vielfach Chancen verpaßt werden, da die Angebote, indirekten Fragen und Widersprüche der Schüler nicht thematisiert würden.
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Literatur
Vgl. Tilman Grammes/Hans-Werner Kuhn, Unpolitischer Politikunterricht? Versuch einer qualitativen fachdidaktischen Analyse, in: Gegenwartskunde, Heft 4, 1988, S. 490–501;
> vgl. Tilman Grammes, Unpolitischer Gesellschaftskundeunterricht? Anregungen zur Verknüpfung von Lebenskundeunterricht und Politik, Schwalbach 1991.
Vgl. Wolfgang Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts I, 2. Aufl., Opladen 1976, S. 239. Hilligen hat mehr als 700 Politikstunden protokolliert; sein Ergebnis: Es wurden mehrere Fragen miteinander verquickt, ehe eine geklärt war; es wurde den Schülern keine Zeit gelassen; es herrschte ein kurzatmiges Frage- und Antwortgeklapper, weil Gegenstand und Auftrag fehlten.
Klaus Hageu.a., Das Methodenrepertoire von Lehrern. Eine Untersuchung zum Schulalltag der Sekundarstufe I, Opladen 1985, S. 147.
Wolfgang Hilligen spricht in einem aktuellen Literaturbericht zur Unterrichtsforschung im Politikunterricht, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, Heft 3, 1993,S. 125–134, von „nicht sehr vielen tragfähigen Ergebnissen“ (S. 132), die qualitativ orientierte Unterrichtsforschung bislang vorlegen könnte. S. 125–134, von „nicht sehr vielen tragfähigen Ergebnissen“ (S. 132), die qualitativ orientierte Unterrichtsforschung bislang vorlegen könnte.
Georg Weißeno, Politikdidaktik als Fachleiterdidaktik: Rezeption und Verwendung politikdidaktischen Wissens in der Ausbildung von Referendaren, in: Gegenwartskunde, Heft 2, 1993, S. 191–201. Zusammenfassend stellt er fest: Die von den Fachseminarleitern „genannten Kriterien sind .. angelehnt an Modelle der allgemeinen Didaktik (...). Es sind keine originär fachdidaktischen Kriterien wie politischmoralische Urteilsfindung, Konfliktanalyse, soziale Perspektivenübernahme etc.“ (S. 199).
Vgl. Uwe Hoppenworth, Der Unterrichtsbesuch. Implizite Unterrichtstheorien von Ausbildern und Auszubildenden in der Zweiten Phase der Lehrerausbildung, Frankfurt/M. 1993; in dieser Dissertation wird das Dilemma von gleichzeitiger Beratungsund Bewertungssituation beim Unterrichtsbesuch herausgearbeitet; vgl. zur inneren Problematik der Zweiten Phase auch: Lutz Carsten Gecks, Sozialisationsphase Referendariat — objektive Strukturen und ihr psychischer Preis, Frankfurt/M. 1990.
Diese Einschätzung verweist auch auf Defizite in der fachdidaktischen Ausbildung an den Universitäten, verkennt aber nicht die unterschiedliche Art der „Bewährung“ in den beiden Phasen der Lehrerausbildung. Die zweite Phase läßt sich auch als Prozeß begreifen, in dessen Verlauf nach und nach die Kriterien zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden können.
Dabei muß die unterschiedliche Verwendungsperspektive in den verschiedenen Ausbildungs- und Berufskontexten ausgeblendet werden; sie variieren deutlich zwischen Studierenden, Referendaren, Fachlehrern, Fachseminarleitern und Didaktikern.
Einige Indizien: zum einen das große Interesse an den beiden Fachtagungen der Bundeszentrale für politische Bildung (dokumentiert in: Erfahrungsorientierte Methoden in der politischen Bildung, Bonn 1988, und Methoden der politischen Bildung — Handlungsorientierung, Bonn 1991), zum zweiten finden sich durchgängig Hinweise auf handlungsorientierten Unterricht und Projekte in allen Rahmenplänen der fünf neuen Bundesländer, zum dritten fordern Erlasse (Methodenerlaß Nordrhein-Westfalen 1988, Richtlinien Politik/Wirtschaft, Klasse 9/10 NW 1992) verstärkt die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Methoden und sozialtechnischer Fertigkeiten; zum vierten orientieren sich aktuelle Schulbuchprojekte (Diesterweg, Klett, Schroedel) an einer engeren Verzahnung von Themen und handlungsorientierten Methoden.
