Zusammenfassung
Der Nachweis, daß Normen im Alltag als eine spezifische (normative) Deutung des Handelns identifizierbar sind, ist insofern wenig problematisch, als dieser Bezug in den soziologischen Definitionen explizit festgehalten ist. Normen können als Indizien für eine spezifische Sichtweise definiert werden, die gegenüber Handlungen von den handelnden Personen selber oder von anderen eingenommen werden kann. Die normative Handlungsanalyse als Kriterium der sozialen Existenz von Normen ist gleichermaßen ein verbreitetes soziales Phänomen und der Kern jeder soziologischen Normdefinition; diskrepante Vorstellungen bestehen eher hinsichtlich der Funktionen, die Normen zuzuordnen sind.
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Anmerkungen
Zur Verwendung von “Norm” in der Soziologie vgl. Gibbs (1981) und Lautmann (1968).
Ausnahmen sind für die Soziologie unerheblich geblieben, sie sind in der Sozialpsychologie verbreitet: vgl. Sheriff (1966). Einen neueren Versuch in dieser Tradition stellt Eichner (1981) dar.
G.H.v. Wright (1979, S. 79ff.) stellt 6 Komponenten für Normen auf: 1. der Charakter (Gebot, Erlaubnis, Verbot), 2. Inhalt (die normativ relevante Handlung), 3. die Anwendungsbedingungen (Sachverhalte, die für die Handlung erforderlich sind), 4. die Normautorität, 5. die Normadressaten, 6. die Situation (für die die Norm relevant ist).
Befehle können ohne Rekurs auf Normen definiert werden. Vgl. Rescher (1966).
Allerdings kann die Handlung des Räubers, wie auch meine Reaktion darauf, normativ, d.h. im Rahmen einer Normordnung thematisiert werden.
Zum Begriff “Institution” vgl. etwa König (1958, S. 135): “Die Institution ist... die Art und Weise, wie bestimmte Dinge getan werden müssen.” Als Beispiel führt König die Ehe als Institution an, also einen normierten Handlungszusammenhang.
Dies entspricht auch der Wertdefinition von Lautmann (1968).
Dies wird von Rokeach ausdrücklich betont (1971, S. 9).
Vgl. dazu etwa Parsons / Shils (1951, S. 116).
Für diese Autoren, wie auch für Parsons, ist die Identität der Gesellschaft jeweils an das vorherrschende Wertsystem gebunden. Vgl. Strodt-beck(1961, S. 9).
D. Ciaessens und Timasheff vertraten die gleiche Ansicht über das Verhältnis von Werten und Normen. Ciaessens (1967, S. 33) betont, daß Werte über Normen wirken. Timasheff (1974) sieht eine Werthierarchie als Hintergrund der historischen Rechtsordnung. Aus dem positiven Recht (so die methodisch relevante Schlußfolgerung) kann die geltende Werthierarchie erschlossen werden. Blake/Davis (1964) heben ebenfalls hervor, daß die Evidenz für Werte in Normen gefunden werden kann.
Diese Fragestellung geht als solche über die Intention dieser Arbeit hinaus. Auf Grund des Handlungsbezugs von Normen (und Werten) ergeben sich jedoch ernsthafte Zweifel an solchen Annahmen (vgl. Kap. 4.4).
Die vollständige Formulierung dieses Werts, die dessen normative Struktur deutlich macht, lautet folgendermaßen: “Jedes kompetente Gesellschaftsmitglied soll anerkennen, daß das menschliche Leben unantastbar ist.”
Der terminologischen Klarheit willen unterscheide ich zwischen Normbegriffen und normativen Begriffen. Normbegriffe (Norm, Wert, Institution) bezeichnen den normativen Zugang zu Handlungen, bzw. Phänomenen, normative Begriffe jedoch die spezifische Verwendungsweise von (alltäglichen) Begriffen im Normkontext. “Erheblicher Sachschaden” im strafrechtlichen Kontext ist ein solcher normativer Begriff, der erst unter Zuhilfenahme einer Norm interpretiert werden kann.
