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Die Gesetzliche Krankenversicherung als Problemfeld politischer Steuerung

  • Chapter
Die doppelte Reform

Part of the book series: Reihe Gesellschaftspolitik und Staatstätigkeit ((GESPOL,volume 3))

  • 139 Accesses

Zusammenfassung

Angesichts des zeitlich immer wiederkehrenden Problems der Ausgabenausweitungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung, die sich politischen Interventionen scheinbar zum Trotz einstellen, wird die Frage der politischen Steuerbarkeit des Gesundheitswesens aufgeworfen.1 Verschiedene Theoriekonzepte liefern hierzu unterschiedliche Erklärungen, die jedoch allesamt darauf hinauslaufen, das Gesundheitswesen als “reformresistent” oder sogar als unreformierbar zu bewerten.

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Referenzen

  1. Luhmann bezeichnet das Gesundheitssystem als Krankheits- oder Krankenbe-handlungssystem, da nicht Gesundheit sondern Krankheit Anlaß der Systembildung sei (vgl. Luhmann 1983a).

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  2. Außerdem wird kritisiert, daß Verselbständigung kein objektiver Tatbestand sei, sondern der subjektiven Zuschreibung aus der Systemumwelt bedürfe. Die Diagnose Verselbständigung wird in der Regel erst dann vergeben, wenn Steuerungsversuche politischer Akteure fehlschlagen. Somit unterliegt Verselbständigung Bedingungen, die nicht nur auf der Seite des als verselbständigt bezeichneten Teilsystems anzusiedeln sind, sondern auch beim politischen System gegeben sein müssen (vgl. Rosewitz/Schimank 1988).

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  3. Der Begriff Neokorporatismus ist nicht eindeutig definiert, vielmehr existieren dazu höchst unterschiedliche Anschauungen (vgl. Therborn 1992). Das Neokorporatismuskonzept entstand angesichts symbiotischer Verklammerungen staatlicher Institutionen mit Parteien und Verbänden, was mit Pluralismusmodellen nicht mehr zu erklären war. Denn in den Pluralismustheorien wird der Staat hauptsächlich als Einflußadressat gesellschaftlicher Interessenverbände (“Durchlauferhitzer”) gesehen, womit institutionelle Formen funktionaler Inte- ressenvermittlung vernachlässigt werden und zugleich nicht berücksichtigt wird, daß auch der Staat auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß einwirkt (vgl. Reutter 1991, 60f). Der historische Ausgangspunkt des Neokorporatismus liegt in dem Ende der 70er Jahre aufkommenden Schlagwort“Unregierbarkeit” und ist nachhaltig von Lehmbruch und Schmitter geprägt worden. Während Schmitter die intraorganisatorische Ebene betont und Korporatismus als eine Art viertes Modell der gesellschaftlichen Ordnung neben Gemeinschaft, Markt und Staat definiert, betont Lehmbruch das Wechselverhältnis zwischen interund intraorganisatorischer Ebene. Lehmbruch sieht darin außerdem kein Modell gesellschaftlicher Ordnung, sondern einen Mechanismus gesamtgesellschaftlicher, insbesondere gesamtwirtschaftlicher Interessen-abstimmung, der auf konsensuelle Internalisierung der Kosten von Interessenpolitik gerichtet sein müßte. (Neo-)Korporatistische Arrangements seien zudem nicht zwangsläufig die Folge ihrer definierten Voraussetzungen, sondern hochgradig kontingent (vgl. Lehmbruch 1988; Streeck/Schmitter 1985). Die Voraussetzungen für neokorporatistische Entscheidungsstrukturen werden nach Lehmbruch in erster Linie auf der Seite der gesellschaftlichen Akteure formuliert. Idealtypisch sind große, zentralisierte Verbände, die mit Repräsentationsmonopol ausgestattet sind und über die Möglichkeit hierarchischer Koordination von Mitgliederinteressen verfügen. Die Selbstbindungsfähigkeit der Verbände ist die Voraussetzung dafür, daß der Staat ihre organisatorischen Ressourcen für die Verfolgung seiner Politikziele nutzen kann. Denn der Verband muß prinzipiell in der Lage sein, eigene Verbandsinteressen mit staatlichen Zielen in Einklang zu bringen und zwar auch auf Kosten solcher Mitgliederinteressen,“die der Durchsetzung jener übergreifenden Ziele entgegenlaufen” (Lehmbruch 1988, 11). Die intraorganisatorischen Bedingungen sind zwar eine notwendige, jedoch nicht zureichende Bedingung für eine erfolgreiche, an gesamtgesellschaftlichen Zielgrößen orientierte Konzertierung zwischen Staat und Verbänden. Dazu bedarf es zusätzlich der interorganisatorischen Dirnension, sowie der wechselseitigen Beziehung zwischen intra- und interorganisatorischer Ebene. Als Resultat kann sich dann die Verflechtung von Staatsverwaltung, Parteiensystem und großen Interessenverbänden in einem interorganisatorischen Netzwerk einstellen (vgl. Lehrnbruch 1988).