Vgl. als „Autoritätsbeweis“: das neue Buch von Hermann Giesecke, Politische Bildung. Didaktik und Methodik für Schule und Jugendarbeit, München 1993; hier heißt es u.a.: „Nur ein politischer Unterricht, der wirklich das Politische im Blick hat, also die Strukturen und Organe des politischen Systems einerseits, die auf Machtgewinn und Durchsetzung gerichteten Interessen andererseits, hat eine eigene Daseinsberechtigung.“ (S. 48) Und: „Die didaktische Perspektive fragt nach der grundsätzlichen Lehr- und Lernbarkeit der Sache Politik im Hinblick auf eine bestimmte Gruppe von Lernenden, — z.B. Schüler“ (S. 158).
Vgl. Planung und Transkript einer Unterrichtsstunde zur gleichen Thematik in einer 9. Klasse einer Gesamtschule in Berlin-Pankow (unveröffentliches Arbeitspapier, Berlin 1992).
Kritiker sehe ich von zwei Seiten herannahen: Die einen (vgl. dazu den Beitrag von Karin Lück) werden die Trennung von Politik und Privatem/Sozialem negieren. Die anderen kommen mit dem Einwand, man müsse die Entwicklung der Jugendlichen sehen, nicht bloß die Einzelstunde, man müsse die politische Sozialisation berücksichtigen; letztlich würden auch bei lebenskundlichem Unterricht und bei sozialem Lernen wichtige politische Verhaltensweisen und Einstellungen ausgebildet. Überhaupt sei die begriffliche Trennung für die Praxis völlig unerheblich, da wir — postmodern — in einer Zeit der (neuen) Unübersichtlichkeit lebten, in der Strukturen (Begriffe, Kategorien) immer mehr verschwämmen. Dennoch.
Ich gehe nicht auf die naheliegende Frage ein: Welche Kriterien muß Unterricht erfüllen, um als politisch bezeichnet zu werden? Diese Frage richtet sich auf latente und manifeste Wirkungen von Schule, auf den heimlichen Lehrplan, auf die politische Sozialisation in der Institution Schule.
Wolfgang Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts, 4. völlig neubearb. Auflage, Opladen 1985, S. 204.
Peter Massing/Werner Skuhr, Die Sachanalyse als Schlüssel für den politischen Unterricht, in: Gegenwartskunde, Heft 2, 1993, S. 246.
Ähnlich argumentiert Klaus Rothe in: Unterricht und Didaktik der politischen Bildung in der Bundesrepublik. Aktueller Stand und Perspektiven, Opladen 1989, S. 1011. Der Begriff von Politik als Entscheidungsprozeß mit den wesentlichen Momenten der Zukunftsbezogenheit, der Verteilung von Gütern und der Wirksamkeit gesellschaftlicher Prozesse bildet ein hinreichend konkretes Kriterium für die Frage, ob in einem bestimmten Unterricht Politik selbst vorkommt und unter den Zielen der politischen Bildung zum zentralen Thema gemacht wird, oder ob dort nur unter anderem auch einzelne abstrakte Prinzipien, die in der konkreten Politik wirklich sind oder wirklich sein sollen, auf eine von der gegenwärtigen Politik losgelöste Weise angesprochen werden.
Wer sich z.B. beim Thema „Asyl“ auf Vorurteile seiner Schüler konzentriert, wird nicht gleichzeitig prägende Elemente des politischen Systems vermitteln können.
In den Lehrerfortbildungen mit Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern konnten wir die Erfahrung machen, daß die Unterrichtsplanung — zum Politikfeld „Asyl“ oder „Paragraph 218“ — vielfach auf Lebenshilfe oder soziales Lernen abzielt; beides dürfte aber im konkreten Unterricht wesentlich schwieriger und in seiner Wirkung durchaus ambivalenter sein als politisches Lernen.
In einem Interview zur letzten Folge einer populären Talkshow nennt der Moderator die dramaturgischen Mittel: polarisierendes Thema, polarisierte Gäste, polarisiertes Saalpublikum, dazwischen der Moderator, der die Schlachtreihen aufeinander treibt. Auf die Frage nach dem Realitätsgehalt der Talkshow (künstliches Fernsehprodukt oder Abbild alltäglichen deutschen Streitverhaltens?) stellt er fest: „Es ist mit Sicherheit ein Fernsehprodukt. Da ist diese Kulisse, diese Arena-Situation. Der Streit, der ausgetragen wurde, ist allerdings in aller Regel echt gewesen. Die Situation aber taugte eher für die Bühne als für die private oder berufliche Auseinandersetzung. Meine Idee war immer, den Streit nicht nur zu polarisieren, sondern auch präzise herauszuschälen. Wir alle tendieren ja eher dazu, den Konsens auch dort zu suchen, wo er überhaupt nicht besteht, eher harmoniesüchtig uns zu verhalten, weil die wenigsten in der Lage sind, Streit auszuhalten. Streiten das ist eine schwere Aufgabe. Noch schwerer ist es, Konflikte nicht nur zu suchen, sondern sie dann auch konstruktiv beizulegen. (vgl. Tagesspiegel-Interview mit Ulrich Meyer, vom 27.12. 1994).
