Zusammenfassung
Die klassische Rechtssoziologie hatte an die Gesellschaftstheorie anzuknüpfen versucht. Die Theorie der Gesellschaft aber war zu jener Zeit in der Auflösung begriffen. Das neu sich entwickelnde soziologische Forschungsinstrumentarium stellte theoretische und methodische Ansprüche, denen die alten Globalvorstellungen des gesellschaftlichen Ganzen nicht mehr genügen konnten. Die Theorie der Gesellschaft als des umfassenden Ganzen menschlichen Zusammenlebens brach zusammen. Das hat auch die Weiterentwiddung der Rechtssoziologie blockiert bzw. auf die Bahn des methodisch Möglichen gelenkt und zu einer Soziologie der Berufsrollen, Entscheidungsprozesse und Meinungen werden lassen, die das Recht selbst nicht mehr zum Thema hat.
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Literatur
Für diese Situation ist bezeichnend, daß die bisher einzigen nennenswerten Versuche Talcott Parsons: Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives. Englewood Cliffs/N. J. 1966, und The System of Modern Societies. Englewood Cliffs/N. J. 1971, im Widerspruch zu seinen eigenen Denkvoraussetzungen auf den klassischen Begriff der Autarkie zurückgreifen. Zur Problematik vgl. ferner Samuel Z. Klausner (Hrsg.), The Study of Total Societies. Garden City/N. Y. 1967; und als Überblick über weitere Bemühungen Wolfgang Zapf, Complex Societies and Social Change. Problems of Makrosociology. Social Science Information 7,1 (1968), S. 7–30.
Als skizzenhafte Darstellungen siehe Niklas Lubmann, Funktionale Methode und Systemtheorie. Soziale Welt 15 (1964), S. 1–25; und ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 19 (1967), S. 615–644. Neu gedruckt in: ders., Soziologische Aufklärung. KölnOpladen 1970.
Im Ergebnis ist das heute anerkannte Meinung. Vgl. z. B. Edwin M. Schur, Law and Society. A Sociological View. New York 1968, S. 107 f; Michael Barkun, Law Without Sanctions. Order in Primitive Societies and the World Community. New Haven-London 1968, S. 116 ff; und als Zusammenstellung empirischen Materials Richard D. Schwartz/James C. Miller, Legal Evolution and Societal Complexity. The American Journal of Sociology 70 (1964), S. 159 bis 169.
Diese Kombination von ‹natural causation› und moralischer Interpretation ist für die victorianische Evolutionstheorie, besonders für Spencer, kennzeichnend. Vgl. den Gesamtüberblick bei J. W. Burrow, Evolution and Society. A Study in Victorian Social Theory. Cambridge/Engl. 1966. Andere Merkmale wie ‹organisches Wachstum›, Unilinearität, Kontinuierlichkeit, Irreversibilität werden selten zusammen und zumeist von zweitrangigen Autoren vertreten und dienen mehr den heutigen Neoevolutionisten dazu, einen nicht mehr gelesenen Spencer zu diskreditieren.
Siehe zu diesem Begriff Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society. American Sociological Review 29 (1964), S. 339–357, neu gedruckt in: Ders., Sociological Theory and Modern Society. New York-London 1967, S. 490 bis 520.
Zu ähnlichen Vorstellungen kommt, von Parsons ausgehend, Alvin Bosroff, Functional Analysis as a Source of a Theoretical Repertory and Research Tasks in the Study of Social Change. In: George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change. London 1964, S. 213–243.
Mit diesem Gedanken begründet auch Talcott Parsons des öfteren seine These von der Bedeutung des Rechts für die gesellschaftliche Entwicklung. Vgl. z. B.: The Position of Identity in the General Theory of Action. In: Chad Gordon/ Kenneth J. Gergen (Hrsg.), The Self in Social Interaction. Bd. I. New York usw. 1968, S. 11–23 (21 f). Ferner Charles Ackerman/Talcott Parsons, The Concept of ‹Social System› as a Theoretical Device. In: Gordon J. Direnzo (Hrsg.), Concepts, Theory and Explanation in the Behavioral Sciences. New York 1966, S. 19 bis 40 (37 f) mit der These, daß zunehmende Differenzierung zunehmende Generalisierung und Respezifikation von Symbolen erfordere und daß neben dem Erziehungssystem das Rechtssystem die erforderlichen Respezifikationsleistungen erbringe.
Zur Verdeutlichung: In der organischen Evolution werden diese Funktionen durch (1) Mutation, (2) Überleben des Brauchbaren und (3) reproduktive Isolation erfüllt; im Lernprozeß durch (1) die Wahrnehmung einer übermäßig komplexen Umwelt, (2) Lust/Unlust-Differenzierung und (3) Gedächtnis. Zur biologischen Evolutionstheorie vgl. die (den Variationsmechanismus stärker aufgliedernde) Darstellung von G. Ledyard Stebbins, Evolutionsprozesse. Stuttgart 1968. Die Übertragung dieses allgemeinen Modells auf den Bereich kognitiven Lernens psychischer Systeme hat Donald T. Campbell, Methodological Suggestions f ronl a Comparative Psychology of Knowledge Processes. Inquiry 2 (1959), S. 152–182, angeregt. Ausführlicher ders., Variation and Selective Retention in Socio-Cultural Evolution. General Systems 14 (1969), S. 69–85. Für normative Erwartungen ist mir kein voll entsprechender Versuch bekannt. Timasheff, a. a. 0. (1939), S. 120 f, unterscheidet als Evolutionsbedingungen des Rechts (1) Suggestion neuer Möglichkeiten, von denen die Mehrzahl verworfen wird, und (2) Selektion nach gefühlsmäßiger (!) Kompatibilität mit dem geltenden Recht. Sein im wesentlichen psychologischer, auf Gefühl rekurrierender Normbegriff scheint ihn zu hindern, Mechanismen der Selektion und der Stabilisierung analytisch ausreichend zu trennen. Bei Huntington Cairns, The Theory of Legal Science. Chapel Hill/N. C. 1941, S. 29 ff, findet sich die Unterscheidung von invention, communication und social heredity.
Für die Rechtssoziologie hat namentlich Durkheim diese Entwicklungstendenz ausgewertet. Vgl. oben S. 15 f. An neueren Stellungnahmen siehe etwa David Easton, Political Anthropology. In: Bernard J. Siegel (Hrsg.), Biennial Review of Anthropology 1959, Stanford/Calif. 1959, S. 210–262; Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1770–1840. London 1959; Talcott Parsons, Some Considerations on the Theory of Social Change. Rural Sociology 26 (1961), S. 219–239; ders., Introduction to Part Two. In: Talcott Parsons/Edward Shils/Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts (Hrsg.), Theories of Society. Glencoe/Ill. 1961, Bd. I, S. 219 bis 239; Joseph Lapalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development. Princeton/N. J. 1963, S. 39 ff, 122 ff; S. N. Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution. American Sociological Review 29 (1964), S. 375–386.
