Zusammenfassung
In der gegenwärtigen Ethik-Diskussion gibt es eine Art neuer querelle des anciens et des modernes. Vor allem über die Vorzüge der aristotelischen oder der kantischen Tradition der Ethik wird gestritten.1 Aber auch in anderen, nicht unmittelbar an historischen Vorbildern orientierten Debatten geht es um Paradigmen, Argumentationstypen und Konzepte, die mehr oder minder deutlich der einen oder anderen Epoche zuzuordnen sind. Das gilt für die Kontroverse um den Primat der Güter- oder der Pflichtenethik,2 der Klugheitsethik oder der Prinzipienethik, der konkreten Ethik oder der allgemeinen Moral, des öffentlichen Wohls oder des privaten (Kommunitaristen versus Liberale),3 vielleicht auch für die Kontroverse um den Umfang der moralisch zu berücksichtigenden Ansprüche (Anthropozentrik versus Bio- oder Kosmozentrik).4 Allerdings verlaufen bei einigen dieser Debatten die Fronten nicht der philosophiehistorischen Abfolge gemäß: Hobbes und Kant werden von den Vertretern der „modernen“ Positionen, Hegel dagegen wird von den Kommunitaristen und einem Teil der „Neoaristoteliker”, Nietzsche von den Kritikern des modernen Rationalismus in Anspruch genommen.
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Literatur
Vgl. U. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Hamburg 1990. H. Krämer, Integrative Ethik. Frankfurt 1992. E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik. In: ders., Probleme der Ethik. Stuttgart 1984, S. 33–56.
Vgl. J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt 1991, S. 166 ff., 176 ff.
Vgl. A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt/New York, 2. Aufl. 1994, sowie M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt 1993.
Vgl. D. Birnbacher, Mensch und Natur. Grundzüge der ökologischen Ethik. In: K. Bayertz (Hrsg.), Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik. Hamburg 1991, S. 278–321.
Vgl. Tugendhat (1984, o. Anm. 1), S. 41 f. sowie ders., Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 1993, S. 78, 84, 87.
Vgl. A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend (After Virtue). Übers. v. W. Rhiel. Frankfurt 1987; Ch. Taylor, Quellen des Selbst (Sources of the Self). Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt 1994.
Vgl. Vorlesungen über Ethik (1993), S. 23 (Seitenverweise in den folgenden Abschnitten beziehen sich auf dieses Buch).
J. Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen. (Ethics. Inventing Right and Wrong). Übers. v. R. Ginters. Stuttgart 1981.
Vgl. etwa R. Hare, Die Sprache der Moral. Übers. v. P. v. Morstein. Frankfurt 1961. Ders., Moralisches Denken. Übers. v. Ch. Fehige u. G. Meggle. Frankfurt 1992.
Tugendhat stützt sich bei seinen semantischen Überlegungen auf die fast schon klassische Untersuchung von G. H. v. Wright, The Varieties of Goodness. London 1963. Für v. Wright ist aber der moralische Begriff des Guten als des erfolgreich intendierten „Zuträglichen“ (beneficial) mit einem Begriff des Gesamtwohls (welfare, well-being) eines Wesens verknüpft, der deutlich aristotelische Züge trägt (vgl. S. 42 ff., S. 128 ff.). Ein solches Wohl kommt allen Wesen zu, die „ein Leben haben” (have a life), auch Tieren und Pflanzen — ob auch sozialen Einrichtungen (social units) läßt v. Wright offen (S. 50 f.).
A. Smith, The Theory of Moral Sentiments. Hrsg. v. D.D. Raphael und A. L. Macfie. Oxford 1976.
Vgl. Maclntyre (1987, o. Anm. 6).
M. C. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. Übers. v. M. Looser. In: M. Brumlik, H. Brunkhorst (1993, o. Anm. 3) S. 323–363; J. Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980. S. 59–99.
J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991, o. Anm. 2 ), S. 219.
Vgl. ebd. 226.
Eine solche Orientierung fehlt natürlich auch in der Neuzeit nicht völlig. Man kann in der spinozistischen Tradition eine Fortsetzung der „kosmischen“ Einordnung der Ethik sehen, wie Stuart Hampshire. Für die spinozistische wie für die aristotelische Tradition gelte: „the natural order as a whole is the fitting object of that kind of unconditional interest and respect that is called moral” (Morality and Conflict, Oxford 1983, S. 99). Hampshire stimmt mit diesen Traditionen überein — gegen die Ansicht „that specific states of human minds are the only elements of value in the universe“ (ebd.).
Vgl. J. Finnis (1980) S. 373: „Or again, each of us is an item not only in the succession of persons (and their communities) but also in a universe, indefinitely extended in space and time, of entities and states of affairs, many of which have intelligible patterns of flourishing and decay. Of each and the ensemble, it is possible to ask whether it too has a good, a point, a value — and, in any case, how that entity or state of affairs, relates to anybody’s good, not to mention my good and my community’s.“
Vgl. Nußbaum (1993, o. Anm. 13).