Ist es Zufall, daß viele Politikstunden mit dem Satz des Lehrers/der Lehrerin beginnen : „Heute wollen wir uns einmal über das Thema X unterhalten“.
Vgl. grundlegend Ralf Dahrendorf, Homo sociologicus, Köln/Opladen 1959.
Hilbert Meyer, Unterrichts-Methoden, Bd. 2, Praxisband, Frankfurt/M. 1986, S. 358.
Vgl. Hermann Giesecke, Methodik des politischen Unterrichts, München 1973, S. 75.
ebda. S. 82.
Hilbert Meyer, a.a.O., S. 366.
Ein Beispiel für diesen „Wissensvorrat“ stellt die Diskussion zur Frage: „Wann beginnt Leben?“ dar.
Bernhard Koring hat in seiner Studie ein extensives Verfahren praktiziert, das Wortfür-Wort-, Satz-für-Satz-Interpretationen vornimmt, das ein Lesartenprotokoll erstellt und vier Schichten der hermeneutischen Interpetation unterscheidet; vgl. Bernhard Koring, Eine Theorie pädagogischen Handelns. Theoretische und empirischhermeneutische Untersuchungen zur Professionalisierung der Pädagogik, Weinheim 1989.
Erste Versuche einer gemeinsamen Interpretation von Fachlehrer/in und Didaktiker/in („Tandem“) bzw. von Fachlehrer, Schülern und Didaktikern liegen vor in: Tilman Grammes/Georg Weißeno (Hrsg.), Sozialkundestunden. Politikdidaktische Auswertungen von Unterrichtsprotokollen, Opladen 1993, und Walter GagellTilman Grammes/Andreas Unger (Hrsg.), Politikdidaktik praktisch. Ein Videobuch, Schwalbach 1992.
Vgl. zur Kritik Karin Lücks Beitrag in diesem Band; sie hält bei geschlechtsspezifischen Fragestellungen die Einbeziehung von Gestik, Mimik und Körpersprache für unerläßlich.
Christine Lutter-Link/Sibylle Reinhardt, „Export einer Chemiefabrik“ — Schüler/innen diskutieren eine moralische Frage, in: Grammes/Weißeno, a.a.O., S. 42–45.
Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart 1978, 2. Aufl., Stuttgart 1994.
Vgl. Peter Massing, Politisches System, politische Willensbildung, Innenpolitik, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg,), Lernfeld Politik, Bonn 1992, S. 69–94, bes. S. 88–91; Massing/Skuhr, a.a.O., S. 263–267.
Eine begrifflich-quantitative Analyse, mit welchen der in der Fachdidaktik entwikkelten Kategorien die Schüler arbeiten, erscheint wenig aussagekräftig.
Neben inhaltlichen und methodischen Schwierigkeiten stellt sich auch das Problem, wie Dokumentation und Interpretation angemessen in Buchform dargestellt werden können. Nebeneinander? Mit Marginalien? Ein japanischer Kollege, Masami Mabota von der Universität in Nagoya, versucht, die Theorie Jerome Bruners in 132 Faktoren aufzuschlüsseln und konkreten Unterricht damit „abzubilden“. Immer erzeugt die Darstellung eine Verfremdung des tatsächlichen Unterrichts, die Auswirkungen auf die Rezeption hat. Hier sind Experimente mit der Darstellungsmodalität gefragt, ebenso wie methodische Arrangements für Ausbildungs- und Fortbildungskurse.
