Zusammenfassung
„Die Phantasie an die Macht“ war, vor 30 Jahren, im denkwürdigen Pariser Mai ‘68 eine Losung, deren Herkunft aus dem geistigen Universum des Surrealismus von den studentischen Akteuren nicht verhehlt wurde. Daran hat Karl Heinz Bohrer kürzlich erinnert. Sartres Bemerkung während eines Gesprächs mit Daniel CohnBendit, die er zitiert und derzufolge „das Interessante an eurer Aktion ist, daß sie die Phantasie an die Macht bringt“, lasse im Rückblick um so deutlicher erkennen, dass Phantasie und Macht miteinander inkommensurabel seien. An der Macht findet Phantasie ihre Grenzen, hört sie auf oder gerät selbst in deren Verstrickungen. Die „Berufung auf die Macht stellt einen komplexen Widerspruch zu ihrer existenzverbürgenden Qualität dar. Dieser Widerspruch ähnelt zunächst dem der Surrealisten: Auch die Flugblätter der neuen surrealistischen Aktion enthielten einen ‘Vollstreckungsbefehl’ an die Wirklichkeit, in dem das Wissen steckt, daß er nicht vollstreckt werden kann.“1 Es bleibe, Bohrer zufolge, einzig die Besinnung auf ein surrealistisches Vermächtnis, dessen wir uns in Deutschland auch gerade darum in besonderem Maße zu versichern hätten, weil „bis heute die gesamte westdeutsche Hochschulphilosophie keinen Schimmer von der Bedeutung des Surrealismus für das französische Denken seit den 50er Jahren gehabt hat“. Oft werde vergessen, dass „die Kulturrevolution von ‘68 das Datum war, an dem der zivile Staat sich in der Bundesrepublik durchgesetzt hat — gegen die Vertreter der deutsch-autoritären Tradition. Hierin liegt die nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung von ‘68 für die westdeutsche Gesellschaft, auch wenn die Phantasie verloren gegangen sein mag.“ 2 Sehen wir zu, ob diese Diagnose einer näheren Prüfung standhält.
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Literatur
Karl Heinz Bohrer, „1968: Die Phantasie an die Macht? Studentenbewegung - Walter Benjamin — Surrealismus“, in: Merkur 51 (Dezember 1997), S. 1069.
Im Englischen wurde seit Addisons Spectator-Aufsätzen über The Pleasures of Imagination“ vom Anfang des 18. Jahrhunderts auch das Wort’fancy’ neben’imagination’ eingeführt.
Vgl. Räusch-Trill Phantasie.
Gabriel Garcia Marquez, “Fantasia y creación artistica en América Latina”, in: Ventana. Barricada cultural (Bogota), 14.8.1982, S.3.
In: Politics poetics,hg. von Catherine David u.a., Ostfildern-Ruit 1997, S. 641.
Vg1. Karlheinz Barck, „Kontinente der Phantasie“, in: Surrealismus in Paris 1919–1939. Ein Lesebuch,hg. von K. B., Leipzig 21990, S. 733–765, hier insb. 748.
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung,in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe,hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 1980, Bd. VI, S. 55–162, hier: 116. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche,Pfullingen 1961, Bd. I, S. 109 ff.
Jacques Derrida, “The Rhetoric of Drugs. An Interview”, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies,5.1 (1993), S. 1–24.
Walter Benjamin, „Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: Gesammelte Schriften,a.a.O., Bd. II.1, S. 295–310, hier: 307.
In: André Breton, La clé des champs, Paris 1967, S. 7–15. (Der Text datiert von 1936 ).
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Barck, K. (2000). Phantasie und Bilderrausch im Surrealismus. In zwei Sätzen und einer Coda. In: Bauer, G., Stockhammer, R. (eds) Möglichkeitssinn. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90722-6_7
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