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Jugend 1945 pp 113–137Cite as

Gruppenmentalität und „vorherrschender Ton“

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Zusammenfassung

Wandlungen der politischen Mentalität sind nicht nur als individuelle Prozesse zu begreifen. Individuen leben in Gruppen, Kinder und Jugendliche wachsen in Gruppen und Gesellschaften mit ihren Verhaltensnormen hinein und adaptieren diese. Erst innerhalb des Rahmens der Sozialisa-tionsbedingungen können sich dann individuelle Lebensgeschichten ausprägen, wie wir sie im vorigen Kapitel betrachtet haben1. Eine ausschließliche Beschränkung unserer Beobachtungen auf solche Lebensgeschichten birgt die Gefahr in sich, die Abhängigkeit des Individuums von seiner jeweiligen sozialen Gruppe zu schwach auszuleuchten. Dieser Gefahr soll mit dem folgenden Kapitel begegnet werden.

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Anmerkungen zu Kap. 4

  1. Vgl. in diesem Zusammenhang Gabriele Rosenthal: „... Wenn alles in Scherben fällt... “. Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration. Opladen: Leske + Budrich 1987, S. 82–100. — In einigen Schlußfolgerungen kann ich der Verfasserin nicht beipflichten, so z.B. in der Konstruktion eines quasi lückenlosen Zusammenhangs von nationalsozialistisch begründetem zu wirtschaftlich-erfolgsorientiertem Aktivismus nach dem Motto: „Jeder, der fleißig und strebsam ist, kann auch etwas werden.“ (S. 108) Hier wird der tiefe Einbruch in alle Formen optimistischer Zukunftsvorstellungen, wie sie das Kriegsende und die folgenden Jahre der Ungewißheit für fast alle Menschen mit sich brachte, unterschätzt. Auch wird nicht gesehen, daß das Klischee vom self made man ein typischer Ausdruck amerikanischer Alltagsideologie ist, die erst im Laufe des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs und der starken Amerikanisierung in die Bundesrepublik eindrang.

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  2. Dabei darf nicht vergessen werden, daß es größter bildungspolitischer und pädagogischer Anstrengungen bedurfte, um solche demokratischen Positionen durchzusetzen. Das gelang nur langsam gegen den erbitterten Widerstand derer, die darin lediglich gemein-schaftsgefährdende Bestrebungen und die Anstiftung zum Ungehorsam sahen.

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  3. Auf die persönlichkeitsgefährdende Wirkung gerade in der Pubertät und Frühadoleszenz, die von solchen ungebremsten Meinungstyrannen in Gruppen ausgeht, habe ich am Beispiel der Luftwaffenhelfer hingewiesen. Vgl. Luftwaffenhelfer und Drittes Reich. Die Entstehung eines politischen Bewußtseins. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 110ff.

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  4. Hier sind vor allem Lt.Col. Henry Faulk sowie Sir Heinz Koeppler, Capt. Herbert Sulzbach und Capt. Charles Stambrook zu nennen.

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  5. Das amerikanische War-Department schätzte im Juli 1944, unter den deutschen Kriegsgefangenen befänden sich 8–12% überzeugter Nazis, dazu weitere 40% von Nazi-Sympathisanten. Es wird aber bereits das Problem erkannt, daß der Begriff „Nazi“ ungenau sei. Nach einer weiteren Schätzung vom September 1944 befanden sich unter den 325000 deutschen Gefangenen, die damals in den USA waren, 40–50000 den Nazis zuneigende Soldaten. Das 1944 gegründete Komitee für die Umschulung von nationalsozialistischen Kriegsgefangenen, dem so bekannte Persönlichkeiten wie Gerhard Seger, Luis Lochner, Dorothy Thompson und Thomas Mann angehörten, schätzte die Zahl der fanatischen Nazis unter den Gefangenen auf 25 %, die Zahl der Antinazis auf 15 % und die Zahl der Dazwischenstehenden auf 60%. In Studien, die 1944/45 angestellt wurden, setzte man den Prozentsatz der fanatischen Nazis auf 8–10 %, den der sehr positiv zum Nationalsozialismus Eingestellten auf 30 % an. Eine andere Studie spricht von 13 % Nazis, 13 % Antinazis, 74 % neutral; wiederum an anderer Stelle wird gesagt, unter den jüngeren Kriegsgefangenen glaubten 20 % an den Nationalsozialismus. Im März 1945 erklärte der ranghöchste, für das Kriegsgefangenenwesen zuständige amerikanische Offizier, Provost-Marshall Lerch, etwa 5–10% der Belegschaft praktisch jeden Lagers bestehe aus nationalsozialistischen Fanatikern, die das Leben und Treiben aller anderen Gefangenen beherrschten. Das Verteidigungsministerium von Kanada hielt sich in seiner Klassifizierung an die englische Praxis und nahm eine Einstufung der in Kanada befindlichen Kriegsgefangenen in fünf Kategorien vor. Die Zahlen betrugen: 4457 begeisterte Nazis, 3322 Nazis, 12994 dunkelgrau, 10306 hellgrau, 2813 weiß. Auch die Lagerzeitungen wurden einer Sichtung unterzogen. Im März 1945 waren von 44 Lagerzeitungen in den USA 8 „wild nazistisch“, 25 nationalsozialistisch, 7 waren neutral mit reinem Unterhaltungswert, 1 war christlich, 3 waren antinazistisch. Eine weitere Untersuchung stellte im Herbst 1945 bei 80 Lagerzeitungen ein anderes Profil fest: 24 wiesen eine demokratische Tendenz auf, 18 waren deutlich antinationalsozialistisch, 32 unpolitisch, 3 christlich, 2 militaristisch, 1 verdeckt nationalsozialistisch. Zahlenmaterial findet sich verstreut in den einschlägigen Bänden der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, hg. von Erich Maschke (Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld), bei Arnold Krammer: PW Gefangen in Amerika. Stuttgart: Motorbuchverlag 1982, sowie bei Heinz C. Ansbacher: Attitudes of German Prisoners of War. Washington 1948, S. 1–42.