Im Zusammenhang mit unterschiedlichen Betroffenheiten möchte ich zwei Aspekte erwähnen, die zwar am Rande zu liegen scheinen, die aber wirken: Kleidung und Namen. Zwei Namen fallen auf. Frau Verhüter, Frauenbund, und Herr Streng, CDU/CSU-Vertreter. Sind diese Namen schon ein Stück Selbst-Ironie, eine Form der Distanzierung bzw umgekehrt des Hineingedrängtwerdens in eine Rolle, die man eigentlich nicht „spielen“ möchte? Es ist m.E. kein Zufall, ob und welche Ulknamen angenommen oder abgelehnt werden. Die Position in der Klasse, das Selbstbild, der Gruppenzwang, die Lust an der Provokation können hierfür Gründe sein. Ähnlich bei der Kleidung: der bereits vor dieser Stunde auserwählte CDU/CSU-Vertreter zog sich vor Beginn der Stunde Krawatte, weißes Hemd und Jacke an. Auch hier scheint Ironie durch, weniger Identifikation mit der Politiker-Rolle.
Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1976: Bei der Auslegung des Art. 2 Abs.2 Satz 1 GG ist auszugehen von seinem Wortlaut: „Jeder hat das Recht auf Leben ...“ Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis vom 14. Tage nach der Empfängnis an. Vgl. Christine Landfried, Die Urteile zur Reform des Paragraphen 218 StGB von 1976 und 1988, in: Gegenwartskunde, Heft 3, 1988, S. 333–344, hier: S. 336.
Der Schüler läßt sich quasi ein Hintertürchen offen, wenn er „im Prinzip“ sagt, denn es könnte auch Gegenbeispiele geben
Unter politikdidaktischen Überlegungen kann angemerkt werden, daß das Ausschöpfen des gesellschaftlich vorhandenen Spektrums bei Jugendlichen oft über die im Bundestag vertretenen Positionen hinausgeht. Hier dürfen keine Denkverbote errichtet werden, keine Position ist tabu. Sie muß sich artikulieren können. Vgl. Sibylle Reinhardt, Kontroverses Denken, Überwältigungsverbot und Lehrerrolle, in: Walter Gagel/Dieter Menne (Hrsg.), Politikunterricht. Handbuch zu den Richtlinien NRW, Opladen 1988, S. 65–73. Hinzu kommt folgendes: Es erscheint zweifelhaft, ob die kontroverse Anlage der Unterrichtsstunde nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Schwangerschaftsabbruch vom 28. Mai 1993 überhaupt noch möglich ist. Hier heißt es: „Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat schließlich auch, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtsein zu erhalten und zu bel ben. Deshalb müssen die Organe des Staates in Bund und Ländern erkennbar für den Schutz des Lebens eintreten. Das betrifft auch und gerade die Lehrpläne der Schulen.“ Juristenzeitung, Sonderausgabe: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch vom 28. Mai 1993, S. 19. Wird hier der Beutelsbacher Konsens („Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen.“) aufgehoben? Dieser Aspekt der Urteilsbegründung wird bislang kaum thematisiert.
Im PRO-Text heißt es (Dresdener Ärztin): Ärzte können nur im Einzelfall einen Schwangerschaftsabbruch verweigern. Bei mir ist das einmal vorgenommen. Wenn zum Beispiel eine Frau zu mir kommt, die schon mehrere Abbrüche hinter sich hat und immer noch nicht verantwortungsbewußter mit sich und ihrem Körper umgeht, dann würde ich den Eingriff verweigern. Sonst würde ich die Frau entscheiden lassen. — Aus dem CONTRA-Text (Cottbusser Arzt): Abtreibung war für viele Frauen wie der Gang zum Friseur. Es ist kriminell, die interuptio als Verhütungsmittel zu mißbrauchen. Das kam bei uns viel zu oft vor.(...)
Die für die Talkshow wichtige Moderatorenrolle hat Analogien zur Lehrerrolle; vgl. Sibylle Reinhardt, a.a.O.; hier entwickelt Sibylle Reinhardt eine Typologie der Lehrerrolle in verschiedenen Unterrichtssituationen.
Es besteht eine Analogie zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Das Gewissen wird vom BVerG als diejenige Instanz betrachtet, nach deren Geboten der einzelne bindend und unbedingt verpflichtend handeln muß. Eine Gewissensentscheidung kann daher auch nicht als „irrig“, „falsch“ oder „richtig“ bewertet werden.
Dem politischen Gegner verfassungswidrige Vorstellungen zu unterstellen, scheint ein beliebtes Argument in der Auseinandersetzung zu sein; vgl. Hans Schulte: Verstehen Sie das Grundgesetz? in: Gegenwartskunde, Heft 2, 1993, 149–164; hier wird die Auslegbarkeit des Grundgesetzes ebenso betont wie die Notwendigkeit von politischen Regelungen bei Konflikten zwischen mehreren Grundrechten bzw. Rechtsgütern (Abwägen).