In: Marshall D. Sahlins/Elman R. Service (Hrsg.), Evolution and Culture. Ann Arbor 1960, S. 38.
Hierzu näher Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Neuwied-Berlin 1969.
Eine instruktive Parallele bietet die Analyse des Spiels als Interaktionssystems von Erving Goffman, Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction. Indianapolis/Ind. 1961, S. 17 ff.
Auch in der heutigen Gesellschaft läßt sich eine Ausdifferenzierung von Verfahren natürlich nur begrenzt verwirklichen. Als Beispiel für solche Schranken findet sich instruktives Material bei Aaron V. Cicourel, The Social Organization of Juvenile Justice. New York-London-Sydney 1968, insbes. S. 172 ff.
Zu einer präziseren begrifflichen Ausarbeitung dieser Dimension ist es bisher nur in der Psychologie gekommen — auch dort bezeichnenderweise im Zusammenhang mit Entwiddungsvorstellungen. Vgl. Kurt Goldstein/Martin Scheerer, Abstract and Concrete Behavior. An Experimental Study with Special Tests. Psychological Monographs 53 (1941), No. 2 (auszugsweise übers. in: Carl F. Graumann [Hrsg.], Denken. Köln-Berlin 1965, S. 147–156); O. J. Harvey/David E. Hunt/Harold M. Schroder, Conceptual Systems and Personality Organization. New York-London 1961; und Robert Ware/O. J. Harvey, A Cognitive Deter-minant of Impression Formation. Journal of Personality and Social Psychology5 (1967), S. 38–44, mit einem Überblick über die Forschungen der letzten Jahre.
Als Äquifinalität bezeichnet Ludwig von Bertalanffy, Zu einer allgemeinen Systemlehre. Biologia Generalis 19 (1949), S. 114–129 (123 ff), die Tatsache, daß gleiche Systemzustände (hier also: Recht) aus verschiedenartigen Ausgangskonstellationen auf verschiedenartige Weise erreicht werden können. In der Rechtsethnologie ist nicht dieser Begriff, aber der Sachverhalt selbst geläufig. Vgl. statt anderer Robert Redfield, Primitive Law. In: Paul Bohannan (Hrsg.), Law and Warfare. Studies in the Anthropology of Conflict. Garden City/N. Y. 1967, S. 3–24 (21 f).
Ein typisches Beispiel bildet die äquifinale Entstehung der testamentarischen Erbfolge. Nähere Hinweise bei Huntington Cairns, The Theory of Legal Science. Chapel Hill/N. C. 1941, S. 33 ff. Als weiteres Beispiel D. Warnotte, Les origines sociologiques de l’obligation contractuelle. Brüssel 1927, S. 35 ff, für das Entstehen vertraglicher Bindungen.
Als den wohl bedeutsamsten Versuch siehe Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen. Bd. V, Berlin-Leipzig 1934.
Eine stärker aufgegliederte Typologie findet man zum Beispiel bei Georges Gurvttch, Grundzüge der Soziologie des Rechts. Neuwied 1960, S. 179 ff, oder bei A. S. Diamond, The Evolution of Law and Order. London 1951.
Dieser Vergleich nach Struktur und Entwicklungslage (statt nach historischer Zeit) hat sich als eine der sozialwissenschaftlichen Verfremdungstechniken im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Vgl. dazu J. W. Burrow, Evolution and Society. A Study in Victorian Social Theory. Cambridge/England 1966, S. 13 f, und passim.
Zu Grenzen dieses Prinzips unter rechtsethnologischen Gesichtspunkten lesenswert William Seagle, Weltgeschichte des Rechts. Eine Einführung in die Probleme und Erscheinungsformen des Rechts. München-Berlin 1951, S. 76 ff.
In der Systemtheorie wird diesem Sachverhalt dadurch Rechnung getragen, daß man Zunahme an Größe und Zunahme an Komplexität als verschiedene Variable unterscheidet. Vgl. J. W. S. Pringle, On the Parallel between Learning and Evolution. Behaviour 3 (1951), S. 174–215 (176 f); Morris Zelditch, Jr./ Terence K. Hopkins, Laboratory Experiments with Organizations. In: Amitai Etzioni (Hrsg.), Complex Organizations. A Sociological Reader. New York 1961, S. 464–478 (470 f); James D. Thompson, Organizations in Action. New York 1967, S. 74; Richard H. Hall/Eugene J. Haas/Norman J. Johnson, Organizational Size, Complexity, and Formalization. American Sociological Review 32 (1967), S. 903–912. In der Rechtssoziologie findet sich eine sehr ähnliche Unterscheidung zwischen Wachstum und Steigerung der Wirksamkeit (im Sinne besserer Eignung für beliebige Ziele) bei Barna Horvath, Rechtssoziologie. Probleme der Gesellschaftslehre und der Geschichtslehre des Rechts. Berlin 1934, S. 121 ff. Über den Zusammenhang beider Variabler (Größensteigerungen sind nicht beliebig möglich ohne Steigerung der Komplexität) besteht jedoch noch keine Klarheit.
So Rüdiger Schott, Die Funktion des Rechts in primitiven Gesellschaften. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 107–174 (133). Zahlreiche Belege finden sich bei Leopold Posplsn, Kapauku Papuas and Their Law. Yale University Publications in Anthropology No. 54, 1958. Neudruck o. O. 1964, S. 144 ff. Noch das hochkultivierte altdlinesische Recht, das hier wie in anderen Zügen archaischen Charakter bewahrt hat, mißbilligt unbedingtes Bestehen auf Rechtspositionen und fordert qua Recht Nachgiebigkeit und Kompromißbereitsdhaft. Siehe etwa Jean Escarra, Le droit chinois. Peking—Paris 1936, S. 17 f; Sybille van der Sprenkel, Legal Institutions in Manchu China. London 1962, S. 114 ff. Für Japan: Dan Fenno Henderson, Conciliation and Japanese Law. Tokugawa and Modern. Seattle-Tokyo 1965, insbes. Bd. I, S. 10, 106 ff, 127 ff, 173 ff. Für Korea: Hamm Pyong-Choom, The Korean Political Tradition and Law. Seoul 1967, S. 40 ff.
Siehe die Bemerkungen von Bronislaw Malinowski, A New Instrument for the Interpretation of Law — Especially Primitive. The Yale Law Journal 51 (1942), S. 1237–1254 (1249).
Ähnlich Ronald M. Berndt, Excess and Restraint. Social Control Among a New Guinea Mountain People. Chicago 1962, insbes. S. 393 ff. Zur Abhängigkeit des Rechts von der Machtlage und der Kampfkraft der Verwandtschaftsverbände vgl. auch R. F. Barton, Ifugao Law. University of California Publications in American Archaeology and Ethnology 15 (1919), S. 1–186; Lucy Mair, Primitive Government. Harmondsworth 1962, S. 35 ff.
