Zusammenfassung
Jan Assmann hat in seinem Buch über das »kulturelle Gedächtnis«1 auf seine unnachahmlich kenntnisreiche, behutsame und entschiedene Weise jene Begriffe erarbeitet, über die ich im Rahmen dieser Tagung Geschichte und Gedächtnis — Zur Konstruktion kollektiver Identitäten zu sprechen gebeten worden bin. Er hat den Begriff des kollektiven Gedächtnisses bei jenem Soziologen, der ihn seit den 20er Jahren eingeführt hat, Maurice Halb wachs2, rekonstruiert und seinen Erfinder als den Begründer der Schule der »social construction of knowledge« avant la lettre ausgewiesen. Zur Präzisierung hat er dazu eine Unterscheidung eingeführt, nämlich zwischen einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis, wobei das erste gleichsam das soziale Kurzzeitgedächtnis ausmacht, insofern es die fluide und vergängliche Verständigung der Mitlebenden über ihre selbsterlebte Vergangenheit darstellt, während das kulturelle Gedächtnis jene Symbolisierungen überliefere und zu künftigen Lektüren bereithalte, in denen sich der sinnhafte Erfahrungsgehalt der Mitlebenden — bzw. dessen Deutung oder Zuschreibung durch Nachlebende — objektiviert hat. Des weiteren gehört Assmanns Interesse im Rahmen einer kulturellen Evolutionstheorie diesen kulturellen Symbolisierungen, welche vor aller historischen Distanzierung zur Vergegenwärtigung des Wir-Gefühls einer Gruppe dienen.
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Literatur
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985 (franz. 1925). — Ders.: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967 (franz. 1950).
Die zuerst 1946 bis 1956 in USA erschienenen Beiträge sind auf deutsch zugänglich in den Sammlungen: Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966. — Ders.: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1957 (u.ö.).
Diesem (wie mir jetzt erscheint: berechtigten) Unbehagen bin ich nach der Tagung in einer begriffsgeschichtlichen Spurensuche nachgegangen, über deren erste Ergebnisse ich in meiner Jenaer Antrittsvorlesung über Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität berichtet habe, siehe: Prokla 24, 1994, S. 378–99.
Vansina, Jan: Oral Tradition as History, Madison 1985 (franz. 1961), S. 23f.
Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48ff.
Vgl. verschiedene Beiträge, z.B. den von Helmut Nolte, in: Identität in der Fremde, hrsg. von Mihran Dabag und Kristin Platt, Bochum 1993.
Vgl. z.B. die Studien zu den Konjunkturen des Gedächtnisses bei Pollak, Michael: L’Expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale, Paris 1990. — Vgl. auch die Gemeindokumente zu seiner Säuberung im Spätstalinismus: Der »gesäuberte« Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, hrsg. von Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Karin Hartewig, Harry Stein und Leonie Wannenmacher, Berlin 1994.
Nachdrücklich betont dies Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, München/Wien 1990 (ital. 1986).
Nora, Pierre: Les lieux de mémoire, 5 Bde., Paris 1984ff. — Die Einleitung in Bd. 1 ist auch auf deutsch erschienen: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.
Solshenizyn, Alexander: Archipel GULag, 3 Bde., Reinbek 1978.
Besonders charakteristisch erscheint mir, daß auch die nach der Debatte defensiv ausufernden Legitimationsversuche Ernst Noites für sein Plädoyer der Vergleichbarkeit nationalsozialistischer und kommunistischer Massenvernichtung sich praktisch auf keinerlei empirische Forschung zum GULag stützten. Vgl. Nolte, Ernst: Das Vergehen der Vergangenheit, Berlin/Frankfurt a.M. 1987. — Ders.: Der europäische Bürgerkrieg, Berlin 1988. — Auch die Erfüllung seiner Forderung von links bei Armanski, Gerhard: Maschinen des Terrors. Das Lager (KZ und GULAG) in der Moderne, Münster 1993, leidet an dieser Theoretisierung des kaum Erforschten.
Vgl. Metz, Johann Baptist: Für eine anamnetische Kultur, in: Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, hrsg. von Hanno Loewy, Reinbek bei Hamburg, 1992, S. 35–41.
Sie wieder ausgegraben zu haben ist das Verdienst von Yates, Frances: Gedächtnis und Erinnerung, Weinheim 1990 (engl. 1966). — Vgl. auch: Gedächtniskunst. Raum-Bild-Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1991.
