Zusammenfassung
In schlüssiger Argumentation führt Nassehis wortgewaltiger Text1 zu einem innovativen Deutungsvorschlag: Die gängige Säkularisierungsthese — Moral habe sich von Religion entkoppelt, allenfalls würde Religion ihrerseits unter das Verdikt moralischer Bewertung gestellt und könne sich nur durch Einbindung in laufende moralische Debatten noch behaupten — greife zu kurz. In Wahrheit seien Religion und Moral auch heute noch — unter der Oberfläche — tief miteinander verbunden: Beide erfüllten die Funktion der Kontingenzbewältigung, i.e. der Transformation von Unbestimmtem in Bestimmtes; beide setzten dabei an einer (gesellschafts-)transzendenten Einheit an: der in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften unterbestimmten Individualität der Individuen, und beide teilten das Problem, dass im Dienste der Erzeugung von Unbedingtheit der Rekurs auf das Metaphysische unhintergehbar ist, aber doch zugleich verschleiert werden muss. Angesichts dieser pfiffigen kontraintuitiven Interpretation tut es mir geradezu leid, dass ich selber dann doch der eher trivialen Säkularisierungsthese folge. Aus dieser Perspektive möchte ich drei kritische Anmerkungen vortragen. Diese betreffen
-
1.
die Deutung von Religion in der Moderne,
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2.
die Etikettierung der Vorstellung einer moralischen Integration moderner Gesellschaften als alteuropäisch antiquiert,
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3.
die These einer heimlichen und verheimlichten Rückbindung von Moral an die Metaphysik — einer sozusagen ‘metaphysischen Liaison’ von Religion und Moral.
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Literatur
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Nunner-Winkler, G. (2001). Metaphysische Liaison zwischen Religion und Moral? Ein Kommentar zu Armin Nassehi. In: Pickel, G., Krüggeler, M. (eds) Religion und Moral. Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, vol 6. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94944-8_3
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