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  6. Ausführliches Anschauungsmaterial bildet das Buch von Hans Dittler: Odyssee II. Ein Stück erlebte Wirklichkeit 1939–1946. Pforzheim: Selbstverlag 1983. Das Buch ist auch deshalb aufschlußreich, weil sich der Autor selbst als unpolitischen „Normalverbraucher“ bezeichnet, dem alle weltanschaulichen Auseinandersetzungen verhaßt seien, der aber dabei gleichzeitig ein ihm wahrscheinlich selbst nicht recht bewußtes Bild nationalsozialismus-naher Mentalität bietet.

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  7. Einige Beispiele für ein Verhalten, das zwischen Gruppenjux und Provokation stand: Kriegsgefangene in Fort Benjamin, Harrison, Indiana, setzten beim Dachdecken an einem Krankenhaus die verschiedenen Farben zu einem großen Hakenkreuz zusammen. Im Lager Breckinridge, Kentucky, machten sich ein paar hundert Gefangene die Unkenntnis der deutschen Sprache beim Lagerkommandanten zunutze und sangen beim Kirchgang morgens früh aus voller Brust das Horst-Wessel-Lied. Ein Zeichen für die offensive Kraft des nationalsozialistischen Binnenklimas war die Tatsache, daß Kriegsgefangene in Oklahoma einmal Hunderte von Propagandaflugblättern aus einem fahrenden Zug warfen, auf denen zu lesen war: „Amerikaner, wer sitzt in der Etappe? Die Juden! Wer fallt im Kampf? Der amerikanische Soldat! ... Die Juden sind Amerikas Ruin, das amerikanische Volk dient den persönlichen Interessen der Juden.“ (Vgl. Krammer, Anm. 6, S. 172).

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  8. Diese Ereignisse sind durch den Roman von Hans Werner Richter: „Die Geschlagenen“ einem größeren Leserkreis bekannt geworden. Hans Werner Richter stellt einen Einzel-fall vor. Die Herrschaft strammer Nationalsozialisten in den Lagern war aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Aus fast 200 Lagern in den USA wurden Gewaltakte gemeldet, die meistens darin bestanden, daß Gefangene, die aus irgendeinem Grunde als „Verräter“ oder „Defaitisten“ galten, zusammengeschlagen wurden. In diese Zeit fallen auch die „Hinrichtungen“. Die Methoden waren immer dieselben: Es fand ein Geheimgericht statt, die Verurteilten wurden zu Tode geprügelt und meist nachträglich erhängt, damit es nach Selbstmord aussah. In einigen Fällen, wie z.B. beim Obergefreiten Horst Günther im Lager Gordon, Georgia, genügte der Verdacht, der Betreffende könne die Lagerleitung vor einer bevorstehenden Arbeitsniederlegung der Gefangenen gewarnt haben, sowie seine Neigung zu Jazzmusik.

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  9. Der Erlebnisbericht von Hans Dittler (Anm. 7) bietet eine Blütenlese solcher Klassifikationen: da ist von „Jämmerlingen“, „Schwächlingen“, „Kollaborateuren“, von „Schikanen“ und „Psychoterror“ — gemeint ist die Vorführung von KZ-Filmen — die Rede, während er die eigene Gruppe als „gutwillige, anständige Patrioten“ bezeichnet.

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  10. Vgl. dazu Arnold Krammer (Anm. 6), S. 208ff. und 222ff.

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  11. Das Gefühl der Defensive, nämlich von allen Seiten eingekreist zu sein, wird bei Dittler wörtlich formuliert: „Auf der einen Seite die Amerikaner, der Feind, und auf der anderen Seite 150 %ige Nazis, Verräter, Mitgezogene und Überläufer, vom agitierenden Kommunisten über den nihilistischen Feind jeder Ordnung bis zum fanatischen Anhänger des politischen Katholizismus“, S. 524.

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  12. Henry Faulk: Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien. Re-education (Band XI/2 der „Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs“, hg. von Erich Maschke). München: Giesecke 1970, S. 710.

