Zusammenfassung
Kein deutscher Schriftsteller der Nachkriegsliteratur hat einen solch gewaltigen Korpus von Schriften hinterlassen wie der 1986 verstorbene Hubert Fichte. Das Werk des Hamburgers umfaßt neben Erzählungen und den autobiographisch angelegten frühen Romanen das zentrale und nicht fertiggestellte Hauptwerk Die Geschichte der Empfindlichkeit. Sie besteht aus einem mehrbändigen Text-Zyklus, der scheinbar labyrinthartig mehrere Romane, Essays, Hörspiele, ethnologische Schriften und Interviewbände miteinander verbindet und zueinander in Beziehung setzt. Es ist ein System von Texten, das Fichte selbst unter dem Begriff ‘roman delta’ gefaßt hat. Zentral für dieses gewaltige Werk ist der Begriff der Empfindlichkeit, den Fichte gegen den ursprünglich gewählten literarisch traditionellen der Empfindsamkeit eingetauscht hat. In diesem Wort steckt schon als Kern die Buchstabenkette I-C-H, die eine der zentralen Anlagen des Schreibens Fichtes darstellt. Die zum Teil hymnische Feier des Ichs, seine bisweilen anatomische und marterhafte Zersetzung in den Romanen, ist Teil einer Individualitätskonzeption, die das Ich als Gesellschaftsbild in den Mittelpunkt des Schreibens stellt. In diesem Sinne funktioniert es auch als Spiegel von Geschichte, insbesondere der des zu Ende gehenden Faschismus und der entstehenden Bundesrepublik. Die Beschreibung von lebensbiographischen Zusammenhängen verläuft nun nicht nach den Strukturen oder Schemata des bürgerlichen Bildungs- oder Entwicklungsromans und initiiert keinen linear verlaufenden, konsequenten und in sich logischen Sozialisationsprozeß, sondern thematisiert ein sich ständiges Herauskristallisieren von Widersprüchen, Konflikten und dialektischen Brüchen. Hierbei ist es gerade die Ausbildung und Entwicklung von Sexualität und Körperbewußtsein, die mit gesellschaftlichen Normen und politischen Ideologien in Konfrontation gerät und den Prozeß der Ich- bzw. Subjektkonstitution bestimmt. Die Geschichte der Empfindlichkeit ist somit ein Forschungsprojekt des Ichs, das unter anderem über den Körper- und Sexualdiskurs die gesellschaftspolitischen Kraftfelder erschließt.
für Peter Wirth
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Literatur
Fichte, Hubert: “Eine versteinerte Zauberstadt”. Jens Christian Jensens Monographie des Werkes von Paul Wunderlich. In: Die schwarze Stadt. Glossen. Frankfurt/M. 1990, S. 281-286.
Fichte, Hubert: Das Waisenhaus. Roman. Frankfurt/M. 1993.
Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen ‘Grünspan’. Roman. Frankfurt/M. 1982.
Fichte, Hubert: Die Palette. Roman. Frankfurt/M. 1989.
Fichte, Hubert: Hotel Garni. Roman. Frankfurt/M. 1987.
Fichte, Hubert: Jeder kann der nächste sein. Über Pier Paolo Pasolinis Film Salò. In: Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Frankfurt/M. 1987, S. 133-139.
Fichte, Hubert: Versuch über die Pubertät. Roman. Frankfurt/M. 1987.
Interviews
Zimmer, Dieter E. 1985a: Genauigkeit, ein Versteck. Gespräch mit Hubert Fichte. In: Hubert Fichte.
Materialien zu Leben und Werk. Hgg. v. Thomas Beckermann. Frankfurt/M., S. 87-92.
Zimmer, Dieter E. 1985b: Leben, um einen Stil zu finden, schreiben um sich einzuholen. Gespräch mit Hubert Fichte. In: Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Hgg. v. Thomas Bekkermann. Frankfurt/M., S. 115-121.
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Erb, A., Künzig, B. (1996). »zurückzufinden in frühere Schichten«. In: Kramer, S. (eds) Das Politische im literarischen Diskurs. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90285-6_4
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