Einen interessanten Beweis aus dem Gegenteil liefert das ältere Recht der Ashanti. Hier akzeptierte die Sippe Rechtsbrüche ihrer Mitglieder Außenstehenden gegenüber nicht — und infolgedessen gab es auch keine Blutrache. An deren Stelle findet man effektive, durch Ahnenkult gestützte Autorität der Häuptlinge und geridttsähnlidhe Schlichtungsverfahren. Vgl. R. S. Ratrray, Ashanti Law and Constitution. Oxford 1929, S. 294 ff. Ein anderes Gegenbeispiel aus sehr einfachen Gesellschaften: Join Gillin, Crime and Punishment Among the Barama River Carib of British Guiana. American Anthropologist 36 (1934), S. 331–344.
Für Beispiele aus dem dafür bekannten altdeutschen Recht siehe Franz Beyerle, Sinnbild und Bildgewalt im älteren deutschen Recht. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 58 (1938), S. 788–807.
Vgl. dazu John Minn, Les Africains et la notion du temps. Africa 8, 2 (1967), S. 33–41.
Auf diesen Nachweis konzentriert sich A. S. Diamond, Primitive Law. London 1935. Stärker betont werden die religiösen Bindungen bei Karl Bünger/ Hermann Trimborn (Hrsg.), Religiöse Bindungen in frühen und in orientalischen Rechten. Wiesbaden 1952, mit der bemerkenswerten Ausnahme des Beitrags von ERWIN GRär über das Recht der Beduinen.
Vgl. E. Sidney Hartland, Primitive Law. London 1924, S. 204 ff; Gunter Wagner, The Political Organization of the Bantu of Kavirondo. In: Meyer Fortes/E. E. Evans-Pritchard (Hrsg.), African Political Systems. London 1940, S. 202 f; Siegfried F. Nadel, Social Control and Self-Regulation. Social Forces 31 (1953), S. 265–273. Für einen Einzelfall — Änderung der Grenzen des Inzesttabus durch einen mächtigen Häuptling — vgl. Pospisil, a. a. O., S. 109, 165 f, 282 ff; und ders., Social Change and Primitive Law. Consequences of a Papuan Legal Case. American Anthropologist 60 (1958), S. 832–837. Ein anderes Beispiel (Verbot des Dolchtragens) bei Bruno Gutmann, Das Recht der Dsdhagga. München 1926, S. 246. Alles in allem sind unsere Informationen zu lückenhaft, um ein Urteil darüber zu erlauben, wie kurzlebig und änderbar archaische Traditionen sind.
Vgl. z. B. R. S. Rarrray, Ashanti Law and Constitution. Oxford 1929.
Für spezifisch sakralen Ritualismus läßt sich diese Überleitungsfunktion vor allem an der rechtlich-politischen Entwicklung Indiens bis zum 6. Jahrhundert vor Christus zeigen, wo sich eine eingehende Ritualisierung der Lebensführungsregeln mit einer geringen Ritualisierung des Gerichtsverfahrens selbst verbindet. Für ein mehr rechtlich traditionales Formelwesen ist diese Überleitung erkennbar in der etwa gleichzeitigen Entwicklung der antiken Stadtstaaten. Siehe Narayan Chandra Bandyopadhaya, Development of Hindu Polity and Political Theories. Bd. I, Calcutta 1927, S. 143 ff, 157; und für die Gerichtsverfahren Nares Chandra Sen-Gupta, Evolution of Ancient Indian Law. London-Calcutta 1953, der die sehr frühe Betonung von Argumentation im Verfahren unterstreicht (S. 49); Louts Gernet, Droit et prédroit en Grèce ancienne. L’année sociologique, Série 3 (1948 bis 49), S. 21–119 (insbes. 70 ff); Max Kaser, Das altrömische ius: Studien zur Rechtsvorstellung und Rechtsgeschichte der Römer. Göttingen 1949.
Hierzu gut: D. Demetracopoulou Lee, A Primitive System of Values. Philosophy of Science 7 (1940), S. 355–378.
So für die antike Rechtsentwicklung Louis Gernet, Le temps dans les formes archaïques du droit. Journal de psychologie normale et pathologique 53 (1956), S. 379–406.
Das gilt selbst für die frühen Stadien von Hochkulturen noch. Vgl. außer Gernet, a. a. O. (1956), Z. B. Hans J. Wolff, Beiträge zur Redhtsgesdtichte Altgriechenlands und des hellenistisch-römischen Ägypten. Weimar 1961, S. 34 f, 112 f. Zum relativ späten Auftreten promissorischer Eide vgl. auch Alexander Scharff/Erwin Seidl, Einführung in die ägyptische Rechtsgeschichte bis zum Ende des Neuen Reiches. Bd. I, Glückstadt-Hamburg-New York 1939, S. 29, 49 ff.
Siehe z. B. Robert M. Glasse, Revenge and Redress Among the Huli. A Preliminary Account. Mankind 5 (1959), S. 273–289.
Siehe z. B. Thurnwald, a. a. O., S. 5 f, 43 f; Bronislaw Malinowski, Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern. Wien o. J., S. 26 ff, 46 ff; Christian Sigrist, Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. Olten/Freiburg-Br. 1967, S. 112 ff; Salon, a. a. O. (1970), S. 129 ff.
Siehe dazu mit viel Material Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’echange dans les sociétés archaïques. Neu gedruckt in: DERS., Sociologie et anthropologie. Paris 1950, S. 143–279. (Dt. Obers.: Die Gabe. Frankfurt 1968.)
Siehe als experimentelle Untersuchung einer so konditionierten Reziprozität John Schoplerjvaida Diller Thompson, Role of Attribution Processes in Mediating Amount of Reciprocity for a Favor. Journal of Personality and Social Psychology 10 (1968), S. 243–250.
Vgl. z. B. Erwin Graf, Das Rechtswesen der heutigen Beduinen. Walldorf 1952, S. 41 ff; Margaret Hasluck, The Unwritten Law in Albania. Cambridge/ Engl. 1954, S. 210 ff; Isaac Schapera, The Sin of Cain. Journal of the Royal Anthropological Institute 85 (1955), S. 33–43; Sigrist, a. a. 0., S. 78, 118 ff.
Immerhin bringen es bereits archaische Gesellschaften auf einzelnen, für sie wirtschaftlich wichtigen Rechtsgebieten auch ohne staatliche Gerichtsbarkeit zu ziemlich komplizierten Regelungen. Siehe als Beispiele die letztlich nur auf Selbsthilfe gegründete Eigentumsordnung der Ifugao — nach R. F. Barton, Ifugao Law. University of California Publications in American Archaeology and Ethnology 15 (1919), S. 1–186; ferner das Recht der Yurok-Indianer nach A. L. Kroeber, Handbook of the Indians of California. Washington 1925, S. 20 ff; oder die ausgefeilten Verteilungsregeln von Wildbeutergesellschaften, über die Rüdiger Schott, Anfänge der Privat-und Planwirtschaft. Wirtschaftsordnung und Nah-rungsverteilung bei Wildbeutervölkern. Braunschweig 1956, S. 284 ff, berichtet. Für Verfahrensrecht (eingehende Regelungen trotz Fehlens einer Kompetenz zu bindender Entscheidung) siehe als Beispiel GRAF, a. a. 0. Auch die Feststellungen Von Richard D. Schwartz, Social Factors in the Development of Legal Control. A Case Study of Two Israeli Settlements. The Yale Law Journal 63 (1954), S. 471–491 (484 ff), stützen die Hypothese, daß die archaische Alternativenlosigkeit des Erwartens und Verhaltens in besonderen Interesselagen ziemlich konkret ausgefeilte Normensysteme hervorbringen kann.