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  4. Empirische und weniger durch die Brille vermeintlicher neokorporatistischer Entscheidungsstrukturen geprägte Studien vermitteln nicht den Eindruck, als wenn in diesem Gremium gesundheitspolitische Interventionen ausgehandelt werden würden (vgl. Eberle 1985; Schwartz 1983).

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  5. Diese Frage, der Freiwilligkeit oder Zwangsmitgliedschaft, ist sogar ein wesentlicher Bestandteil der Neokorporatismusdefinition. Während Lehmbruch die Vereinigungsfreiheit und Verbandsautonomie als Grundlage neokorporatistischer Arrangements betont und darauf abhebt, daß es ihnen prinzipiell möglich sein muß, die Kooperation mit staatlichen Organen aufzukündigen (vgl. Lehmbruch 1988), geht Schmitter von monopolartig organisierten Zwangsverbänden als Grundbestandteil aus (vgl. Schmitter 1981; vgl. auch Streeck/ Schmitter 1985). Analog zu seiner Definition läßt es nach Lehmbruch die institutionelle Verfaßtheit des Gesundheitswesens nicht zu, von einer durchgängig korporatistischen Organisationsstruktur zu sprechen. Die vom Staat in der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (KAiG) nutzbaren Steuerungsressourcen sind weniger die autonomer zentralisierter Verbände, als vielmehr“die eines durch staatliche Privilegierung eingegrenzten, stark institutionalisierten interorganisatorischen Verhandlungssystems”. Insofern rechtfertigt es die spezifische Struktur der GKV, die in der KAiG abgebildet ist, von einem“in atypischer Weise fragmentierten ‘Staatskorporatismus’” zu sprechen (vgl. Lehmbruch 1988, 22). (Der Begriff des (eher autoritären) Staatskorporatismus basiert auf einem womöglich verfassungsrechtlich abgesichertem System von Zwangskörperschaften.) In der Tat liegt dem zentralen Gremium, der KAIG, ein massiver Zwangsgehalt zugrunde. Darin und mit der im Gesetz angedeuteten Führungsrolle des Bundesministers für Arbeit bzw. für Gesundheit unterscheidet sich das Gremium krass von seinem Vorbild, der Konzertierten Aktion (in) der Wirtschaft (vgl. Bogs 1982).

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  6. Auf ihren Status als mittelbare Staatsverwaltung verweist auch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1975, das aufgrund einer Beschwerde von acht Allgemeinen Ortkrankenkassen herbeigeführt wurde:“Die Hauptaufgabe der Sozialversicherungsträger besteht in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe. In diesem Bereich läßt sich der Sache nach nur bedingt von Selbstverwaltung sprechen ... Die Beschwerdeführerinnen ... sind nur organisatorisch verselbständigte Teile der Staatsgewalt, üiben der Sache nach mittelbare Staatsverwaltung aus” (BVerfGU 39, 302, zitiert nach: Lampert 1984, 44f). Als weiteres Beispiel dafür soll folgende Anekdote angeführt werden: Den Auszug der Vertreter der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) auf der Sitzung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (KAiG) vom 18.11.1985 nahm Arbeitsminister Blüm zum Anlaß, die KZBV“unter Hinweis auf ihren Status daran zu erinnern, daß sich daraus nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten ergäben. Werd durch Pflichtverweigerung (...) zur Demontage des öffentlichrechtlichen Status beitrage, gefährde den Sicherstellungsauftrag” (zitiert nach: KBV 1986, 11).

