Zusammenfassung
Die Spur der Romane führt bei Franz Kafka immer in den Traum zurück, in jene gespenstische und phantastisch-komische Nachwelt, die für ihn, den überraschten, seine Position immer wieder nachprüfenden Wanderer zwischen den Realitäten, die gleiche Erfahrungsdichte und ein höheres Maß von Wahrheit besaß wie das Erwerbsleben zwischen Familie und Versicherung oder die bizarr in das neue Jahrhundert hineinstarrenden Türme, Erker und Hofwinkel der Prager Gassen. Wie der Untergang des Angestellten K. im Proceß ist auch die zufällige Begegnung des Reisenden K. mit der winterlichen Welt des Schlosses aus einer Art Traumgesicht oder halb kontrolliertem Wachtraum hervorgegangen. Für den Tagebuchschreiber Kafka, den man nach der Anlage seiner Notizhefte ohnehin vom Erzähler und Dichter nicht trennen sollte, wird der von der Imagination wachgerufene Augenblick der Ankunft an einem unwirtlichen und fremden Ort zum Stachel für ein bohrendes, nach Vergegenwärtigung und nach Ablösung drängendes Schreiben. „Verlockung im Dorf“ heißt die Geschichte, die unter dem 11. Juni 1914 eingetragen ist. Das Ich, prononciert herausgestellt, dem Charakter, aber nicht der Erzählhaltung nach der Josef K. seiner Romane, der nur wenig später, am 29. Juli in dem Erzählfragment: „Josef K. [...] Himmel auf“ im gleichen neunten Tagebuchheft auftaucht, bewegt sich mit der stumpfen Offenheit auf das Neue durch eine abweisende Umgebung. Es ist solche Erfahrungen gewohnt und sucht sie mit der Routine des Alltags zu bewältigen. Rasch wird deutlich, dass die sich öffnenden Türen, die sonderbar redenden und Ratschläge gebenden Bewohner den Fremden in die Irre schicken. Fruchtlose Gänge, die in die entgegengesetzte Richtung zielen und wieder zurückgegangen werden müssen, lassen die Geschichte zum Albtraum werden, ohne dass der Reisende von seinem Vorhaben, dem aussichtslosen, abzubringen wäre. Erst acht Jahre später hat Kafka bekanntlich aus dieser ungewissen Atmosphäre die klar umrissene Konzeption seines Schloß-Romans geschaffen.
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Literatur
Vgl. Jost Schillemeit: „Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Ein Beitrag zum Textverständnis und zur Geschichte von Kafkas Schreiben“ in: Der junge Kafka,hg. von Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1984, S. 110.
Zitiert nach der Wiedergabe bei Dietz, S. 44, weil hier das noch „Unfertige“ auch in der Formulierung der Passage deutlich wird. Vgl. Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Teilbd. 1, S. 72 f, und die Varianten zu S. 73 in Teilbd. 2, S. 157.
Nach Dietz, S. 52, als Passage aus der längeren von Kafka in Fassung A gestrichenen Traum-Schilderung, die später in kleinen Teilstücken in die Fassung B Eingang fand; vgl. Nachgelassene Schriften und Fragmente I,Teilbd. 2, S. 158 ff (Variante zu Teilbd. 1, S. 76, Z. 26).
Vgl. Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß,hg. von Max Brod, Fankfurt a. M. 1954, S. 347. 7 Vgl. Nachgelassene Schriften und Fragmente 1,Teilbd. 2, S. 48.
Franz Kafka, Briefe 1902–1924, Frankfurt a. M. 1966, S. 29.
Kafka, Briefe,a.a.O., S. 29; vgl. den Brief an Oskar Pollak, a.a.O., S. 14 ff.
Vgl. die Variante in Nachgelassene Schriften und Fragmente 1,Teilbd. 2, S. 152.
Goethes Übersetzung Leben des Benvenuto Cellini, Florentinischen Goldschmieds und Bildhauers, von ihm selbst beschrieben (1803) wird hier zitiert nach der Handschrift des Übersetzers, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), hg. von Karl Richter, Bd. VII, München 1991, S. 130 ff.