Typisches Material findet man bei Hoebel, The Law of Primitive Man, a. a. O.; Franz Leifer, Zum römischen vindex-Problem. Zeitschrift für vergleichende Reditswissensdiaft 50 (1936), S. 5–62; Pospisil, a. a. O., S. 144 ff, insbes. 254 f; Berndt, a. a. O., S. 311 ff (mit Berüdcsichtigung des direkten und indirekten Einflusses der Kolonialverwaltung); vgl. ferner Thurnwald, a. a. O., S. 145 ff; Robert B. Ekvall, Law and the Individual Among the Tibetan Nomads. American Anthropologist 66 (1964), S. 1110–1115; Redfield, a. a. O. (1967), S. 8 ff. Auch ein der gewaltsamen Rechtsbehauptung nachgeschobenes Verfahren, wie es für die Australneger bezeichnend ist, kann per anticipationem mäßigend wirken.
Siehe dazu Kenelm O. L. Burridge, Disputing in Tangu. American Anthro pologist 59 (1957), S. 763–780. Das Zeitproblem zeigt sich an diesem Fall im übrigen daran, daß man bei ernsthaften Erwartungskonflikten nicht auf das zu Beginn der Saison fällige Fest warten konnte, sondern ein entsprechendes Fest ad hoc improvisieren mußte.
Eindrucksvolles Material bei Heinrich Siegel, Die Gefahr vor Gericht und im Rechtsgang. Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 51 (1865), S. 120–172.
Diesen Gesichtspunkt beleuchtet Frederick Pollock, English Law Before the Norman Conquest. The Law Quarterly Review 14 (1898), S. 291–306. Vgl. auch Erich Gaisser, Minne und Recht in den Schöffensprüchen des Mittelalters. Diss. Tübingen 1955. Siehe ferner die oben S. 149, Fußn. 24 gegebenen Hinweise auf fernöstliche Rechtsordnungen.
Das betont Otto von Zallinger, Wesen und Ursprung des Formalismus im altdeutschen Privatrecht. Wien 1898, und stützt auf dieses Argument die These, daß Formalismus kein ursprünglich-ardiaisches Rechtsmerkmal ist, sondern in der Phase des Übergangs zu verfahrensabhängigem, höher kultiviertem Recht entsteht.
Vgl. den Überblick bei L. T. Hoshouse/G. C. Wheeler/M. Ginsberg, The Material Culture and Social Institutions of the Simpler Peoples. An Essay in Correlation. London 1915, S. 80.
Bezeugt ist die umgekehrte Beziehung: daß die räumliche Entfernung des Verbrechers ein politisches Mittel war, Blutrache zu unterbinden. Vgl. T’uNG-Tsu Ca’Ü, Law and Society in Traditional China. Paris-Den Haag 1961, S. 82 f.
Vgl. Seagle, a. a. O., S. 115. Für die weitere Geschichte dieses Problems siehe C. J. Ribbon-Turner, A History of Vagrants and Vagrancy and Beggars and Begging. London 1887.
Vgl. dazu als überblick S. N. Eisenstadt, Primitive Political Systems. A Preliminary Comparative Analysis. American Anthropologist 61 (1959), S. 200 bis 220; David Easton, Political Anthropology, a. a. O.; Lucy Mair, a. a. O.
Zum Funktionieren von Politik und Verwaltung auf dieser sozialstrukturellen Grundlage vgl. M. G. Smith, On Segmentary Lineage Systems. The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 86 (1956), S. 39 bis 80; Lloyd Fallers, Political Sociology and the Anthropological Study of African Politics. Europäisches Archiv für Soziologie 4 (1963), S. 311–329; Main, a. a. O. Für Einzelbeispiele siehe ferner Isaac Schapera, Government and Politics in Tribal Societies. London 1956; John Middleton/David Tait (Hrsg.), Tribes Without Rulers. Studies in African Segmentary Systems. London 1958; F. Barth, Political Leadership Among the Swat Pathans. London-New York 1959; I. M. Lewis, A Pastoral Democracy. A Study of Pastoralism and Politics Among the Northern Somali of the Horn of Africa. London-New York-Toronto 1961; Jan van Velsen, The Politics of Kinship. A Study in Social Manipulation Among the Lakeside Tonga of Nyasaland. Manchester 1964; Sigrist, a. a. O.
Diesen Aufbau kontrastiert mit einfacheren archaischen Strukturen Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief. Political Types in Melanesia and Polynesia. Comparative Studies in Society and History 5 (1962–63), S. 285–303. Solche Hierarchien auf segmentärer Grundlage müssen von den späteren Hierarchien politisch konstituierter Gesellschaften unterschieden werden. Der Vorrang des höheren Häuptlings gründet sich lediglich darauf, daß er die gleichen Funktionen wie die unteren für einen größeren (umfassenden) Verband erfüllt, nicht aber, wie-in späteren Gesellschaften, auf ein Monopol für spezifische Funktionen (z. B. für Entscheidung über Gewaltanwendung) und eine dafür ausdifferenzierte Sonderstellung. Auch die Hierarchien segmentärer Gesellschaften sind mithin nach dem Prinzip der Segmentierung und nicht nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung konstruiert. Entsprechend fehlt den übergeordneten Häuptlingen, die gleichsam nur ‹Groß-Väter› sind, zumeist die Kraft, ohne Absicherung durch breiten Konsens oder durch weiten verwandtschaftlichen Anhang bindende Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Ihre Macht wird in der umfassenderen, höheren Stellung geringer in dem Sinne, daß sie in der Familie, der sie vorstehen, größer ist als in der Sippe, der sie vorstehen, dort größer als im Stamm und dort größer als in der Konföderation von Stämmen, die sie leiten. Seit Aidan W. Southall, Alur Society. A Study in Processes and Types of Domination. Cambridge/Engl., o. J. (1953), unterscheidet man diesen älteren Typus auch begrifflich als ‹pyramidenhaften› Aufbau der Gesellschaft von Hierarchien im engeren Sinne.
Zu den Stabilisierungsproblemen soldier politischer Herrschaften vgl. S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires. New York-London 1963, und für frühere Stadien der Entwicklung auch Sigrist, a. a. O., insbes. S. 240 ff.
«Es brachte eine Umwertung aller Werte mit sich, als man aus dem lockeren Staat der Selbsthilfe in den Polizeistaat hineinschritt», sagt Andreas Heusler, Germanentum. 2. Aufl., Heidelberg 1936, S. ii, für das Mittelalter.