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  7. In der Literatur zur angewandten Netzwerkanalyse bewegt sich einiges. Die Richtung des“Generalized Political Exchange” hat es sich zum Ziel gesetzt, die Pfade traditioneller“exchange theories” zu verlassen und“policy studies and theorizing on governance and interest intermediation” mit“network thinking and network analysis” zu verknüpfen (Marin 1990a, 13). Dabei werden durchaus Rückbezüge zur soziologischen Theorie des Strukturalismus hergestellt (bspw. Cook 1991), was wieder von anderen eher institutionalistisch argumentierenden Vertretern als“organizational darwinism” abgelehnt wird (vgl. Lehmbruch 1991).

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  8. In die Politikwissenschaft ist der Begriff des Policy-Network oder“issue network” maßgeblich von Heclo (1978) eingeführt worden. Einen geschichtlichen Abriß des Begriffes in der Politikwissenschaft bieten Kenis/Schneider 1991, insbes. 27ff; vgl. auch Schubert 1991, 100ff.

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  9. Der deutsche Begriff“Politik” kann durch die englischen Begriffe“Polity”,“Politics” und“Policy” differenzierter gehandhabt werden. Sie bezeichnen politische Institutionen, politische Prozesse und eben Politikinhalte. Die Differen- zierung erlaubt dann Fragen nach wechselseitigen Abhängigkeiten und Zusammenhängen der Kategorien (vgl. Windhoff-Héritier 1987).

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  10. In dieser Art der Beziehung verortet Scharpf“Steuerungspathologien”. Denn während die aktuelle Verhandlungsmacht des Staates — aufgrund äußerer Bedingungen wie Wahlen etc. — oftmals geschwächt ist, ist der Interaktionspartner in der Lage, die eigene Strategieffihigkeit von Verhandlung zu Verhandlung auszubauen. Unter diesen Verhandlungsbedingungen kommt es immer wieder zum Tausch kurzfristiger Vorteile gegen institutionelle Konzessionen, und am Ende“steht dann ein institutionalisiertes Verhandlungssystem zwischen faktisch gleichberechtigten Partnern” (Scharpf 1988, 71). Wenn in dem“kooperativen Verhandlungsmuster” zwischen Staat und korporativ organisierten Verhandlungspartnern letztere über das gemeinsame Interesse beider Verhandlungspartner hinausgehende Eigeninteressen verfolgen, die nicht unbedingt mit Zielen staatlicher Politik übereinstimmen, stellt sich eine Überlagerung von Kooperation und Konflikt ein. Resultat dessen ist, daß die Suche nach konsensualen Löösungen, die beide Partner zufriedenstellen, äußerst schwierig ist;“Steuerungspathologien” sind die Folge. Erschwerend komme hinzu, wenn in Verhandlungssituationen Produktion und Verteilung simultan bewältigt werden müssen (vgl. Scharpf 1988).

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  11. Nach Mayntz (1992) ist die soziologische Systemtheorie mit ihrem Konzept der funktionellen Differenzierung und der funktionellen Subsysteme durch das Bild moderner westlicher Gesellschaften geprägt. Die ehemalige Deutsche Demokratische Republik dagegen wies ein viel geringeres Maß an funktioneller Differenzierung auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene auf. Die SED, als dominierende politische Partei, durchdrang und kontrollierte alle funktionellen Bereiche, was einer funktionellen Differenzierung entgegenstand. Denn die Autonomie von Subsystemen lasse sich nur herstellen, wenn bestimmten funktionellen Bereichen ein Minimum an Autonomie (z.B. Abwesenheit von politischer oder religiöser Kontrolle) zugestanden wird. Darin, in der unterbliebenen Modernisierung, sieht Mayntz eine Erklärung für die“Erosion” des sozialistischen Regimes in Ostdeutschland (vgl. Mayntz 1992, 21ff).

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  12. Kenis und Schneider (1991) benennen dagegen“confrontation” als den vorherrschenden Verhandlungsstil, da die Mitglieder eines Policy-Netzwerkes dazu tendieren würden, sich in zwei feindliche Lager zu formieren.