Vgl. Goethe, Werke,a.a.O., Bd. XV, München 1992, S. 125 f und die zugehörigen Anmerkungen. Vgl. die vielzitierte freudianisch verkürzende Analyse K. R. Eisslers, in: Goethe. A Psychoanalytic Study. 1775–1786“ (1963), dt. Goethe. Eine psychoanalytische Studie,Basel/Frankfurt a. M. 1983–85, Bd. II, S. 1403 ff.
KIaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend,Bern 1958, S. 65 ff - dort auch (S. 237 f) die ersten brauchbaren Datierungen der beiden bzw. drei Fassungen von Kafkas früher Erzählprosa.
Zitiert nach der Übersetzung von Peter Sacher in: Tschechische Erzähler des 19. und 20. Jahrhunderts,hg. von P.S., Zürich 1990, S. 276 f.
I9 Jean Paul, Freuden-Büchlein/Überchristenthum/Selberlebensbeschreibung/Neues Campaner Thal/ Selina,in: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe,hg. von Eduard Berend, Bd. II. 4, Weimar 1934, S. 92.
A.a.O., S. 122 f.
Übersetzt nach dem in Tait’s Magazine erschienenen Erstdruck der Sketches of Life and Manners (dort S. 804 ff), die zur Fortsetzung der 1834 begonnenen Autobiography of an English Opium-Eater gehören; vgl. The Collected Writings of Thomas de Quincey,a.a.O., Bd. II, S. 354 f.
Nerval, a.a.O., S. 734 f, dt. in: Werke,hg. von Friedhelm Kemp/Norbert Miller, übers. v. F.K., München 1987 ff, S. 407 f
Die 1865 entstandene Radierung ist wiedergegeben in: Nerval, Werke,S. 408. Vgl. auch Charles Meryon, Paris um 1850. Zeichnungen, Radierungen, Photographien [Ausstellungskatalog], betreut von Margret Stuffmann, Frankfurt a. M. 1976, Eintrag R 26, S. 94 f, zum Zusammenhang mit Nerval auch insb. S. 13 ff und 25 ff.
Nerval, a.a.O., Bd. III, S. 744 f (Seconde partie VI), dt. in: Werke, a.a.O., Bd. III, S. 421.
Franz Kafka, Tagebücher,hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a.M. 1990 (drei Bände), Bd. I, S. 98 (als Teil einer längeren Folge von Beschreibungsversuchen der Prager Schauspielerin) und S. 75 (in der Notiz datiert: „den 13 X 11). Beide Notizen gehören in das erste Heft von Kafkas Tagebuchaufzeichnungen.
A.a.O., S. 248 f (unter einer „14 XI 11“ datierten Bemerkung über einen Besuch bei Max Brod und einer Anmerkung über sein nachmittägliches Einschlafen). Dort Teil einer über viele Eintragungen sich hinziehenden Reihe von Traum-Nachschriften oder Traumdichtungen, die in engster Verbindung stehen mit der Selbstbeobachtung der Schlafschwierigkeiten, die im Zweiten Heft der „Tagebücher” beginnt und sich bis hier in das Dritte Heft weiterzieht.
A.a.O., S. 127 f (über eine Lesung des Schriftstellers, wohl vom Vorabend des auf den 27. November datierten Eintrags aus dem Zweiten Heft der Tagebücher).
Vgl. Nachgelassene Schriften und Fragmente II,Teilbd. 1, S. 530, und zu dieser (von Ende 1922 stammenden) Erzählung die Deutung Heinz Politzers - bis heute ein Glanzstück der Kafka-Interpretation -, zuerst unter dem Titel „Eine Parabel Franz Kafkas. Versuch einer Interpretation“, in:
Kafka, Tagebücher,a.a.O., S. 49 f (Anfang der vielleicht wichtigsten Selbstanalyse des Träumers Kafka).
A.a.O., S. 424 (aus dem Sechsten Heft der Tagebücher).
A.a.0., S. 239 f (Eintrag vom 9. November 1911, bezogen auf einen Traum vom 7. November, entworfen und durchgeführt also als literarische Rekonstruktion des Erinnerten nach Art der Traumbehandlung bei Jean Paul und Thomas de Quincey).
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Miller, N. (2000). Traum- und Fluchtlandschaften. Zur Topographie des jungen Kafka. Mit einem Exkurs über die Träume in der „Schwarzen Romantik“. In: Bauer, G., Stockhammer, R. (eds) Möglichkeitssinn. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90722-6_4
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