Zum Begriff der konstitutiven Regel vgl. v. Wright (1974, S. 137). Weber hat auf die Funktion von konstitutiven Regeln hingewiesen. “Wir ‘klassifizieren’ einen Komplex von Vorgängen als ‘Skat’, wenn solche für die Anwendung der Norm als relevant geltende Vorgänge sich darin finden” (1968, S. 340).
Aus der zahlreichen Literatur möchte ich auf Sudnow (1969) und Cicourel (1968) hinweisen.
Konvention ist für Weber “die innerhalb eines Menschenkreises als ‘geltend’ gebilligte und durch Mißbilligung gegen Abweichungen garantierte ‘Sitte’“ (1964, S. 24).
Shwayder (1965, S. 252) stellt ebenfalls diese Anforderung für die Geltung von “communitiy rules” auf.
Dies betonen Allardt (1959) und Shwayder (1965, S. 249).
Auf diese Gefahr weisen insbesondere Blake/Davis (1964) hin. Daher ist das Bestreben von Soziologen zu verstehen, solche Routinen aus dem Normbegriff herauszulösen; bei Birenbaum/Sagarin (1976) werden sie als “rules” bezeichnet.
Dies vertreten etwa Geiger (1962), Popitz (1961, 1980) und Spittler (1967).
Zur “Dunkelzifferforschung” vgl. Popitz (1968).
Zur Sanktionierung durch die Polizei vgl. etwa Bittner (1967). Zur organisatorischselektiven Anwendung von Sanktionen vgl. Abschnitt 4.4.
Normen, bzw. auf Normen gestützte Erwartungen bleiben auch bei Verletzungen “kontrafaktisch” bestehen. Vgl. dazu Galtung (1959). Dies ist ein überall anzutreffendes Kriterium von Normen. Geiger (1962) formuliert dies in der Weise, daß erst Sanktionen, also die Reaktionen auf Verletzungen, die Norm und ihre Geltung “offenbaren”.
Dieser Standpunkt deckt sich auch mit demjenigen Webers. Weber unterscheidet zwischen kausaler und normativer Handlungsanalyse (1968, S. 271).
In der Soziologie haben vor allem Parsons und Shils (1951) auf die normative Handlungsorientierung als einer spezifischen Dimension hingewiesen, die von der Orientierung an Zweck/Mittel-Beziehungen zu unterscheiden ist. In der Rechtstheorie weisen Hart und Honor’e (1973) auf die Unabhängigkeit von Handlungserklärung und der Zuschreibung von Verantwortlichkeit hin (1973, S. 59). Es ist plausibel, daß jede Handlung rechtfertigungsbedürftig sein kann. Soziale Normen sind für alle Lebensbereiche in Geltung: zumindest im Bereich der Moral ist es einsichtig, daß sie einen Kontext für die normative Betrachtung aller Handlungen bildet.
Zum Verhältnis von Gebot und Unterlassung vgl. v. Wright (1979, S. 56ff.).
Zum Begriff der “negativen Handlung” vgl. Ryle (1979).
Damit soll nicht behauptet werden, daß alle Verbote in Gebote übersetzt werden können und umgekehrt. Für eine formale Betrachtung der Normen, wie sie v. Wright (1979) unternimmt, bestehen hier weniger Probleme als bei der Untersuchung sozial gehaltvoller und wirksamer Normen.
Für diese normativ definierte Person prägte Kelsen (1934) den Ausdruck “Bündel” von Rechtspflichten und Berechtigungen.
Über die wichtige Bedeutung solcher Entschuldigungen und Rechtfertigungen in normativen Kontexten vgl. Scott/Lyman (1973) und Sykes/Matza(1957).
Ähnliche Ansichten findet man auch in der Soziologie, vgl. etwa Zetterberg (1957).
Vgl. zu dieser Ansicht Hart (1954) und Black (1964).
Denzin (1970) spricht von “everyday rules of conduct”, als jenen “gewöhnlichen” Normen, die in Alltagssituationen angewendet werden.
