Zusammenfassung
Wirtschaft als ein soziales System menschlicher Interaktion zu behandeln, scheint auf den ersten Blick ein plausibles, vernünftiges, fast selbstverständliches Vorhaben zu sein. Dem zweiten Blick enthüllen sich jedoch beträchtliche Schwierigkeiten. Es gibt, von einer wichtigen Ausnahme abgesehen (l)*, bisher keine soziologische Theorie, die den Anspruch erhöbe, die Wirtschaft im Ganzen zu deuten. Theorien, die die Gesellschaft selbst als ökonomisches Unternehmen der produktiven Organisation und wechselseitigen Übervorteilung zu begreifen versuchen, leisten gerade dies nicht. Vorherrschend glauben die Soziologen, die Erforschung der Wirtschaft als solcher, d. h. als System, den Wirtschaftswissenschaften überlassen zu können. Außerdem ist die Leitvorstellung einer solchen Gesamtbetrachtung, der Systembegriff, noch weit von zureichender Klärung entfernt. Wir kennen einmal die alteuropäische Tradition, vom Ganzen zu sprechen, das aus Teilen besteht, aber als Ordnung der Teile über sie hinauswächst. Zum anderen besteht eine bis ins Spätmittelalter zurückreichende Tendenz, Systeme als Einheit eines Zusammenhanges und diese Einheit als logisch widerspruchsfreie Konsistenz zu deuten (2). Diese letztere Interpretation scheint in den Wirtschaftswissenschaften vorzuherrschen. Für die Zwecke der Soziologie sind vermutlich beide Ansätze unzureichend: der eine zu unklar, der andere zu klar, um auf hochkomplexe, sich selbst konstituierende Sinnzusammenhänge faktischer Interaktionen anwendbar zu sein.
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Anmerkungen
Nämlich von Talcott Parsons/Neil J. Smelser,Economy and Society, Glencoe, Ill., 1956.
Vgl. immerhin Hermann Cohen,Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, S. 280 ff. oder Andras Angyal,The Structure of Wholes, Philosophy of Science, 6 (1939), S. 25–37.
Vgl. als Überblick H. V. Wiseman, Political Systems: Some Sociological Approaches, London 1966.
Talcott Parsons,The Political Aspect of Social Structure and Process, in: David Easton (Hrsg.), Varieties of Political Theory, Englewood Cliffs, N. J., 1966, S. 71–112;
William C. Mitchell,Sociological Analysis and Politics: The Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs, N. J., 1967;
Niklas Luhmann,Soziologie des politischen Systems. Die eingehender ausgearbeiteten politologischen Systemtheorien — vgl. etwa David Easton,A Systems Analysis of Political Life, New York, London, Sydney 1965 — setzen den Teilsystemcharakter der Politik zumeist impliziert voraus.
Vgl. z. B. D. W. Goodfellow, Grundzüge der ökonomischen Soziologie, Zürich 1954; Rüdiger Schott, Anfänge der Privat-und Planwirtschaft: Wirtschaftsordnung und Nahrungsverteilung bei Wildbeutervölkern, Braunschweig 1956;
Cyril S. Belshaw,Traditional Exchange and Modern Markets, Englewood Cliffs, N. J., 1965, insbesondere S. 46 ff.;
Christian Sigrist,Regulierte Anarchie: Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Freiburg/Brsg. 1967, S. 176 ff.
Eine wichtige Vorfrage ist deshalb, ob Beziehungen als Einheiten überhaupt vorstellbar und negierbar sind, d. h. ob die Sprache und die Denkmöglichkeiten dafür ausreichen. Das wird man für viele archaische Gesellschaften verneinen müssen. Siehe z. B. D. Demetracopoulou Lee, A Primitive System of Values, Philosophy of Science, 7 (1940), S. 355–378.
Belege dafür bei Belshaw,a.a.O., S. 56 ff., 66 f., 78 ff.
Siehe für eine wichtige Phase der Entwicklung Neil Smelser,Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1770–1840, London 1959.
Siehe hierzu besonders Franz-Xaver Kaufmann,Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, insb. S. 174 ff. über „Zeitlichkeit als Horizont der Thematisierung von Sicherheit“.
Bernard Willms,Planungsideologie und revolutionäre Utopie: Die zweifache Flucht in die Zukunft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969, interpretiert diese „Immanentisierung der Zukünftigkeit“ als historische Tat des bürgerlichen Subjekts. Aber das bürgerliche Subjekt ist kein Akteur. Es ist bürgerlich nur als Symbol des Primats des Wirtschaftlichen in der Gesellschaft und Subjekt nur als Symbol der Außenstellung des Menschen in einer voll funktional differenzierten Gesellschaft.
Zu dieser Unterscheidung näher Niklas Luhmann,Normen in soziologischer Perspektive, Soziale Welt, 20 (1969), S. 28–48.