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  13. Im allgemeinen wird mit“bargaining” nicht nur der Verhandlungsstil, sondern zugleich auch der Verhandlungsgegenstand bezeichnet (vgl. Friedrich 1970). Dies sind typischerweise Verteilungskonflikte. Vergleiche dazu beispielsweise den Versuch, Honorarverhandlungen in der GKV mit Hilfe der collective-bargaining-Theorien zu analysieren (vgl. Groser 1989; Keller 1989). Um jedoch den Kollektivverhandlungen in der GKV oder zwischen politischem System und Krankenversicherungssystem gerecht zu werden, die nicht nur Verteilungssondern auch Strukturfragen zum Inhalt haben und beides eigentümlich miteinander vermischen, ist eine begriffliche Differenzierung zwischen Verhandlungs- stil und

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  14. Eine weitere Strukturschwäche ist das unterschiedliche Innenverhältnis von Krankenkassen- und Kassenärzteverbänden. Das Innenverhältnis dieser Verbände organisiert sich im wesentlichen über den Mechanismus der Wahlen, mit dessen Hilfe die Interessen der Verbandsmitglieder repräsentiert, aber auch an ausgehandelte Kollektivverträge gebunden werden (vgl. Knappe 1988, 274ff; Thiemeyer 1984). Dieser Willensbildungsprozeß ist den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkassen gesetzlich vorgeschrieben (§ 3681 RVO) und hat unmittelbare Wirkungen auf das Innenverhältnis und mittelbare auf das Verhältnis zwischen den Verbänden der Produzenten und Nachfrager (vgl. Neubauer 1986, 223). Die innerverbandliche Beteiligung an dem Steuerungsmechanismus Wahlen ist bei Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen, aufgrund differierender Motivationslagen der Mitglieder, denkbar verschieden. Denn während die ärztlichen Zwangsverbände zentrale Existenzfragen (Einkommens- und Statuspolitik) ihrer Mitglieder zum Gegenstand ihrer Verbandspolitik und der Kollektivverhandlungen machen und von daher ein hohes Engagement ihrer Mitglieder mobilisieren können, ist nach der üblichen Wahlbeteiligung in Krankenkassen zu schließen, das Interesse der Versicherten nur gering. Diese Unterschiede führen zu Beeinträchtigungen der Außeninteressenvertretungen bzw. ungleichgewichtigen Verhandlungspositionen der Verbände und damitergebnissen (vgl. Thiemeyer 1984).

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  15. Das Defimitionsdilemma (Unbestimmtheit der Leistung bzw. der Funktion) versucht Lumann beispielsweise dadurch zu umgehen, indem er vorschlägt, den Schmerz als“funktionales Surrogat” zu begreifen (vgl. Luhmann 1983). In neueren Veröffentlichungen identifiziert er eine Anomalie derart, daß zwar“gesund” und“krank” die binäre Codierung des Gesundheitswesen darstelle, aber eine“perverse Vertauschung” der Werte vorliege. Die Praxis strebe vom nositiven zum negativen Wert (vgl. Luhmann 1990, 183ff).

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  16. bie Theorie des symbolischen Interaktionismus betrachtet das menschliche Verhalten als über symbolische Reize gesteuert. Ein symbolischer Reiz ist ein“Ding” (alles, was der Mensch in seiner Welt wahrnimmt), dem vom Empfänger eine Bedeutung erst aufgrund seiner individuellen Lebensgeschichte in einem kulturellen System zugeschrieben wird. Reize müssen defmiert und interpretiert werden und erst die Art der Interpretation bestimmt die Reizqualität. Definitionen werden im Prozeß der Sozialisation vermittelt. Die Übereinstimmung von Definitionen erlaubt eine reibungslose Kommunikation, in der die interagierenden Individuen ihr Verhalten aufeinander abstimmen (vgl. Blumer 1981).

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  17. Im Gegensatz zur traditionellen Medizin, die Krankheit naturwissenschaftlich zu erklären versucht und damit zu einem kulturfreien Sachverhalt erklärt, wird in der Definition des symbolischen Interaktionismus die kulturelle Abhängigkeit der Krankheitsdefinitionen betont. In dieser Auffassung wird Krankheit nicht nur als biologischer, sondern auch sozialer Tatbestand verstanden und zudem die Relativität dessen betont, was als Krankheit oder Abnormalität gilt (vgl. zur sozialen Konstruktion von Krankheit auch Freidson 1979, 171ff).