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  13. Matthew Barry Sullivan: Auf der Schwelle zum Frieden. Deutsche Kriegsgefangene in Großbritannien 1944–1948. Wien und Hamburg: Paul Zsolnay 1981, S. 78ff.

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  14. Ebd.,S. 345.

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  15. Henry Faulk (Anm. 13), S. 27.

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  16. Ebd., S. 37.

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  17. Ebd., S. 94.

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  18. Einflußreichste Person im Jugendlager war Captain Stambrook, genannt Max, ein Wiener Emigrant, dessen gesunder Menschenverstand, Witz und Verständnis legendär waren. „Während einer Zählung hatte ... ein ehemaliger SS-Mann dem Captain, der die Zählung vornahm, das Wort Judenlümmel zugerufen ... Dieser englische Offizier tat nun folgendes: Er drehte sich gelassen um, sagte dem Schreier im ruhigsten Ton: ,Jude stimmt, Lümmel stimmt nicht‘, und ging weiter.“ (So bei Faulk, S. 241, ähnlich bei Sullivan, S. 249ff).

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  19. Henry Faulk, ebd., S. 702.

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  20. Ebd., S. 707.

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  21. Zum Begriff der kollektiven Krise vgl. vor allem Gabriele Rosenthal, Anm. 1, S. 40–47 und S. 101–114. Die von Rosenthal verwendete grundlegende Unterscheidung zwischen „heteronom produzierten“ und „autonom konstituierten“ Krisen ist vor allem deshalb wichtig, weil sie einer vorschnellen Gleichsetzung dessen, was einer ganzen Generation von außen zustößt, und dessen, was die vielen einzelnen dieser Generation daraus machen, steuert.

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  22. Die Hamburger Lebensläufe wurden bereits 1950 publiziert: Kurt Hass (Hrsg.): Jugend unterm Schicksal. Mit einem Geleitwort von Albrecht Goes. Hamburg 1950. Die Wuppertaler und Düsseldorfer Arbeiten liegen in Schularchiven. Die rein literarischen oder kunsthistorisch ausgerichteten Themen der Reifeprüfungsarbeiten haben für unsere Auswertung nichts hergegeben. Die Themen, in denen für uns interessante Probleme zur Sprache gebracht wurden, lauteten so: 1946: „oft zeigt sich’s, Haben hüllt uns in Sicherheit, und die Entbehrung gedeiht zum Vorteil.“ (Shakespeare, König Lear IV, 1). 1947: „Auf des Reiches Straßen“ 1949: „Film und Funk — zwei echte Sprößlinge unseres Zeitalters. Ein kritischer Vergleich.“ „Wer nie fortging, kehrt nie heim.“ „Wie stehen Sie zu dem Wort Ghandis: Die Maschine versklavt, die Hand befreit?“ 1950: „Warum und innerhalb welcher Grenzen ist Pressefreiheit in der Demokratie notwendig?“ „Wie beurteilen Sie das Goethe-Schillersche Xenion: ,Zur Nation Euch zu bilden, Dir hofft es, Deutsche, vergebens. Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zum Menschen Euch aus!‘“ „Und wenn du ganz dich zu verlieren scheinst, vergleiche dich! Erkenne, was du bist!“ „Versuchen Sie, im Lichte dieses Goethe-Wortes unsere gegenwärtige Situation zu begreifen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.“ Die zahlenmäßige Diskrepanz zwischen den 350 Lebensläufen und den 131 Aufsätzen kommt dadurch zustande, daß mir erstens aus Hamburg nur die Lebensläufe vorlagen, und zweitens bei der verkürzten Reifeprüfung der Sonderlehrgänge in den Jungenschulen keine Deutschaufsätze geschrieben werden mußten.

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  23. Bei der Beurteilung der Besinnungsaufsätze kann man nicht von der pädagogischen Tradition absehen, in der dieser Aufsatztypus stand. Die meisten Themen rekurrierten auf „zeitenthobenes“ Bildungsgut. Dabei ging man manchmal von einem Dichterzitat oder einem Interpretationsthema aus, aber auch von einem Gedankenanstoß in Form eines vieldeutigen, Assoziationen auslösenden Wortes. (Ein Thema an einem Mädchengymnasium lautet schlicht: „Die Pforte“.) Man möchte aus dem historischen Abstand sagen, daß die Besinnungen, die aus der Tiefe des eigenen Gemütes geschöpft wurden, leicht die Grenze zur forcierten Tiefengründelei überschritten. Aber auch das war ein Moment des Zeitgeistes.

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  24. Urs Widmer: 1945 oder Die neue Sprache. Düsseldorf: Schwann 1966, S. 195.

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  25. Die zwischen Pathos und Innerlichkeit pendelnde Sprache war nicht nur etwas Jugendspezifisches in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sie war vielmehr Erbteil und Anknüpfungspunkt aus einer älteren deutschen literarischen Tradition, die den Nationalsozialismus fast unbeschadet überstanden hatte. Dazu sehr ausführlich Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945, Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein Sachbuch 1981.

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Schörken, R. (1990). Gruppenmentalität und „vorherrschender Ton“. In: Jugend 1945. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95547-0_4

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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