Interessant ist, daß die Wirtschaftstheorie mit aller Selbstverständlichkeit einen in diesem Sinne kognitiven Erwartungsbegriff bildet. Siehe zusammenfassend Peter Machinek, Behandlung und Erkenntniswert der Erwartungen in der Wirtschaftstheorie, Berlin 1968. Im breiteren Gesichtskreis der Soziologie wird es dagegen zum Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen sich ein soziales System derart einseitig auf kognitives Erwarten spezialisieren und auf moralische Deckung verzichten kann.
Vor allem Vergleiche mit Entwicklungsländern können heute vor Augen führen, daß das uns geläufige Kommunikationstempo bei wirtschaftlichen Transaktionen eine höchst voraussetzungsvolle kulturelle Errungenschaft ist, die sich keineswegs mit der Bildung von Märkten allein von selbst versteht. Vgl. dazu Fred W. Riggs,The Ecology of Public Administration, London 1961, S. 130 ff.; ders.,Administration in Developing Countries: The Theory of Prismatic Society, Boston 1964, S. 108 ff.
Ähnlich, aber in der Durchführung etwas anders, geht auch Talcott Parsons bei der Analyse des Geldmechanismus von einer Differenzierung des Aktionssystems in funktions-spezifische Teilsysteme und von einer an die Sprachtheorie angelehnten Theorie der generalized media of interchange aus. Vgl. Talcolt Parsons, On the Concept of Influence, Public Opinion Quarterly, 27 (1963), S. 37–62, neu gedruckt in ders., Sociological Theory and Modern Society, New York, London 1967, S. 355–382. Zu einer soziologischen Theorie des Geldes siehe ferner Klaus Heinemann, Grundzüge einer Soziologie des Geldes, Stuttgart 1969.
Siehe auch die Unterscheidung von political choice und market choice bei Geoffrey Vickers,The Art of Judgment: A Study of Policy Making, London 1965, S. 122 ff.
So Kenneth Burke,A Grammar of Motives, Englewood Cliffs N. J. 1945, Neudruck Cleveland, New York 1962, S. 355 f.
Daß diese Lembedingungen bei bürokratisch verwalteten Geldverteilungen entfallen und durch andere (etwa: empirisch operationalisierte Erfolgskontrollen) ersetzt werden müßten, zeigt Christian von Ferber, Der Beitrag der Soziologie zur Sozialreform, in: Festgabe Hans Achinger, Berlin 1969, S. 71–86.
Für die klassische Machttheorie war z. B. ein Versagen gerade vor dieser Frage bezeichnend; sie hatte weder das hierarchische Modell noch das Modell der Gewaltenteilung benutzen können, um unterschiedliche Stärke des Einflusses der gesellschaftlichen Umwelt auf das politische System darzustellen, weil nämlich ihr Machtbegriff die Vorstellung nicht zuließ, daß die größere (höhere) Macht stärkeren Einflüssen ausgesetzt ist. Vgl. dazu auch Niklas Luhmann, Klassische Theorie der Macht. Kritik ihrer Prämissen, Zeitschrift für Politik, 16 (1969), S. 149–170.
Zur Bedeutung von Vertrauen, namentlich von reflexivem Vertrauen in Vertrauen, in diesem Zusammenhang siehe Niklas Luhmann,Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968. Vgl. ferner Heinemann a.a.O., S. 83 ff.
Siehe als eine Ausarbeitung dieser These Michael Polanyi,Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy, New York 1964 (Erstausgabe London 1958) insb. S. 67 ff.
An anderer Stelle (Niklas Luhmann,Politische Planung, Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 17 [1966], 5.271–296. [274]) hatte ich, um Organisationsentscheidungen und Personalentscheidungen auszuklammern, Planung enger gefaßt als Definition eines Entscheidungsproblems und Festlegung der Bedingungen seiner Lösung.
Die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel lassen sich z. B. nur einhalten, wenn die Fahrgäste ihre Rollen kennen und nicht die Rolle selbst fallweise durch Belehrungen oder Verhandlungen geklärt werden muß. Vgl. dazu Elihu Katz, S. N. Eisenstadt,Some Sociological Observations an the Response of Israeli Organizations to New Immigrants, Administrative Science Quarterly, 5 (1960), S. 113–133. In diesem Zusammenhang ist auch die oben erwähnte Gewöhnung an Kauf oder Nichtkauf nach feststehenden Preisen zu erinnern.
Vgl. z. B. Talcott Parsons/Neil J. Smelser, Economy and Society, Glencoe Ill. 1956, S. 15 f.: Talcott Parsons, „Voting“ and the Equilibrium of the American Political System, in: Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg.), American Voting Behavior, Glencoe III. 1959, S. 80–120 (116 f.).
Diese Zusammenhänge und „that a leadership subsystem (a menber for an inclusive system) is often, in contradiction to Russell’s Theory of Logical Types, empirically treated as if it were the inclusive system“, durchschaut auch Odd Ramsöy,Social Groups as System and Subsystem, London, New York 1963, S. 190 ff. (191).
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Luhmann, N. (1970). Wirtschaft als soziales System. In: Soziologische Aufklärung 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96984-2_10
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