Hierzu und zur Einstellung eines heiligen Rechts auf die damit gegebene faktische Lage bietet das islamische Recht ein gutes Beispiel. Vgl. Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law. Oxford 1964.
So Joseph Schacht, Zur soziologischen Betrachtung des islamischen Rechts. Der Islam 22 (1935), S. 207–238 (221).
Vgl. zum Inhaltlichen dieses Rechtsverständnisses z. B. Jean Escarra, La conception chinoise du droit. Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique 5 (1935), S. 7–73; ders., Le droit chinois. Peking-Paris 1936, S. 7–84; und zur Auswirkung auf die Gesetzgebung Karl Bünger, Die Rechtsidee in der chinesischen Geschichte. Saeculum 3 (1952), S. 192–217; Ch’ü T’ung-Tsu, Law and Society in Traditional China. Paris-Den Haag 1961.
Dazu am Beispiel von Indianerstämmen Walter B. Miller, Two Concepts of Authority. The American Anthropologist 57 (1955), S. 271–289.
Diese Problematik zeigt sich vor allem an den Schwierigkeiten, die Nachfolge in Herrschaftsrollen reibungslos zu regulieren — ein strukturbedingtes Problem, das aus größeren Stammesgesellschaften mit bevorzugten Häuptlingsfamilien bekannt ist und auch die vorneuzeitlichen Großreiche immer wieder in Krisen brachte. Vgl. z. B. Jack Goody (Hrsg.), Succession to High Office. Cambridge/ England 1966.
Zu diesem in der neueren soziologischen Theorie sehr wichtig gewordenen (auch Statuskristallisation oder Statuskonsistenz genannten) Begriff vgl. z. B. George C. Homans, Social Behavior. Its Elementary Forms. New York 1961, S. 232 ff.
Eine nicht selten vertretene These. Vgl. z. B. Barna Hoxvath, Rechtssoziologie. Probleme der Gesellschaftslehre und der Geschichtslehre des Rechts. Berlin 1934, S. 269 ff; Hoebel, a. a. O., S. 329.
Zu den theoretischen Grundlagen vgl. namentlich Johan Galtung, Institutionalized Conflict Resolution. Journal of Peace Research 1965, S. 348–397.
Diesen innovativen, nicht aus archaischen Schlichtungsverfahren entwikkelten Charakter politisch eingesetzter Justiz hat Hans Julius Wolff, Der Ursprung des gerichtlichen Rechtsstreits bei den Griechen. In: ders., Beiträge zur Redhtsgeschidhte Altgriechenlands und des hellenistisch-römischen Ägypten. Weimar 1961, S. 1–90, herausgearbeitet. Für Babylon legt Julius Georg Lautner, Die richterliche Entscheidung und die Streitbeendigung im altbabylonischen Prozeß-rechte. Leipzig 1922, eine ähnliche Deutung nahe. Vgl. aber auch unten Fußn. 86.
Sehr gut lassen diese Unterschiede sich ablesen an den Schwierigkeiten, die die Einführung des englischen Prozeßsystems in Indien bereitete. Bernard S. Cohn, Some Notes an Law and Change in North India. Economic Development and Cultural Change 8 (1959), S. 79–93, neu gedruckt in: Paul Bohannan (Hrsg.), Law and Warfare. Studies in the Anthropology of Conflict. Garden City/N. Y. 1967, S. 139–159, hat zum Beispiel festgestellt, daß im traditionellen indischen Rechtsverfahren aus gesellschaftsstrukturellen Gründen eine Neutralisierung des Status und vor allem der Kastenzugehörigkeit der Beteiligten nicht möglich war (diese vielmehr die wesentliche Grundlage des Schlichtungsverfahrens abgab), daß die allgemeine Aufgabe der Streitschlichtung eine Spezifikation auf Rechtsentscheidung nicht zuließ, deshalb auch der Einzelfall rechtsthematisch nicht isoliert werden konnte und all dies verbunden war mit einem relativ geringen Grad effektiver Verwendung der literarischen Hindu-Rechtstradition. Der Einführung des englischen Gerichtsverfahrens fehlten demzufolge die gesellschaftlichen Voraussetzungen, so daß solche Verfahren als Mittel für illegale Positionsgewinne, nicht aber zur Entscheidung der eigentlichen Rechtsstreitigkeiten benutzt wurden. Auch für fernöstliche Rechtssysteme ist aus ähnlichen Gründen eine relative Ineffizienz der Gerichtsverfahren bezeugt. Siehe die Literaturhinweise oben S. 149, Fußn. 24.
Siehe dazu die von A. L. Epstein, Judicial Techniques and the Judicial Process. A Study in African Customary Law. Manchester 1954, beobachteten Einzelfälle. Vgl. ferner Paul J. Bohannan, Justice and Judgment Among the Tiv. London 1957, und zur Vergleichbarkeit mit späteren Entscheidungsverfahren Max Gluckman, African Jurisprudence, a. a. O., S. 439–454 (441 ff.)
Dazu allgemein Gresham M. Sykes/David Matza, Techniques of Neutralization. A Theory of Delinquency. American Sociological Review 22 (1957), S. 664 bis 670; und David Matza, Delinquency and Drift. New York-London-Sydney 1964, S. 60 ff, 75 ff, u. ö.
Vgl. Max Gluckman, The Ideas in Barotse Jurisprudence. New Haven 1965; ders., Reasonableness and Responsibility in the Law of Segmentary Societies. In: Hilda Kuper/Leo Kuper (Hrsg.), African Law. Adaptation and Development. Berkeley-Los Angeles 1965, S. 120–146; Siegfried F. Nadel, Reason and Unreason in African Law. Africa 26 (1956), S. 160–173; Edward Green, The Reasonable Man. Legal Fiction or Psychosocial Reality? Law and Society Review 2 (1968), S. 241–257.
Eine gute Illustration dieser Entwicklungsschwierigkeiten gibt Louts Gernet, Sur la notion du jugement en droit Grec. In: Ders., Droit et société dans la Grèce ancienne. Paris 1955, S. 61–81. Gernet zeigt, daß trotz hoher Entscheidungsautonomie der athenischen Gerichtsverfahren der klassischen Zeit das Urteil selbst immer noch als Eingriff in den Rechtsstreit und dessen Beendigung, nicht aber als Prüfung von bloßen Rechtsbehauptungen an vorbestehenden Normen begriffen wurde.
Dazu Bemerkungen bei Vilhelm Autbert, The Hidden Society. Totowa/N. J. 1965, S. 102 f.
Vgl. die Interpretationen von Erik Wolf, Griedhisdtes Rechtsdenken. Bd. I und II, Frankfurt/Main 1950 und 1952.
So auch J. Walter Jowzs, The Law and Legal Theory of the Greeks. An Introduction. Oxford 1956, S. 150 f. Darin findet sich, in den oben S. 85 ff entwikkelten Begriffen ausgedrüdct, ein Hinweis auf eine geringe Differenzierung der Sinnebenen Person, Rolle, Programm und Wert.