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  18. Dieses Phänomen wird von Gesundheitsökonomen als“uno-actu-Prinzip” bezeichnet (vgl. Herder-Dorneich 1983).

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  19. Illhardt weist aus ärztlicher Sicht auf die Relevanz von Verstehen und Verständnis hin: Die Vieldeutigkeit des“instrumentellen Textes” (der Labor- und Apparate-Befunde) muß mit Hilfe des“physischen Textes” (dem Bericht des Patienten) zu Kenntnissen über die Krankheit verdichtet werden. Darüber hinaus ist für die Akzeptanz der Therapieentscheidungen die Kenntnis des“biographischen Textes” des Patienten erforderlich (vgl. Illhardt 1992).

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  20. In Ausnahmesituationen (Unfall, Bewußtlosigkeit des Patienten u.ä.) müssen Befund und Therapie ohne Mitwirkung des Patienten und insofern ohne Aushandlung erstellt werden.

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  21. Die Notwendigkeit für Arzt und Patient zwischen beiden“Weltbildern” zu vermitteln, läßt sich bis in das Sprachverhalten hinein verfolgen. Der Arzt hat die Vielfalt der (lebensweltlichen) Begrifflichkeiten des Patienten für seine Befindlichkeitsstörung mit Hilfe von Stilisierungen und Ausblendungen in medizinische Termini zu übersetzen, was zu einer Einengung des Sachverhaltes auf“kanonisiertes ärztliches Wissen” führt (vgl. Ferber 1979, 29ff). Die neuzeitlichen Naturwissenschaften als dominierender Wissenschaftstypus beanspruchen universelle Geltung und basieren auf der Annahme einer objektiven Tatsachenrealität. Während bisher daran nur wenig gerüttelt wurde und sich die Subjektivität in die Lebenswelt zurückzog (vgl. Schütz/Luckmann 1979), zieht der radikale Konstruktivismus auch dies in Zweifel und betrachtet ebenso die Naturwissenschaften als eine Art der Wirklichkeitskonstruktion (vgl. beispielsweise Knorr-Cetina 1985).

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  22. Die Freiheitsgrade des Patienten sind sicherlich im Krankenhaus wesentlich kleiner als in der hier referierten idealtypischen Situation, da davon auszugehen ist, daß der stationären Versorgung bedürftige Person einen höheren Grad von Desintegrität der eigenen Persönlichkeit aufweisen. Die gestörte persönliche Integrität des Patienten wird im Krankenhaus, aufgrund interner Strukturen der“humanen” Institution, noch zusätzlich belastet und beeinträchtigt (vgl. Rohde 1973). Daher muß festgehalten werden, daß auf seiten des Patienten die Fähigkeit zum Aushandeln durch den Grad seiner persönlichen Integrität bestimmt wird.

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  23. Wie dargestellt wurde, konstituieren sich Aushandlungen zwischen Arzt und Patient durch deren unterschiedliche Handlungsorientierungen bzw. Weltbilder. Das Weltbild des Arztes ist Ergebnis der in der Schulmedizin vorherrschenden naturwissenschaftlichen Ausrichtung. Die neuzeitlichen Naturwissenschaften mit ihrem Prototyp, der Physik, weisen einige Besonderheiten auf, wie sie sich insbesondere durch das Experiment als paradigmatische Erfahrungsform, dem Fortschrittsglauben und der Überzeugung, die Wirklichkeit lasse sich durch prognostizierbare Regelmäßigkeiten (idealtypisch: Naturgesetz) abbilden, konstituieren. Aufgrund ihrer besonderen Konstitution bieten die neuzeitlichen Naturwissenschaften keine metaphysischen Weltbilder und kein Orientierungswissen (mehr). Wissenschaft ist derzeit in erster Linie technisches Verfügenkönnen. Das vorherrschende Interesse dieser Art von Wissenschaft liegt in dem Aufstellen von Regelmäßigkeiten und damit dem Interesse, Dinge zu erklären (vgl. Mittelstraß 1982; Zilsel 1976). Erklären reicht jedoch für lebensweltliche Orientierungen nicht aus, dazu bedarf es der Kategorie Verstehen, die im Unterschied zu Erklären die Sinndeutung miteinschließt (vgl. Schütz/Luckmann 1979). Diese Diskrepanz ist eine Komponente, die das Aushandeln zwischen Arzt und Patient erforderlich macht. Dagegen ist es denkbar, daß in anderen Kulturen, in denen eine die Gesellschaft umfassende und integrierende Weltanschauung gegeben ist (Kulturen mit magischen Weltbildern), die alle Bereiche des Lebens bestimmt und eben auch die Definition von Krankheit, die Zustände gesund/krank weniger konträr, als vielmehr übereinstimmend im Sinne von“problem-solving” auszuhandeln sind.