Legt man die Dimensionen des Politischen zugrunde, dann dominiert hier die polityEbene mit wenigen Grundnormen (GG, Menschenwürde). Innerhalb dieses Rahmens erscheinen Veränderungen kaum möglich. Die spätere Entscheidung des Zweiten Senats — fünf Monate nach dieser Unterrichtsstunde — scheint dies zu bestätigen. — Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die beiden Merkmale — abstrakte Orientierung am Gemeinwohl, Fixierung auf vermeintlich starre Rechtsnormen — nicht typisch sind für ein „unpolitisches“, da verkürztes Politikverständnis von Schülerinnen und Schülern.
In der Fortsetzung dieser Unterrichtsstunde bieten sich mindestens zwei Alternativen an: zum einen können die angedeuteten Vorstellungen zum Sozialstaat aufgegriffen und weiterentwickelt werden; zum zweiten ließe sich die Legitimationsfrage ins Zentrum stellen. Von der polity-Ebene, den Regelungen innerhalb des politischen Systems ausgehend, könnten Defizite und Kritikpunkte behandelt werden. Vgl. dazu die in der Reihe „Kontrovers“ der Bundeszentrale für politische Bildung erschienene Broschüre von Wolfgang Beywl, Soziale Sicherung, Bonn 1994, die das Thema systematisch und problembezogen behandelt und sich daher als Unterrichtsmaterial besonders eignet.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob durch den wiederholten Gang nach Karlsruhe (AWACS-Entscheidung, Somalia-Einsatz, Paragraph 218) Gesetzgebungskompetenzen vom Parlament zur Judikative verlagert werden, also das Bundesverfassungsgericht tendenziell in die Rolle des „Ersatzgesetzgebers“ gerät.
Jürgen Habermas u.a., Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten, 3. Aufl., Neuwied 1969.
Vgl. Josef Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., Berlin 1950.
Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek 1989.
Vgl. zur näheren Erläuterung dieser Kategorien den Beitrag von Peter Massing in diesem Band, sowie den Abschnitt 3 dieses Beitrages.
Geschlechtstypische Unterschiede müssen sich nicht generell als abstraktes Denken bei Jungen und konkretes Denken bei Mädchen zeigen, sondern Ergebnisse von Nunner-Winkler lassen vermuten, daß beiden Geschlechtern beide Formen der Argumentation zur Verfügung stehen. So fühlten sich Mädchen stärker von einem Dilemma zur Abtreibung als von einem zur Kriegsdienstverweigerung betroffen und vice versa. Vgl. Gisela Nunner-Winkler (Hrsg.), Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, Frankfurt/M. 1991; im vorliegenden Fall blockiert aber gerade die Verzahnung von Inhalt und Methode die Darstellung von „Betroffenheit“.
Diese Differenz betonen Schüler/innen in der erwähnten Stunde in der Sekundarstufe I; vgl. Anm. 11 (unveröffentliches Transkript)
„Alle drei — die institutionelle Form als polity, der normative Inhalt als policy und der prozessuale Verlauf als Politics — machen zusammen das aus, was man als Politik bezeichnen kann. Politik ist also kein bestimmter Raum in der Gesellschaft, sondern Politik ist ein dreifaches Prinzip, das institutionell, normativ und prozessual bestimmt wird. Es ist nicht alles politisch in der Gesellschaft; aber fast alles kann politisch relevant werden, wenn es mit einem drei drei Prinzipien verbunden werden kann.“ Ulrich von Alemann, Politikbegriffe, in: Wolfgang W. Mickel/Dietrich Zitzlaff (Hrsg.), Handbuch zur politischen Bildung, Bonn 1988, S. 538.
Nicht zufällig wird man mit 14 strafmündig.
Vgl. hier das Themenheft „Interesse“ der Zeitschrift Politische Bildung, Heft 2, 1993, das fachwissenschaftliche und fachdidaktische Beiträge zu dieser Grundkategorie enthält.
Lutter-Link/Reinhardt, a.a.O., 1993, S. 43.
Motto der Gewerkschaftsjugend, vgl. Gudrun Linne/Wolfgang Pedull (Hrsg.), Jugend: Arbeit und Interessenvertretung in Europa, Opladen 1993, S. 204.
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Kuhn, HW. (1995). Politischer oder unpolitischer Unterricht?. In: Massing, P., Weißeno, G. (eds) Politik als Kern der politischen Bildung. Schriften zur politischen Didaktik, vol 24. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97299-6_6
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