An Europas Horizont kichert der Wahnsinn

Zusammenfassung

Europa ist verunsichert? Das kann es brauchen. Allzuviel Selbstsicherheit macht dumm. Tritt Integration als Religion in Erscheinung, so ist dies nicht verheißungsvoller, als wenn Desintegration in religiösem Gewand auftaucht. Wie Ameisenhaufen im Garten, so drängen die neuen Partikularismen aus dem Dunkel ans Licht. Die Teile mißtrauen dem Ganzen. Vor allem dem Nachbarn. Fahnen werden geschwenkt. Mit den Teilen ist nicht gut Kirschen essen. Dem überlegenen Ganzen und der immer irgendwo anders existierenden Zentrale werden sie schon zeigen, was Sache ist. Bis hierher und nicht weiter! Ganz wirst du mich nicht schlucken! Einzigartig bin ich! Etwas Ureigenes! Es verlangt mich nicht danach, im gesamteuropäischen Schmelzkäse aufzugehen. Akzeptiert werden wollen wir in unserer Besonderheit. Eines nur macht uns Kummer, daß sich auch bei uns die Teile regen und wir früher oder später vor Zerfallserscheinungen ebenfalls Angst haben müssen. Im Galopp wogt die Reduktion über uns hinweg und wird ad absurdum geführt. Allem Anschein nach hat jedes Ganze viele Teile, und jeder Teil ist das Ganze vieler anderer Teile, weshalb aus ein und demselben Mund einmal die Leidenschaft des Verletztseins unterdrückter Teile und ein andermal der zynische Rationalismus des aggressiven Ganzen zu hören ist.

Nachdruck aus der Monatszeitschrift »Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte«, 39. Jg., H. 8, August 1992, S. 677–683