Es ist möglich, daß ein Normadressat dies nicht tun kann — bei einem Kind etwa gibt es befugte Personen, die das Interesse des Kindes in einem normativen Diskurs vertreten. Die Handlungen der “Sanktionspersonen” können natürlich auch vor dem Hintergrund allgemeiner Normen (etwa der Moral) thematisiert werden. Dies ist jedoch kein Spezifikum für Handlungen, die andere Handlungen normativ qualifizieren.
Daher ist es verständlich, daß Geiger (1962) ausnahmslos befolgten Normen einen Status als “latente” Normen eingeräumt hat. Es sind dies Normen, deren explizite Anwendungsbedingungen unklar sind.
Die Legitimitätszumutung kann in Hinblick auf andere Normordnungen (etwa Werte) begründet werden: es ist aber auch möglich, daß sie letztlich nur auf faktischer Durchsetzbarkeit der Normen beruht. Normen verweisen auf eine Normordnung — diese muß nicht in anderen normativen Kontexten begründet sein.
Damit ist Legitimität in einer gegensätzlichen Weise definiert wie bei Luhmann (1969, S. 38), wo sie auf ein “motivfreies... Akzeptieren” von Verhaltenszumutungen hinausläuft. Legitime (d.h. mit dem Anspruch auf Legitimität vertretene Normen können im Kontext der jeweiligen Normordnung thematisiert werden. Die “generalisierte Bereitschaft”, Entscheidungen anderer hinzunehmen (nämlich von normativ befugten Instanzen) (Luhmann ebd., S. 28), ist ein mögliches empirisches Faktum, aber nicht das Identifikationskriterium von Normen und von auf Normen begründeten Handlungserwartungen.
Dies ist im Prinzip von Popitz (1980) anerkannt, der unterschiedliche Dimensionen unterscheidet, in denen die Normen wirksam sein können. Auch die Ansicht von Gibbs (1981) wird bestätigt, daß im sozialen Alltag Normen eine graduelle Wirksamkeit zukommt. D.h. es gibt keine eindeutige Grenze für das Gelten von Normen. Auch Weber (1964, S. 23) vertritt diese Sichtweise: Gelten und Nichtgelten einer Ordnung bilden für die Soziologie keine “absolute” Alternative.
Es besteht hier eine Analogie zu Interessen: es gibt bestimmte Interessen, solange sich Personen an den entsprechenden sekundären Strukturen orientieren.
Man kann den Begriff der Sanktion unterschiedlich definieren: so etwa den gesamten Prozeß der normativen Handlungsanalyse als Sanktion auffassen. Dieser Terminologie bedient sich Parsons (1951). Dann ist der Sanktionsbegriff auf jeden Fall mit dem Normbegriff verbunden.
Normanwendende Handlungen sind dagegen unabdingbarer Teil der Normen — diese Handlungen (und entsprechenden Äußerungen von Einstellungen) können auch von den Normadressaten selber angewendet werden. Es kann sich dabei auch um die Überzeugung handeln, daß man selber in bezug auf die Norm “richtig” oder “falsch” gehandelt hat.
Diese Ansicht vertritt auch Kelsen (1911).
Dabei kann der Handelnde sich selber gegenüber als Vertreter der Norm fungieren und sein eigenes Tun auf Grund seines “schlechten Gewissens” verurteilen.
Entschuldigungen und Rechtfertigungen können darauf hinauslaufen, den Status der Handlung neu zu bestimmen. Vgl. dazu Scott/Lyman (1973).
Vgl. etwa Kelsen (1911, S. 143ff.).
Die Einwände gegen die “Askriptivismus-These” beziehen sich vor allem auf ihre Verallgemeinerung, wonach alle Handlungsprädikate askriptiv sind. Vgl. dazu etwa Feinberg (1977) und Geach (1977).
Für das Recht, insbesondere das Strafrecht vgl. Hart (1951).
Vgl. dazu etwa Joergensen (1971).
Deskriptive Ausdrücke in normativen Kontexten können normative Funktionen besitzen. Auch können von der Normordnung aus Begriffe formuliert werden, um die normativ bedeutsamen Aspekte sozialer Phänomene zu erfassen. Ein Beispiel dafür ist im Zusammenhang des Strafrechts der Begriff “Rechtsgut”. Vgl. dazu Balog (1982).