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  24. In Großbritannien beispielsweise wird Allgemeinärzten ein Gehalt auf der Basis von Kopfpauschalen zugesprochen. Dadurch verlagert sich das Krankheitsrisiko auf den behandelnden Arzt und Einkommendynamisierungsmöglichkeiten durch die Ausweitung einzelner Leistungen entfallen. Damit entfällt ebenso eine Kornponente“egoistischer Eigeninteressen” des Arztes (vgl. zum Gesundheitssystem in Großbritannien bspw. Alber 1992, 533ff).

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  25. Das Sozialversicherungsrecht trat mit dem Ziel an, die Bedingungen zu formu lieren, unter denen Erwerbsarbeit nicht mehr zugemutet und ein rechtlich legi- timierter, unbedingter Rechtsanspruch auf sozialstaatliche Leistungen einzuräumen ist. Insofern regulieren die Risiken Unfall, Invalidität und Krankheit die Bedingungen der Nichterwerbsfähigkeit (vgl. Blanke et al. 1987). Die Sozialversicherungszweige sind als Institutionen des politisch gewollten Risikoausgleichs begreifbar (vgl. Lauer-Kirschbaum/Rüb 1994).

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  26. Die Bestimmung von Arbeitsunfähigkeit und damit der Gewährung von Krankengeld oblag den Kassenvorständen auch noch in den Anfangsjahren der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Beurteilung blieb ihren Kenntnissen über die individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen überlassen und wurde nach Maßgabe der fiinanziellen Möglichkeiten der Kassen entschieden (vgl. Göckenjan 1985, 373ff).

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  27. bas Krankenversicherungsgesetz von 1883 verpffichtete die Kassen dazu, ihren Versicherten ärztliche Hilfe und Arznei zur Verfügung zu stellen, überließ ihnen jedoch weitreichende Entscheidungsbefugnisse in der Frage, welche und wieviele Ärzte zu beschäftigen seien, ebenso wie Fragen ihrer Honorierung. In den Anfangsjahren der GKV war den Ärzten die Tätigkeit im Dienste der Kassen nicht sehr attraktiv. Mit der stetigen Ausdehnung der Versichertenkreise sowie der ständig steigenden Ärztezahlen und damit zunehmenden Konkurrenz unter den Ärzten wurde sie jedoch zunehmend attraktiver. In der Folge entzündeten sich Konflikte zwischen Kassen und Ärzten immer wieder an Fragen der Zulassung und Honorierung. Die Anstellungshoheit der Kassen und ihre Disziplinarrechte wurden von den Ärzten als entwürdigend bewertet (vgl. Göckenjan 1985, 341ff). Ihren Forderungen nach Selbstregulation der eigenen Standesinteressen wurde durch die Notverordnungen vom 26.7.1930, 8.12.1931 und der Verordnung vom 14.1.1932 entsprochen, die die Konstituierung von Zwangsorganisationen aller Kassenärzte (Kassenärztliche Vereinigung), als Körperschaften des öffentlichen Rechts vorsahen (vgl. RGB1. I S. 311 zitiert als Notverordnung 1930; RGB1. I S. 699 zitiert als Notverordnung 1931; RGB1. I S. 19 zitiert als Verordnung 1932). Die Begründung für diese gesetzliche Intervention ist darin zu sehen, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen nunmehr für die ordnungsgemäße Krankenhilfe verantwortlich gemacht werden konnten. Denn damit wandelten sich die Berufspffichten der Ärzte in Rechtspffichten. Der Gesetzgeber handelte nicht nur aus Fürsorge füir die Kranken, sondern auch zum Schutz der Kassen gegen Vernachlässigung (vgl. Sonderhoff 1930, 369ff; Heinemann 1932, 385ff). Insgesamt betrachtet, wurden gesetzliche Interventionen der Anfangsjahre der GKV insbesondere durch zwei Faktoren ausgelöst: Zum einen, wenn die ärztliche Versorgung nicht gewährleistet war (Arztestreiks) und zum anderen, wenn die Ausgaben der GKV als zu teuer be- funden wurden. Die gesetzgeberische Notwendigkeit, die Ärzte in ein (Zwangs)System einzubinden und sie der staatlichen Aufsicht zu unterstellen, ergab sich jedoch auch über ihre Anerkennung als“Rechtsersatz“, denn das Definitionsmonopol des Arztes über den Tatbestand krank/gesund beinhaltet die Kontrolle des Risikos selbst und zugleich das Kontrollmonopol über gesellschaftliche Ressourcen, die zur Behandlung von Krankheit bereit zu stellen sind. Je mehr im historischen Verlauf die Kontrolle der Arbeitsunfähigkeit zugunsten der all-gemeinen Behandlung zurücktrat, desto mehr entwickelte sich dieses Kontrollmonopol zu einer Kontrollinstanz über die gesellschaftlichen Ressourcen, die für das Gesundheitssystem aufzubringen sind. Damit entwickelte sich jedoch auch die Notwendigkeit staatlicher Normierung.