Zu einer nicht-aristotelischen Konzeption des Zusammenhanges von Wohlergehen, Freiheit und der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten vgl. A. Sen, Well-being, Agency and Freedom. In: Journal of Philosophy 82 (1985), S. 169–221; sowie ders., Commodities and Capabilities. Amsterdam/New York/Oxford 1985.
Der Begriff des Bedürfnisses ist in der Psychologie, der Philosophie und der Soziologie umstritten. Ich halte aber die „klassische“ Definition von Bedürfnis als „Zustand eines Mangels, des Fehlens an etwas, dessen Behebung verlangt wird” (Psychol. Wörterbuch v. F. Dorsch, 12. überarb. u. erw. Aufl., hrsg. v. Hartmut Häcker/Kurt H. Stapf, Bern 1994, S. 91) nicht für definitiv empirisch überholt oder begrifflich unhaltbar. Eine kausale bzw. instrumentelle Analyse des Bedürfnisbegriffs gibt dagegen B. Merker, Wünsche, Bedürfnisse und ihre Beziehung auf das Glück (Habil.schrift Münster, 1994 ).
Zu diesem Ergebnis kommt auch eine sehr kritische Erörterung der paternalistischen und „repressiven“ Tendenzen in sozialpolitischen Bedürfnis-Argumenten: N. Fraser, Talking about Needs: Interpretive Contests as Political Conflicts in Welfare-State Societies. In: Ethics 99 (Jan. 1989), S. 291–313.
Vgl. Nußbaum (1993), Finnis (1980, beide o. Anm. 13) sowie D. Braybrooke, Meeting Needs. Princeton 1987. Vgl. auch die Liste der Werte und Ziele, in dem „bedürfniskritischen“ Ansatz von J. Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance. Oxford 1988, S. 67 f.
D. Wiggins, Claims of Needs. In: ders., Needs, Values, Truth. Essays in the Philosophy of Value. Aristotelian Society Series, Vol. 6. Second Ed., Cambridge 1991, S. 1–57.
A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt 1992, S. 212–225, 256–273.
Nußbaum (1993, o. Anm. 3) S. 333.
Vgl. etwa G. Lindemann, Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib; D. Lenzen, Historische Anthropologie als melancholische Humanwissenschaft? — beide in: A. Barkhaus, M. Mayer, N. Roughley, D. Thürnau (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt 1996, S. 146–175 u. S. 299–312.
A. Gehlen, Der Mensch. 10. Aufl. Frankfurt 1974; ders., Urmensch und Spätkultur. 2. Aufl., Frankfurt 1964.
Vgl. dazu auch L. Siep, Ethik und Anthropologie. In: A. Barkhaus et. al., (1996, o. Anm. 26 ), S. 274–298.
Vgl. K.M. Meyer-Abich, Mitsein — Eine praktische Naturphilosophie. Im Erscheinen, München 1997, Abschnitt V, 3.
L. Kohlberg, The Psychology of Moral Development. San Francisco 1984.
Es sei nur angemerkt, daß die moralische Entwicklung des Kindes (anders als die körperliche) immer auch Sozialisation in eine bestimmte moralische Kultur ist — also nicht als unabhängiger Vergleichsmaßstab für die moralische Entwicklung der Gattung dienen kann.
H. Krämer (1992, o. Anm. 1).
So etwa noch bei Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis. (Lateinisch-deutsche Ausgabe, übers. y. N. Baumgarten. Hrsg. u. eingel. v. A. Buck, Hamburg 1990 ).
Vgl. o. Anm. 22. Auch bei Tugendhat ist die Freiheit eines unter mehreren „Grundbedürfnissen“ (vgl. o. S. 11).
Vgl. Metaphysik der Sitten § 17, Kants Werke, Akademie-Textausg. Bd. VI, S. 443. Für Kant ist aber das Mitleid (als affektive Disposition) gegenüber Menschen nicht selber moralisch, sondern nur eine „der Moralität im Verhältnis zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage“ (ebd.).
Der Mensch bzw. jedes vernünftige Wesen als moralisches ist für Kant der „Endzweck der Schöpfung“ (Kritik der Urteilskraft, Akad.-Textausg. Bd V, S. 435). Ohne moralische Wesen wären die „Welten… zu nichts da”, „ohne den Menschen [wäre] die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck“ (ebd., S. 442).
Tugendhat ebd.
Vgl. Ricken, ( 1987, o. Anm. 36) S. 8 ff., sowie die Diskussion in: J. Nida-Rümelin, D. v. d. Pfordten (Hrsg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie. Baden-Baden 1995.
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Siep, L. (1997). Zwei Formen der Ethik. In: Zwei Formen der Ethik. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, vol 347. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88140-3_1
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