In der Terminologie Kelsens handelt es sich um “metajuristische” Fragestellungen. Es sind dies jene, die von der Rechtssoziologie analysiert werden; ein klassisches Beispiel dafür ist Renner (1965).
Vgl. dazu etwa Cohen (1969).
Zur selektiven Funktionsweise der Strafrechtsnormen etwa Friedman (1966) und Aubert (1963).
Um im Rahmen der Normordnung als legitim zu gelten, muß die normative Thematisierung (Luhmann 1969) korrekt ablaufen. Dieser Ablauf ist jedoch mit der Wirkung selektiver Prinzipien vereinbar. Diese Prinzipien sind häufig gar nicht sichtbar, sondern können erst durch die empirische Untersuchung aufgedeckt werden.
Vgl. dazu Esser (1970), Pound (1960), Kelsen (1933).
Vgl. dazu etwa Friedman (1975) und Cicourel (1968).
Dies gilt gleichermaßen für die normrelevanten Handlungen der Normadressaten wie der Organe der Normdurchsetzung. Diese beiden Sichtweisen sind einerseits in der Rechtstheorie und andererseits in der Rechtssoziologie vorherrschend.
Explizite Klassenjustiz und die Einsetzung des Rechts für politische Zwecke sind weitere Beispiele für die Integration der Normdurchsetzung in sekundäre Strukturen. Vgl. dazu etwa Sack (1977).
Ein Beispiel ist die Zuteilung von Lebenschancen entsprechend der Konformität gegenüber Normen.
Dafür sind Beispiele aus der Normgeneseforschung von Bedeutung: vgl. etwa Blasius (1976), Hall (1952).
Es ist nicht auszuschließen, daß auch Interessen öffentlich-kollektiv formuliert und legitimiert werden. Dann gewinnen sie eine Nähe zu Normen — sie können jedoch auch ohne Normen identifiziert werden.
Ein Beispiel wäre ein Geschäftsmann oder Politiker, der seine geschäftlichen oder machtmäßigen Interessen hinter normativen Ansprüchen tarnt, denen er vorgeblich entsprechen möchte, bzw. die er nach Maßgabe seiner Interessen als relevante auswählt.
Beispiele findet man vor allem im Strukturfunktionalismus: Dror (1957), Parsons (1951). Eine neuere Fassung wird von Popitz (1980) vertreten.
Ein “kognitiver Erwartungsstil” zeichnet sich dadurch aus, daß bei Enttäuschungen an kontrafaktischen Erwartungen nicht festgehalten wird. Vgl. Galtung (1959). Auch wenn im Geschäftsleben (etwa Börsentransaktionen) Normen eine wichtige Rolle spielen, wird die primäre Koordination der Handlungen eher durch Interessensbezug und gemeinsame sekundäre Strukturen erreicht.
Die Annahme weiterer Normen würde auf einen unendlichen Regress hinauslaufen. Letztlich müßte eine normative “Ursprungshandlung” angenommen werden.
Vgl. dazu Cicourel (1973).
Beispiele dafür finden sich im kolonialen Recht (Burman 1976). Vgl. zu diesem Problem auch Arnold (1935). Ein wirksames Mittel, um normative Regelungen durchzusetzen, besteht wohl darin, diese in sekundären Strukturen zu verankern, für normkonformes Handeln entsprechende “Anreize” zu schaffen.
Wenn man davon ausgeht, daß in einer Gesellschaft eine “normative order” institutionalisiert ist (wie Davis 1966), dann folgt daraus, daß bei deren Bedrohung die Gesellschaft als Ganze in ihrem Bestehen bedroht ist.
Ein Beispiel dafür wäre das Verhalten der nationalsozialistischen Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten Osteuropas.
Der wichtigste Vertreter dieser Ansicht ist Parsons (1968).
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Balog, A. (1989). Normbegriff und Normanwendung. In: Rekonstruktion von Handlungen. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 77. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88740-5_5
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