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  28. Im Jahre 1885 waren 10,3 Prozent der Bevölkerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert; 1987 bereits 88,1 Prozent (vgl. Alber 1992a, 42, Tabelle 1.1).

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  29. Die hier referierte Auffassung geht auf den Ansatz der konstruktiven Wissenschaftstheorie (oder auch Erlanger Schule) zurück. Von ihren Vertretern wurde in mehreren eingehenden historischen Untersuchungen die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft kritisch interpretiert. Sie wiesen darauf hin, daß selbst in der Mathematik Aussagen einer normativen Begründung bedürfen. Denn es sei weder möglich, formale Systeme allein durch Syntax (Verknüpfung von Zeichen durch Regeln) noch durch die Semantik eines Systems in ihm selbst ohne Rückgriff auf eine reichere Metasprache zu konstruieren. Die Notwendigkeit von Metasprachen läßt den Rückgriff auf die in der Lebenspraxis gewachsene Umgangssprache als letzter Metasprache erforderlich werden. Sprache wiederum ist ein offenes System, das keine Eindeutigkeit garantieren kann. Somit war man auf das Einverständnis der Mathematiker untereinander über ihr Tun angewiesen, was auf das normative Fundament von Wissenschaft verweist und auf die Notwendigkeit einer Begründung von Wissenschaft (vgl. statt anderer die Aufsätze in: Mittelstraß 1974). Der Ausschluß von Begründungsleistungen aus der Wissenschaft hat seinen historischen Anfang in der Ausgliederung metaphysischer Kompetenz ab ca. Ende des 18. Jahrhunderts. Die bis dahin geltende Einheit von Philosophie und Wissenschaften wurde aufgesplittet und Philosophie in das Schattendasein einer relativ bedeutungslosen Geisteswissenschaft gedrängt, die nur noch neben den offensichtlichen Erfolgen der Naturwissenschaften überleben konnte (vgl. Mittelstraß 1974a).

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  30. Die Dynamik des Wissenschaftssystems in der Produktion wissenschaftlicher Ergebnisse etc. wird aus der Perspektive der Luhmannschen Systemtheorie als logische (rationale) Konsequenz eines ausdifferenzierten, verselbständigten Teilsystems bewertet. Das Wissenschaftssystem strebe nach Wahrheit, seine binäre Codierung wird mit den Begriffen“wahr” und“falsch” angegeben. Aus der Perspektive der konstruktiven Wissenschaftstheorie sitzt Luhmann damit dem jetzigen Wissenschaftsmodell auf.

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Perschke-Hartmann, C. (1994). Die Gesetzliche Krankenversicherung als Problemfeld politischer Steuerung. In: Die doppelte Reform. Reihe Gesellschaftspolitik und Staatstätigkeit, vol 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95962-1_2

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