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Identitäts(er)findung

Literarische Entwürfe lesbischer Adoleszenz

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Inszenierungen von Weiblichkeit

Zusammenfassung

Bei allem gebotenen Vorbehalt gegenüber den Erklärungsmodellen Sigmund Freuds gerade im Hinblick auf Weiblichkeit und weibliche (Homo-)Sexualität kann diese Stelle aus seinem Aufsatz Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Honwsexualität von 1920 geradezu als exemplarische Beschreibung der Situation einer heranwachsenden jungen Frau in unserer Kultur gelten, die — in Freuds schamhafter Umschreibung — „zärtliche“, das heißt in diesem Kontext vor allem auch erotische Gefühle für eine andere Frau empfindet. Schon die Personenkonstellation ist charakteristisch: Die junge Frau steht zwischen ihren Eltern einerseits und ihrer Geliebten andererseits. Anders als eine Erwachsene kann die Heranwachsende ihre Neigungen, Wünsche und ihr Begehren nicht allein entdecken, sondern sie ist der Kontrolle durch ihre Eltern unterworfen, die unter Umständen urteilen, eingreifen und sanktionieren, noch bevor die betroffene junge Frau sich selbst eine Meinung bilden oder gar etwas leben kann. Die junge Frau erlebt sich also unter Umständen erst in der Konfrontation mit ihrer Familie als „anders“. Die Familie vertritt dominante gesellschaftliche Normen und jene Erwartungen, die in aller Selbstverständlichkeit an das Mädchen gestellt werden und an denen es gemessen wird. Eine Definition von dem, was das Mädchen sein sollte, ist vorgegeben, und das, was es wirklich „ist“, läßt sich nur als Abweichung von dieser gesellschaftlichen Norm, die man in Anlehnung an Adrienne Rich kurz und polemisch als „Zwangsheterosexualität“2 bezeichnen könnte, beschreiben und erleben. Auffallend ist in Freuds Fallgeschichte, daß das Mädchen selbst keinerlei unmittelbares Empfinden für seine Abweichung artikuliert Ihm scheint es selbstverständlich, so zu sein und zu empfinden, wie es nun einmal ist und empfindet. Erst die negative Reaktion der Eltern, deren Ärger und Sorge, lösen bei ihm das Gefühl des Anders-seins aus. Haben die Eltern einerseits ein klares Bild von dem, was das Mädchen sein sollte (es sollte sich nahtlos in das als natürlich angesehene binäre, sexuelle und ökonomische Schema der patriarchalen Gesellschaft einfügen und sich dadurch als „richtige“ Frau erweisen), so haben sie doch ein nicht minder klares Bild von dem, was es nicht sein sollte: Es sollte seine „zärtliche Schwärmerei“ für eine andere Frau, die ihm als jungem Mädchen unter Umständen noch zugestanden wird3, in keinem Fall in die sexuelle Liebe einer Erwachsenen zu einer anderen Frau übergehen lassen (die Grenzen zwischen den verschiedenen Gefühlen erscheinen fließend). Eine Frau darf nicht andere Frauen lieben, denn das löst den „Argwohn und die Strenge des Vaters“ (wieso nicht der Mutter?) aus. Argwohn und Strenge aber finden wenige Punkte, an denen sie einhaken könnten, um das Mädchen eines Besseren zu belehren: hat es doch seit jeher Frauen den Männern vorgezogen, was nichts anderes bedeutet, als daß es einer „angeborenen“ Neigung folgt und keineswegs bösen Willens ist. Höchstens durch eine ärztliche Behandlung, also einen regelrechten Eingriff von außen, könnte diese Neigung in etwas anderes umgewandelt werden; jedenfalls hoffen das die Eltern. Und so stellen sie dem Arzt „die Aufgabe, ihre Tochter zur Norm zurückzubringen“.4 Dem Arzt — um die Geschichte Freuds weiter zu erzählen — gelingt das aber nicht. Zwar bescheinigt er dem Mädchen den guten Willen, seinen Eltern keinen Kummer zu machen; deshalb komme sie auch zur Behandlung, aber sie wolle keineswegs „von ihrer Homosexualität befreit“ werden, da sie sich „keine andere Verliebtheit vorstellen“ könne.5 Der Arzt, der kraft seines Geschlechts, seines Alters und seiner Position der Autorität eigentlich auf seiten des Vaters steht, muß im Grunde entgegen seinen eigenen väterlichen Interessen der Tochter recht geben: Das Mädchen sei ja gar nicht krank, wie könne man es da heilen? Das einzige, was er erreichen könne, wäre, „eine Variante der genitalen Sexualorganisation in die andere zu überführen“.6 Und selbst das sei fast unmöglich, denn der Erfolg einer Behandlung von Homosexualität bestehe bestenfalls darin,

daß man der homosexuell eingeengten Person den bis dahin versperrten Weg zum anderen Geschlechte frei machen konnte, also ihre volle bisexuelle Funktion wiederherstellte. Es lag dann in ihrem Belieben, ob sie den anderen, von der Gesellschaft geächteten Weg veröden lassen wollte, und in einzelnen Fällen hat sie es auch so getan. Man muß sich sagen, daß auch die normale Sexualität auf einer Einschränkung der Objektwahl beruht, und im allgemeinen ist das Unternehmen, einen vollentwickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu verwandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur daß man dies letztere aus guten praktischen Gründen niemals versucht.7

Ein achtzehnjähriges, schönes und kluges Mädchen aus sozial hochstehender Familie hat das Mißfallen und die Sorge seiner Eltern durch die Zärtlichkeit erweckt, mit der sie eine etwa zehn Jahre ältere Dame ‚aus der Gesellschaft‘ verfolgt. (...) Wie weit es zwischen ihrer Tochter und jener zweifelhaften Dame gekommen ist, ob die Grenzen einer zärtlichen Schwärmerei bereits überschritten worden sind, wissen die Eltern nicht. Ein Interesse für junge Männer und Wohlgefallen an deren Huldigungen haben sie an dem Mädchen nie bemerkt; dagegen sind sie sich klar darüber, daß diese gegenwärtige Neigung für eine Frau nur in erhöhtem Maße fortsetzt, was sich in den letzten Jahren für andere weibliche Personen angezeigt und und den Argwohn sowie die Strenge des Vaters wachgerufen hatte.1

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© 1996 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

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Lehnert, G. (1996). Identitäts(er)findung. In: Lehnert, G. (eds) Inszenierungen von Weiblichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97061-9_7

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