Für das altbabylonische Recht scheint diese Frage ungeklärt zu sein. Vgl. Julius Georg Lautar, Die richterliche Entscheidung und die Streitbeendigung im altbabylonischen Prozeßrecht. Leipzig 1922, S. 10. Für altgriechisches Recht siehe Wolff, a. a. 0. (1961), S. 23 ff.
Vgl. die an den Julian-Text D 1.3.32 anschließende Diskussion und dazu Dieter Nörr, Zur Entstehung der gewohnheitsrechtlichen Theorie. Festschrift für Wilhelm Felgentraeger. Göttingen 1969, S. 353–366. Für das Mittelalter William E. Brynteson, Roman Law and Legislation in the Middle Ages. Speculum 41 (1966), S. 420–437. Eine rückläufige Entwicklung in umgekehrter Richtung hat Joseph Schacht am islamischen Recht beobachtet. Siehe: Zur soziologischen Betrachtung des islamischen Rechts. Der Islam 22 (1935), S. 207–238 (215).
Siehe vor allem Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. 3. Aufl. München 1965; und Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. Tübingen 1956.
Dazu einige Bemerkungen und Literaturhinweise bei S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires. New York-London 1963, S. 98 f, im Anschluß an die entsprechenden Kategorien Parsons’.
Vgl. den glänzenden Essay ‹Vom römischen Juristen› in: Franz Wieacker, Vom römischen Recht. Leipzig 1944, S. 7 ff (zuerst in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 99 (1939), S. 440 ff). Ausführlich ferner Wolfgang Kunkel, Herkunft und soziale Stellung des römischen Juristen. 2. Aufl., Graz-Wien-Köln 1967, und für die spätere Entwicklung Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl. München-Berlin 1966.
Die mit Ausnahme von England wohl durchgehende Abneigung gegen bezahlte Juristentätigkeit, die sich von moralischer Diskreditierung über rechtliche Verbote bzw. Klagehindernisse bis zur Strafbarkeit des falschen Beschuldigen und des Anreizens zum Rechtsstreit steigern konnte, hat ihre Gründe wesentlich in den geschilderten Rollenproblemen und weiter in der Befürchtung, durch Bezahlung ein Interesse an der Entfadhung und Verlängerung von Streitigkeiten zu wecken. Daneben mögen auch rein rhetorische Motive eine Rolle gespielt haben. So traten attische Gerichtsredner als uneigennützige ‘Freunde» ihrer Auftraggeber auf, was ihnen zugleich eine wirkungsvollere Identifikation mit dem vertretenen Standpunkt erlaubte. (Vgl. Robert J. Bonner, Lawyers and Litigants in Ancient Athens. The Genesis of the Legal Profession. Chicago 1927, insbes. S. 200 ff.) Auch über diese Schwierigkeiten kann im übrigen ein anerkanntes Ethos der Profession hinweghelfen, das die rein sachbestimmte Motivation des Rechtsvertreters postuliert und die Äußerung von Zweifeln daran unterbindet.
Zum Nebeneinander von hochkultiviertem Juristenrecht und Dorfjustiz in Indien vgl. Bernard S. Cohn, Anthropological Notes an Disputes and Law in India. American Anthropologist 67 (1965), Part II, No. 6, S. 82–122.
Die wohl bekannteste Ausformung dieses Gedankens findet sich im Hindu-Recht, zusammengefaßt im Begriff des Dharma, der zugleich dieses Prinzip und die Gesamtheit der es realisierenden Prinzipien und Verhaltensvorschriften ausdrückt. Vgl. z. B. Narayan Chandra Bandyopadhaya, Development of Hindu Polity and Political Theories. Part I. Calcutta 1927, insbes. S. 269 ff, 285 ff; und zu den Ansätzen zur Differenzierung von Dharma und positivem Recht U. C. SARItAR, Epochs in Hindu Legal History. Hoshiarpur 1958, S. 21 ff. Vgl. ferner R. Lingat, Evolution of the Conception of Law in Burma and Siam. The Journal of the Siam Society 38 (1950), S. 9–31. Für China vgl. T’ung-Tsu Ch’ü, Law and Society in Traditional China. Paris-Den Haag 1961, S. 213 ff, und für Japan Dan Fenno Henderson, Conciliation and Japanese Law. Tokugawa and Modern. Seattle-Tokyo 1965, Bd. I, S. 47 ff. Siehe weiter eines der ältesten Zeugnisse vorsokratisdier Philosophie, das Fragment des Anaximandros («Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt gemäß der Notwendigkeit. Denn sie leisten einander Sühne und Buße für ihr Unrecht gemäß der Ordnung der Zeit»), das Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Bd. I, 3. Aufl., Berlin 1954, S. 217 ff, als eine Generalisierung der Rechtsidee der Polis deutet: Die Welt gesehen als ‹Redhtsgemeinschâft der Dinge›.
Hierzu eindrucksvoll die Ausführungen über die symbolträchtige Organisation und das Zeremoniell der älteren siamesischen Bürokratie bei Fred W. Riggs, Thailand. The Modernization of a Bureaucratic Polity. Honolulu 1966.
Vgl. dazu Joachim Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles. Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 46 (1960), S. 179–199; ders., ‹Naturrecht› bei Aristoteles. Stuttgart 1961; DERS., ‹Politik› und ‹Ethik› in der praktischen Philosophie des Aristoteles. Philosophisches Jahrbuch 74 (1967), S. 235–253; die letzten beiden Abhandlungen neu gedruckt in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt 1969; Manfred Riedel, Zur Topologie des klassisch-polirischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs. Archiv für Redits- und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291–318 (295 f); sowie als Quellentexte Aristoteles, Nikomadiische Ethik, Buch VIII, Kap. 11 ff, und Eudemische Ethik, Buch VII, Kap. 9 f.
Zum Teil fehlte sogar eine Möglichkeit sprachlicher Differenzierung von Wahrheit und Recht; so für Ägypten Alexander Scharff/Erwin Seidl, Einführung in die ägyptische Rechtsgeschichte bis zum Ende des Neuen Reiches. Bd. I, Glückstadt-Hamburg-New York 1939, S. 42; John A. Wilson, Authority and Law in Ancient Egypt. Journal of the American Oriental Society 74 (1954), Supplement S. 1–17 (6 f).
Vgl. Leang K’i-Tch’ao, La conception de la loi et les théories des Légistes d la veille des Ts’in. Peking 1926; J. J. L. Duyvendar, The Book of Lord Shang. A Classic of the Chinese School of Law. London 1928; Joseph Needham, Science and Civilization in China. Bd. 2, Cambridge/Engl. 1956, S. 204 ff, 518 ff; Ch’ü T’ung-Tsu, Law and Society in Traditional China. Paris-Den Haag 1961, S. 226 ff; Léon Vandermeersch, La formation du légisme. Paris 1965; Su Jyun-Hsyong, Das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehre. Diss. Freiburg 1966, insbes. S. 44 ff.
