Zusammenfassung
Hannah Arendt kommt das Verdienst zu, als eine der ersten auf den problematischen Umgang mit den Flucht- und Wanderungsbewegungen nach dem 1. Weltkrieg und die möglichen Konsequenzen aufmerksam gemacht zu haben. In ihrer bekannten Studie erfaßt sie die »politische Organisation« der durch Krieg und Revolution ausgelösten Bewegungen als eine der Entwicklungsbedingungen totalitärer Herrschaft in Deutschland. In der politischen Behandlung der Flüchtlinge und Einwanderer, die zu völliger Schutz- und Rechtlosigkeit führe, artikuliere und verschärfe sich die Krise des Nationalstaats. Darüber hinaus wird auf die Folgen für den Bereich der gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen verwiesen. Die unterschiedlichen Maßnahmen bis hin zu Deportationen und Internierungen ließen die Ausnahmesitution zur zynischen Normalität werden und machten die davon betroffenen Menschen nicht nur »heimatlos«, »rechtlos« und »staatenlos«, sondern »überflüssig«.1
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986 (EA 1951), S. 422f. u. 686f.
Vgl. dazu beispielsweise Said: Imperialism.
Trade Maurer: Ostjuden in Deutschland. 1918–1913. Hamburg 1986.
Zit. n. Maurer: Ostjuden, S. 419.
Zit. n. Maurer: Ostjuden, S. 420.
Frank Becker, Ute Gerhard, Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheorisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: IASL 22 (1977), H. 1, S. 70–154, S. 71. Vgl. zur genaueren Bestimmung des Begriffs auch Axel Drews, Ute Gerhard, Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik — Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie. In: IASL, 1. Sonderheft Forschungsreferate. Tübingen 1985, S. 256–375.
Vgl. Überlegungen zu einer solchen Ausrichtung der Symbolik Jürgen Link: Über Kollektivsymbolik im politischen Diskurs und ihren Anteil an totalitären Tendenzen. In: kultuRRevolution 17/18 (mai 1988), S. 41–43.
Vgl. Wolfgang Köllmann: Bevölkerungsentwicklung in der Weimarer Republik. In: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Hg. v. H. Mommsen, D. Petzina u. B. Weis-brod. Düsseldorf 1974, S. 76–84. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945. Hg. v. D. Petzina et al. München 1978;
Klaus J. Bade: Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik. In: Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. Hg. v. Michael Stürmer. Königstein/Ts. 1980, S. 160–187.
Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt/M. 1987, S. 238 u. 237.
Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996 (EA: Hitler’s Willing Executioners. New York 1996).
Der Vorwurf, für Goldhagens Überlegungen sei die Vorstellung eines Nationalcharakters dominierend, war allerdings ein etwas überzogener Vorwurf der Debatte. Zur Frage der Nationalstereotypen und ihrer historischen Funktionsweise aus der Sicht der Kollektivsymbolforschung vgl. Ute Gerhard, Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hg. von J.L. u. Wulf Wülfing. Stuttgart 1991, S. 16–52.
Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die europäischen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt/M. 1993 (EA Hamburg 1991);
Götz Aly: Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt/M. 1995.
Karl C. Thalheim am 28. November 1941 in seinem Vortrag über »Die menschlichen Wanderungen in Krise und Neuaufbau der Weltwirtschaft« vor der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin; zit. n. Aly/Heim: Vordenker, S. 120.
Zit. n. Aly: Völkerverschiebung, S. 86, 89.
»Der Aufmarsch, der Demonstrationszug, der Einmarsch in den Saal bei öffentlichen Kundgebungen wird bis ins kleinste geübt, trainiert und muß wie am Schnürchen funktionieren.« Manfred v. Killinger: Die SA. In Wort und Bild. 1933, S. 56 (zit. n. Thomas Balistier: Gewalt und Ordnung: Kalkül und Faszination der SA. Münster 1989, S. 53).
Jean Pierre Faye: Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativen Vernunft. Kritik der narrativen Ökonomie. Aus dem Franz. übers, v. Irmela Arnsperger. 2 Bde. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977 (EA: Langages totalitaires: critique de la raison narrative; critique de l’economie narrative. Paris 1972), hier Bd. 1, S. 18.
Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. 4. Aufl. Köln 1987 (EA Leipzig 1975).
D.h. genau die Momente, die etwa Klemperer als den schlechten Stil und den sprachlichen und kulturellen Niveauverlust kennzeichnet, nämlich Bildbrüche, Inadäquanzen, bestimmt Faye als die besonders effektiven diskursiven Verfahren (vgl. etwa LTI, S. 53).
Faye, Bd. 2, S. 843, zit. Schachts Argumentationen zu Projekten, die Arbeitslosigkeit als Problem durch »Rückführung« in Land- und Hauswirtschaft zu lösen.
Ernst Buske: Jugend und Volk. In: Die freideutsche Jugendbewegung: Ursprung und Zukunft. Hg. v. Adolf Grabowsky u. Walther Koch. Gotha 1920 (Drittes Ergänzungsheft der Halbmonatsschrift »Das neue Deutschland«), S. 23–27, hier S. 24.
