Zusammenfassung
Der Schwund des verbalen Genitivs im Deutschen (im folgenden abgekürzt mit GO; weitere Abkürzungen: AO = Akkusativobjekt, G = Genitiv, A = Akkusativ) ist eine Erscheinung, für die sich verschiedene Erklärungsmöglichkeiten anbieten. In meiner Untersuchung zu diesem Thema (Schrodt 1992) habe ich zwei Funktionsklassen von Prädikaten unterschieden, die ich als stabile inhaltliche Kategorien betrachte, wobei sich der Wandel auf die Ausdrucksformen bezieht (in Saussurescher Terminologie: zwei Kategorien der langue, Wandel auf der Ebene der parole). In dieser Sicht sind zwei Ursachen für den Schwund des GO anzunehmen: 1. Verschiebungen auf der inhaltlichen Ebene — das Prädikatsverb enthält dadurch einen anderen syntaktisch-semantischen Status, und 2. Verschiebungen auf der Ausdrucksebene, die im wesentlichen zeichentheoretisch beschrieben werden müssen. Dazu gehören etwa alle herkömmlichen Erklärungen durch ausschließliche Dysfunktionalität der Ausdrucksformen, durch Verallgemeinerung expressiver Formen und durch das, was man oft als „Tendenz zum analytischen Sprachbau“ beschreibt. An dieser Stelle sei gleich darauf hingewiesen, daß die Postulierung solcher Tendenzen noch nichts erklärt, solange man keine konkrete Ursache für den Formenersatz angeben kann. Das betrifft besonders das GO, denn es ist immerhin im Nhd. resthaft erhalten, und das wäre bei durchgängiger Dysfunktionalität der Ausdrucksform erstaunlich. Außerdem ist die Genitivmorphologie selbst fest, was der stabile (und weitgehend ausbaufähige) attributive Genitiv bezeugt. Erklärungsversuche, die sich auf die Ausdrucksebene beschränken, leiden meist unter Varianten des Henne-Ei-Problems: Solange wir nicht zum Anfang der Kausalkette von Veränderungen vordringen können, bleibt es unklar, ob der Veränderungsimpuls von der dysfunktional werdenden Form oder vom Druck der Ersatzform ausgeht. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Diskussion des Zusammenhangs von Artikelsetzung und Verfall der Deklinationsmorphologie in den germanischen Sprachen: Es ist möglich, daß der wie immer aufkommende Artikel die Kasusendungen redundant gemacht hat, es ist aber auch möglich, daß der Verfall der Kasusendungen die Artikelsetzung begünstigt hat. Das letztere Szenario scheint zunächst wahrscheinlicher, weil man mit der Endsilbenabschwächung eine plausible phonetische Erklärung für die Funktionsschwäche der Kasusmorpheme zur Hand hat, doch die erstere Möglichkeit läßt sich nie ausschließen. Zudem ist es immer noch denkbar, daß Funktionsstärke phonetischen Schwächungen entgegenwirkt, so daß die Kasusmorphologie nicht unbedingt gefährdet sein müßte.
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Schrodt, R. (1996). Aspekt, Aktionsart und Objektsgenitiv im Deutschen: Wie weit kann eine systematische Erklärungsmöglichkeit für den Schwund des Genitivobjekts gehen?. In: Brandner, E., Ferraresi, G. (eds) Language Change and Generative Grammar. Linguistische Berichte, vol 7. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90776-9_3
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