Vgl. als Überblick J. Walter Jones, The Law and Legal Theory of the Greeks. An Introduction. Oxford 1956, S. 34–72; und zur mittelalterlichen Rezeption besonders Sien Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung. Stockholm-Uppsala-Göteborg 1960, S. 179 ff.
Mit Recht weist auch Siegfried F. Nadel, Reason and Unreason in A f rican Law. Africa 26 (1956), S. 160–173 (164 f), darauf hin, daß die Verwendung von Begriffen der Vernunft und natürlichen Gerechtigkeit erst in Gesellschaften zu finden sei, die in Rechtsangelegenheiten eine Vorstellung anderer Möglichkeiten bilden könnten, sich also Recht als selektiv und nicht einfach als gegeben denken können. Siehe auch Francisco Elias de Tejada, Bemerkungen über die Grundlagen des Banturechts. Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 46 (1960), S. 503 bis 535 (532).
Nahestehend Helmut Coing, Naturrecht als wissenschaftliches Problem. 2. Aufl. Wiesbaden 1966. Coing benutzt jedoch den Gedanken der strukturellen Limitation zur Interpretation des historisch überlieferten Naturrechtsgedankens und setzt diese Überlieferung damit fort, während wir umgekehrt den Naturrechtsgedanken als eine Interpretation der strukturellen Limitation des Rechts ansehen, die heute durch systemtheoretische Interpretationen mit Berücksichtigung höherer Eigenleistungen des sozialen Systems ersetzt werden muß.
Ältere Bedeutungen des Begriffs bezogen sich auf das Schwankende und Irrige der Volksmeinung, das Angelernte im Gegensatz zum Charakterlichen, das Zufällige, den unverbindlichen Brauch, die reine Setzung — alles Konnotationen, die im Gedanken der Selektivität konvergieren und mit dieser aufgewertet werden. Vgl. dazu loten W. Beardsley, The Use of Physis in Fifth-Century Greek Literature. Diss. Chicago 1918, S. 68 ff. Für die spätere Bedeutungsgeschichte ist bezeidmend; daß nomos (besonders in der Unterscheidung von nomos idios und nomos koinos; Aristoteles, Rhetorik 1373b 4 ff) zum Oberbegriff avanciert und als
Vgl. dazu Emile Szlechter, La ‹loi› dans la Mésopotamie ancienne. Revue internationale des droits de l’antiquité. 3. série 12 (1965), S. 55–77. Siehe audi die in Altägypten praktizierte Regel, daß der Wesir sich täglich außerhalb des Gerichtssaales zu ergehen habe, um so auch Schüchternen, Armen und Schwachen eine Gelegenheit zu bieten, ihre Anliegen vorzubringen.
Trotz dieses Vorbildes hat es nicht nur verbale Tradition, sondern auch Wiederholungen dieser Entwiddung selbst gegeben. So zeigt Walther Schönfeld, Das Redhtsbewußtsein der Langobarden. Festschrift Alfred Schultze, Weimar 1934, S. 283–391 (283 ff), daß sich im Volksrecht der Langobarden eine allmähliche Trennung von lex iudicium und iustitia aus einer ursprünglich undifferenzierten Einheit beobachten läßt, verbunden mit einer Läuterung der iustitia «von der Genugtuung, die sie ursprünglich war und ist, zu der Gerechtigkeit, die sie allmählich wird» (S. 301).
Dasselbe Problem erfaßt Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure. 2. Aufl., Glencoe/Ill. 1957, S. 131 ff, treffend, aber sehr viel konkreter als Auseinanderklaffen von Zielen und Mitteln sozial erfolgreichen Handelns.
Unter diesem Gesichtspunkt habe ich die Funktion der Grundrechte interpretiert in: Grundrechte als Institution — Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin 1965.
Die Quellenlage bietet freilich beträchtliche Schwierigkeiten für die Ermittlung der Bedeutung dieser ältesten ‹Gesetze› und des ihnen zugrunde liegenden Rechtsdenkens. Vgl. Emile Szlechter, La ‹loi› dans la Mésopotamie ancienne. Revue internationale des droits de l’antiquité, 3. sér. 12 (1965), S. 55–77; Wolfgang Preiseic, Zur rechtlichen Natur der altorientalischen ‹Gesetze›. Festschrift für Karl Engisdl. Frankfurt 1969, S. 17–36.
«whidt in time become norms», formuliert bezeichnenderweise Jan Vansina, A Traditional Legal System: The Kuba. In: Hilda Kuper/Leo Kuper (Hrsg.), African Law. Adaption and Development. Berkeley-Los Angeles 1965, S. 97–119 (117). Vgl. auch oben S. 152, Anm. 36.
Vgl. statt anderer Hermann Krause, Kaiserredht und Rezeption. Heidelberg 1952; dort S. 54: «Bewußte Schaffung neuen Rechts durch den Kaiser war ein revolutionärer Gedanke, der Zeit brauchte, um sich durchzusetzen. Er war auf lange mehr ein politisches Prinzip oder eine politische Möglichkeit denn ein gesicherter Teil des Staatsrechts. Er war in seiner Auswirkung schwankend, er ließ aus sich heraus ganz im unklaren, ob der Kaiser allein oder nur im Verein mit den Großen des Reiches Gesetze zu geben in der Lage sei, und er blieb unausgeglichen oder in einer Art von Gemengelage mit der überlieferten, konservativen Rechtsauffassung.» Vgl. auch Ders., Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 82 (1965), S. 1–98.
Siehe für das Mittelalter z. B. Carleton Kemp Allen, Law in the Making. 6. Aufl., Oxford 1958, S. 420 ff; G. Barraclough, Law and Legislation in Medieval England. Law Quarterly Review 56 (1940), S. 75–92; T. F. T. Plucknett, Legislation of Edward I. Oxford 1949; Rolf Sprandel, Ober das Problem des neuen Rechts im früheren Mittelalter. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 79 (1962), S. 117–137 (122); Hans Martin Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechts im frühen und hohen Mittelalter. In: Paul Wilpert (Hrsg.), Lex et sacramentum im Mittelalter. Berlin 1969, S. 157 bis 188; ferner Weber, a. a. O., S. 185.