Vgl. Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77 (1990), S. 88–99.
Vgl. u.a. Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik. München 1986; Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992; schließlich gesamtkulturell Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. München, Wien 1991. Letzterer tendiert jedoch an vielen Stellen dazu, die modernen Elemente unter dem Aspekt der ›Verschleierung‹ und des »Scheins« zu sehen, wenn es etwa heißt, der NS habe sich einen »reovlutionären Anstrich« gegeben (66), oder häufiger von »Täuschung« bzw. von »Blendwerk« die Rede ist (215).
Anschauliches dazu liefern die Technikutopien, beschrieben in Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1988.
Ketelsen: Drittes Reich., S. 254f.
Erhard Schütz: »Jene blaßgrauen Bänder«. Die Reichsautobahn in Literatur und anderen Medien des »Dritten Reiches«. In: IASL 18 (1993) H. 2, S. 76–120.
Vgl. Siegfried Reinecke: Autosymbolik in Journalismus, Literatur und Film. Struktural-funktionale Analysen vom Beginn der Motorisierung bis zur Gegenwart. Bochum 1992, S. 179–206.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/M. 1977/78.
Ulrike Haß: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert. München 1993, hier S. 14.
Natürlich sind solche Diagnosen abhängig von dem zugrundegelegten Symbolbegriff. Bei Haß finden sich — jedoch ohne genauere Erklärung — Vorstellungen Cassirers, Bourdieus Kategorie des symbolischen Kapitals und Anklänge an einen medientheoretisch gewendeten Lacanschen Symbolbegriff.
Von den zahlreichen Veröffentlichungen, in denen Lethen die Befunde seiner Analyse zur »Neuen Sachlichkeit« aus den den 70er Jahren auf interessante Weise spezifiziert und erheblich modifiziert, seien etwa genannt: Helmut Lethen: Die Neue Sachlichkeit. In: Weimarer Republik — Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil. Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 9. Hg. v. Alexander v. Bormann u. Horst A. Glaser. Reinbek 1989 (EA 1983), S. 168–179; H.L.: Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden. In: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne. Hg. v. Dietmar Kamper u. Willem van Reijen. Frankfurt/M. 1987, S. 282–324; H.L.: Die Eisfabrik in den Tropen. Kältephantasien der europäischen Avantgarde. In: Willkommen & Abschied der Maschinen. Literatur und Technik. Hg. v. Erhard Schütz. Essen 1988, S. 100–121; H.L.: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994.
Lethen: Sachlichkeit, S. 172.
Lethen: Verhaltenslehre, S. 11 u. 235–243; Lethen kennzeichnet diese Figur in Anlehnung an Riesman.
Lethen: Sachlichkeit, S. 175.
Diesen Aspekt der Überschneidungen vernachlässigt auch die Untersuchung Frank Beckers, der die zurecht betonte Modernität der Neuen Sachlichkeit ausschließlich in ihrer Funktionalität für die demokratischen und republikanischen Positionen der 20er Jahre hervorhebt (vgl. Frank Becker: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918–1933. Wiesbaden 1993).
Vgl. zur Motivgeschichte des »ewigen Wanderers« Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt 1979 sowie M.F.: Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Frankfurt/ M. 1989; zu Boheme und Künstlertopos Helmut Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zur ihrer Erforschung. Stuttgart 1968.
Jost Hermand: Der »neuromantische« Seelenvagabund. In: Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Die Vorträge des Zweiten Kolloquiums in Amherst/Massachusetts. Hg. v. Wolfgang Paulsen. Heidelberg 1969, S. 95–116. Hermands Wiederholung der äußerst problematischen Kategorien des »Strolches« und des »Parasitismus« für das »neuromantische Vagabundentum«, das er auch in der »Hippy-Bewegung« wiederfindet, spricht dafür, daß das »Establishment« sich doch stärker in Frage gestellt sah, als es nach Hermands Aussagen notwendig gewesen wäre.
Kurt Pinthus: Männliche Literatur. In: Das Tagebuch 10 (1. Juni 1929) H. 1, zit. n. Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Hg. v. Anton Kaes. Stuttgart 1983, S. 328–335, hier S. 331.
Manfred Frank sieht das Motiv der »unendlichen Fahrt« ausschließlich in Verbindung mit dem »Epochenumbruch der Neuzeit« und ihrer szientifischen, rationalen Ausrichtung, die wiederum die Mangelstruktur des neuzeitlichen Subjekts begründe, genauer den mit dem Verlust des »mittelalterlichen Gottes« entstandenen Mangel bezogen auf »Verbindlichkeiten«, »Wertüberzeugungen« und »Sinnforderung« (vgl. Frank: »Unendliche Fahrt«, S. 10–16).
Zit. n. Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 271.
Rights and permissions
Copyright information
© 1998 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Gerhard, U. (1998). Wanderungsbewegungen und die Symbolik des Nomadischen — verschiedene Geschichten der 20er und 30er Jahre. In: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Historische Diskursanalyse der Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85122-2_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-85122-2_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-13324-9
Online ISBN: 978-3-322-85122-2
eBook Packages: Springer Book Archive