Zusammenfassung
Wir erleben eine paradoxe Verkehrung der Fronten im politischen Diskurs: die Linke beginnt an der ihr von Marx hinterlassenen Utopie zu zweifeln, daß die allseitige Entfesselung der Produktivkräfte und des Reichtums der menschlichen Natur auch tatsächlich das Reich der Freiheit verheißt und nicht vielmehr die buchstäblich physische Unbewohnbarkeit der Erde. Es scheint, daß die Fesselung der Produktivkräfte auf dem Niveau des Status quo, womöglich des Status quo ante, ihre historische Mission sei. Liegt ihre Utopie in der Gegenwart oder gar in der Vergangenheit? Umgekehrt scheint den heute herrschenden Kräften nichts mehr am Herzen zu liegen als die Zukunft. Die berühmt gewordene Parole der Regierungserklärung von 1980: „Mut zur Zukunft“ wird im Zusammenspiel von Staat und Industrie durch die Förderung, Erprobung und schrittweisen Installierung von „Zukunftstechnologien“ vollzogen, welche die Zukunft „unserer Gesellschaft“ sichern sollen. Die Lebensansprüche der gegenwärtigen Menschen liegen hier offenbar in der Zukunft, um deretwillen ihre heutige Befriedigung aufgeschoben werden soll — macht sich die spätkapitalistische Industriegesellschaft zur Vollstreckerin der Marxschen Utopie, indem sie sie technisch möglich macht? Die Zukunftsrhetorik auf beiden Seiten des Kampfes um den einzuschlagenden Weg unserer gegenwärtigen Zivilisation verhüllt nur notdürftig, daß diejenigen, die zu Kronzeugen aufgerufen werden und die Destinatäre der jeweiligen Verheißungen sein sollen — die zukünftigen Generationen —, keinen anderen Status haben als den, den in unserer säkularisierten Sprache Gott zu haben pflegt: allgegenwärtig und daher gleichbedeutend mit abwesend. Die Zukunft dient dazu, die Gegenwart zu interpretieren und sie für die Gegenwärtigen zu rechtfertigen: die überkommene linke Utopie stellt sich die Befriedigung der Bedürfnisse und die Erfüllung der Sehnsüchte des heutigen Menschen in der Zukunft vor, auch wenn sie natürlich impliziert, daß erst zukünftige Generationen in den Genuß ihrer Erfüllung gelangen werden. Die Verheißungen der heute herrschenden Zukunftsvision einer technologisch entfalteten Gesellschaft gehen dagegen umgekehrt davon aus, daß die zukünftigen Generationen so leben werden, wollen und sollen, wie es die gegenwärtige tut — lediglich auf einem höheren, durch die lineare Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft bedingten technologischen und Konsumniveau. Um es pointiert auszudrücken: in dem einen Entwurf lebt der gegenwärtige Mensch in der Zukunft, in dem anderen der zukünftige Mensch in der Gegenwart.
Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in: Freibeuter 9/1981, S. 83 ff.
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Literatur
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Preuß, U.K. (1984). Die Zukunft: Müllhalde der Gegenwart?. In: Guggenberger, B., Offe, C. (eds) An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91542-9_13
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