Für das langobardische Edikt stellt z. B. Walther Schönfeld, Das Rec htsbewußtsein der Langobarden. Festschrift Alfred Schultze, Weimar 1934, S. 283 bis 391 (323), mit Einzelnachweisen fest: «Das Edikt ist nicht erlassen, das Alte aufzulösen, sondern es zu erfüllen, es zu erneuern, zu verbessern, klarzustellen, Unsicherheiten und Irrtum zu beseitigen und Lücken auszufüllen.» — Für den Höhepunkt gesetzgeberischer Ambitionen des älteren Indiens formuliert Charles Drekmeier, Kingship and Community in Early India. Stanford/Cal. 1962, S. 234: «In varying degrees, Mauryan kings had assumed a legislative function. The theory that emerged after the fact held that the royal edict, räjâsksana, must harmonize with customary and sacred law. Rajashasana is not properly king-made law, but is more in the nature of a commentary, an administrative edict, a codification, or an attempt to enlighten the public on the subject of dharma.» Dem wäre anzufügen, daß solche Beschränkungen zumeist nicht deutlich als abstrakte Gültigkeitsbedingungen des gesetzten Rechts, sondern ineins damit als Klugheitsregeln fürstlicher Praxis, als Erfolgsbedingungen in einem undifferenziert naturhaft-moralischen Sinne formuliert sind. - Zur chinesischen Gesetzgebung und ihrer Prägung durch eine literarisch kodifizierte Moral vgl. Karl Bünger, Die Rechtsidee in der chinesischen Geschichte. Saeculum 3 (1952), S. 192 bis 217; Joseph Needham, Science and Civilisation in China. Bd. II, Cambridge/ Engl. 1956, S. 518 ff, zum Fehlen eines Gesetzesbegriffs besonders S. 543 ff.
Vgl. zum allgemeinen Kontext dieser spät einsetzenden Problematisierung von Geltungskriterien Dieter Nörr, Zur Entstehung der gewohnheitsrechtlichen Theorie. Festschrift für Wilhelm Felgentraeger. Göttingen 1969, S. 353–366; ferner William E. Brynteson, Roman Law and New Law. The Development of a Legal Idea. Revue internationale des droits de l’antiquité, 3. série 12 (1965), S. 203 bis 223; KRAUSE, a. a. 0. (1965), S. 52 ff, 97 f.
Vgl. Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschidite der Gesetzgebung. Stockholm-Uppsala-Göteborg 1960, S. 15 ff, zum gemeineuropäischen Charakter dieser Umstellung. Auch die damaligen Ansätze zu einer Gesetzgebungswissenschaft finden heute wieder Beachtung. Vgl. Gerhard Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht. Juristenzeitung 24 (1969), S. 1–7, und zum damaligen Begriff von Positivität Jürgen Blühdorn, Zum Zusammenhang von ‹Positivität› und ‹Empirie› im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Jürgen Blühdorn/Joachim Rttrer (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert. Frankfurt 1971, S. 123–159.
Die Vermittlung hat, wie übrigens auch in anderen Verfahrensfragen, vor allem das kanonische Recht geleistet, an das die Legisten anknüpften. Dort war es das Erfordernis straff zentralisierter kirchlicher Organisation, hier vor allem die politische Sicherung des Landfriedens, die die Anknüpfung an das römische Muster nahelegten. Vgl. Max Jörg Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet. Ein Beitrag zur historischen Strukturanalyse der modernen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. Basel 1957; Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 75 (1958), S. 206–251 (231 ff); Gagnér, a. a. O., S. 288 ff; ferner Krause, a. a. O. (1965); Klinkenberg, a. a. O.; und William E. Brynteson, Roman Law and Legislation in the Middle Ages. Speculum 41 (1966), S. 420–437, mit Belegen für die durchgehende Erhaltung des Gedankens der Gesetzgebung auch im frühen Mittelalter.
Vgl. statt anderer Thomas von Aquin, Summa Theologiae II, 1 qu. 91 ff. Einen guten Überblick über die Gedankenentwidklung findet man bei Odon Lottin, Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles. Bd. II, 1, Louvain-Gembloux 1948, S. 11 ff. Vgl. ferner Gaines Post, Studies in Medieval Legal Thought. Princeton 1964, insbes. S. 494 ff; und speziell unter dem Gesichtspunkt gedanklicher Begründung positiven Rechts Gagner, a. a. O., S. 121 ff.
Siehe hierzu allgemein Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 1966.
Siehe dazu die viel zitierten, in manchem aber überholten Ausführungen von Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter. Historische Zeitschrift 120 (1919), S. 1–79, Neudruck Tübingen 1952. Zu ‹alt› und ‹neu› im frühen Mittelalter vgl. ferner Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters. Köln-Graz 1957.
Vgl. Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Redit. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 75 (1958), S. 206–251. Für Parallelen in der Antike siehe Max Müht, Untersuchungen zur altorientalischen und althellenischen Gesetzgebung. Klio, Beiheft N. F. 16, Leipzig 1933, S. 88 ff.
Genau dies war einer der — im großen und ganzen erfolglosen — Wege, auf dem griechische Stadtstaaten die Uferlosigkeit der konstitutionell und verfahrensmäßig an sich eröffneten Möglichkeit zur Gesetzesänderung einzudämmen suchten — nämlich dadurch, daß sie wie Polybios (XII, 16) besonders drastisch für die Lokrer bezeugt, die Antragstellung mit den Risiken eines Rechtsbruchs belasteten (also vom zu ändernden Recht her normierten). Dabei waren, zumindest in dem von PoLYBIos berichteten Fall, Revision einer Auslegung des geltenden Rechts und Rechtsänderung noch nicht klar unterschieden. Das Gesetzgebungsverfahren wurde organisiert nach dem Modell des Gerichtsverfahrens wie ein Rechtsstreit zwischen Vertretern des neuen und Vertretern des alten Rechts. Zu den Spätformen der Paranomie-Klage und der Klage nomon me epitedeion theinai in Athen, die schon auf Verstöße gegen vorrangiges Recht bzw. auf Formalverstöße gegen Regeln der Antragstellung, also auf übersehbare und angesichts der Kodifizierung des Rechts vermeidbare Verstöße eingeschränkt waren, vgl. Ulrich Kahrstedt, Untersuchungen zu athenischen Behörden. Klio 31 (1938) S. 1–32 (19 ff); und K. M. T. Atkinson, Athenian Legislative Procedure and Revision of the Laws. Bulletin of the John Rylands Library 23 (1939), No. 1, S. 107–150 (130 ff). Als Alternative dazu bot sich die Möglichkeit, das Antragsrecht den Magistraten vorzubehalten, eine Lösung, die zum Beispiel in Rom gewählt wurde und unter den dortigen Bedingungen politisch besser zu meistern war.
Zu den Anfängen siehe Ingeborg Bode, Ursprung und Begriff der parlamentarischen Opposition. Stuttgart 1962, insbes. S. 13 ff, 85 ff.
So mit Recht gegen Tendenzen zu überspitzter Kontrastierung Hans Peter Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht. Bemerkungen zum Beruf der Rechtsprechung im demokratischen Gemeinwesen. Frankfurt 1969. Audi Joszr EssaR sieht den riditerlidten Entsdheidungsprozeß als Prozeß der Positivierung von Redit. Siehe: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. Tübingen 1956, und: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Frankfurt 1970.
Siehe statt anderer Emile Durkheim/Marcel Mauss, De quelques formes primitives de classification. Contribution d l’étude des représentations collectives. L’année sociologique 6 (1901–02), S. 1–72.
Hierzu Niklas Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Berlin 1966, S. 52 ff.
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Luhmann, N. (1983). Recht als Struktur der Gesellschaft. In: Rechtssoziologie. WV studium, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95699-6_4
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