So im Anschluß an Sigmund Freud, z.B. in: Jenseits des Lustprinzips (1920), etwa Mitscherlich, Alexander: Der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für fortgeschrittene Anfänger, München 1974.
So im Anschluß an die Schule des radikalen Konstruktivismus etwa Siegfried J. Schmidt in dem von ihm herausgegebenen Reader: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a.M. 1991.
Vgl. Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History, hrsg. von Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Werner Trapp, Frankfurt a.M. 1980.
Vgl. Lutz Niethammer: Fragen — Antworten — Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, hrsg. von Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin/Bonn 1985, S. 392–445.
Vgl. zusammenfassende Zwischenberichte wie Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußt-seins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, München 1987. — Rah mann, Hin-rich/Rahmann, Mathilde: Das Gedächtnis. Neurobiologische Grundlagen, München 1988. — Memory: Interdisciplinary Approaches, hrsg. von Paul R. Solomon u.a., New York/Berlin/Heidelberg 1988. — Oeser, Erhard/Seitelberger, Franz: Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, Darmstadt 1988.
Jedenfalls hat sich dem Verfasser dieser Gesamteindruck aus den interdisziplinären Diskussionen der von Sigrid Weigel und ihm geleiteten Studiengruppe Gedächtnis, die von 1990 bis 1993 am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum NRW arbeitete, und deren ich hier mit Dankbarkeit »gedenken« möchte, eingeprägt.
Ich fasse im folgenden vor allem Einsichten aus zwei Forschungsprojekten zusammen. Vgl. auch Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet. 1930–1960, hrsg. von Lutz Niethammer und Alexander von Plato, 3 Bde., Berlin/Bonn 1983–85ff. -Niethammer, Lutz/Plato, Alexander von/Wierling, Dorothée: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991.
So definiert z.B. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Leipzig/Wien °1906, Bd. 9, S. 738: »Identität (neulat.), Einerleiheit, herrscht im weiteren Sinne zwischen Begriffen, wenn sie miteinander vertauscht werden können (Wechselbegriffe), im engeren Sinne, wenn sie ein und derselbe Begriff sind.« — Dasselbe sagt vom »Identitätsnachweis«: »Der I. hatte zuerst eine Bedeutung erlangt für die Rückvergütung entrichteter Zölle bei der Wiederausfuhr eingeführter Waren oder der aus eingeführten Roh- oder Halbfabrikaten hergestellten fertigen Erzeugnisse.«
Grundlegend Levita, David J. de: Der Begriff der Identität, Frankfurt 1971, 1976 (engl. Den Haag 1965). — Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1975 (zuerst 1969). — Siehe auch Kanonische Kurzfassung bei Dubiel, Helmut: Identität, Ich-Identität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfred Gründer, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 148–151.
Vgl. den köstlichen Begriffs-Krimi von Mackenzie, William J.M.: Political Identity, Manchester 1978. — Gleason, Philip: Identifying Identity. A Semantic History, in: Journal of American History 69, 1983, S. 910–931.
Habermas, Jürgen: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1990 (zuerst 1976), S. 92–126.
Vgl. dazu Niethammer: Konjunkturen und Konkurrenzen, S. 384ff.
Vorbereitet durch Beiträge zur Begründung einer konservativen Postmoderne wie Marquard, Odo: Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz. Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. — Lübbe, Hermann: Zur Identitätspräsentationsfunktion der Historie, in: Identität, hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979, S. 347–369 und 277–292. — Dann, nach der »geistig-morahsehen Wende« Genschers, ideologisch proklamiert durch Sinnstifter wie Stürmer, Michael: Wem gehört die deutsche Geschichte?, in: Deutsche Identität, hrsg. vom Studienzentrum Weikersheim, Mainz-Laubenheim 1983, S. 48–64. — Ders.: Suche nach der verlorenen Erinnerung, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 36, 1986, Nr. 20/21, 17./24.6.1986.
Vgl. Pörsken, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1992 (zuerst 1988), zu Identität siehe S. 17.
Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Die Atempause, München 1988 (ital. 1958).
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Niethammer, L. (1995). Diesseits des »Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Platt, K., Dabag, M. (eds) Generation und Gedächtnis. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95972-0_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-95972-0_2
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-8100-1233-3
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