Zusammenfassung
Im März 1964 besuchte Marion Gräfin Dönhoff (1964: 46) zusammen mit zwei weiteren Redakteuren der Wochenzeitung „Die Zeit“ die DDR. Sie richtete nach einem anstrengenden Besuchsprogramm beim Abendessen im Hotel an den Begleiter, den die SED den drei westdeutschen Journalisten zugewiesen hatte, fast zerstreut die Frage: „‚Was meinen Sie eigentlich, ist der Sinn des Lebens?‘ Ohne Zögern kam die Antwort: ‚Der Sinn unseres Lebens liegt in der Leistung für die Gesellschaft.‘ ‚Nein, ich meine eigentlich, worin liegt für Sie ganz persönlich der Sinn des Lebens.‘ Er blickte einen Moment versonnen drein, dann sagte er: ‚Ja, ich meine doch darin, mithelfen zu können bei dem Versuch, Not, Elend und Ausbeutung zu beseitigen.‘“ Sicher erforderte es schon die Rolle eines kommunistischen Betreuers westdeutscher Gäste von dem jungen Dozenten, zwischen persönlicher Heilsfrage und politischer Eschatologie nicht zu unterscheiden. Daher die Promptheit der ersten Antwort. Aber die zweite, auf eine Besinnung folgende Antwort zeigt, daß der Dozent nicht nur seine Rolle spielte, sondern es ernst meinte: mit der wiederholten Beteuerung beweist er die erlernte Unfähigkeit zur Unterscheidung. Um aber die Differenz zwischen persönlichem Lebenssinn und sozialem Wohl zu verwischen, muß man die Antworten auf die Grundfragen der Religion — Wozu sind wir da? Was sollen wir tun? — vom Jenseits auf eine höchst anspruchsvolle Weise ins Diesseits verlagern. „Diesseits“ ist nicht das persönlich erlebte Glück oder Unglück hier und heute, sondern die in der Zukunft gemeinschaftlich angestrebte ideale Gesellschaft. „Jenseits“ ist nicht mehr Himmel und Hölle, die ich nach meinem Tode persönlich erleben werde und wo ich für meine diesseitigen Taten in der Einheit mit Gott ewig belohnt oder durch Trennung von ihm ewig bestraft werde, sondern die verwirklichte Utopie. Sie ist ein Jenseits im Diesseits: nicht ich, aber andere werden sie erleben. Wer an diese Utopie glaubt, muß Gut und Böse seines Tuns in dem Glauben bewerten, daß nicht er, sondern andere die Früchte ernten; er muß sich stellvertretend belohnen.
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Literatur
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Meulemann, H. (2000). Moralische Striktheit und Religiosität in Ost- und Westdeutschland 1990–1994. In: Pollack, D., Pickel, G. (eds) Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999. Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, vol 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95198-4_6
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