Zusammenfassung
„Orale Tradition“ — oder „mündliche Überlieferung“ — ist in den heutigen Geisteswissenschaften ein Modewort geworden. Nicht nur die Spezialisten, also die Folkloristen, kümmern sich um die mündliche Volksdichtung, sondern auch die Volkskundler und Ethnographen/Anthropologen fragen immer öfter nach den „Lebensdokumenten“ ihrer Gewährsleute. Ferner beeilen sich Soziologen und Politologen, die Geschichten über GULAG-Insassen, über die Ermordung des letzten Zaren, über Mitterands und Gorbatschows außereheliche Kinder usw. zu veröffentlichen. Massenmedien bringen täglich neue „hearsay-stories”, wobei UFOs und tropische Spinnen in der Yucca-Palme die Hauptrolle spielen. Redete man noch vor einigen Jahren (mit Recht) vom Absterben der Mündlichkeit und von der 24. Stunde der Erzählforschung, so schäumt heutzutage eine entgegengesetzte Welle: Millionen von neuen Analphabeten lesen nicht mehr, „instant“ Kriegsbilder erfüllen die Fernsehbildschirme, die blödesten Lügengeschichten werden den Touristen erzählt, und die Touristen erzählen auch (blöd)sinngleiche Stories.1 Viele Folkloristen dulden nicht mehr die mühevollen Typus-und Motiv-Forschungen, die Strukturanalyse oder Erzählbiologie – sie sind momentan nur Sprachrohre des heutigen „mündlichen Konsums“.
Wie es ist, wenn es so wäre, wie es sein würde, wenn es so ist, wie es nicht war, als es war, um zu sein, wie es sein müßte, wenn es wäre, um so zu sein.
Max Bense: Zentrales und Occasionelles 12/1981
I had to decide on my own what was and what was not folklore in this context.
Linda Dégh: American Folklore and the Mass Media. 1994, p. 9.
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Literatur
Stoessel, Ingrid: Scheintod und Todesangst. Außerungsformen der Angst in ihren geschichtlichen Wandlungen /17.-20. Jahrhundert/Köln, 1983. (Kölner Medizinhistorische Beiträge 30)
Brednich, Rolf Wilhelm: Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. München, 1990. No. 110, S. 138–139. Das Kennwort hier ist also nicht,die Sage’, sondern etwas ähnliches, aber nicht direkt dasselbe, also,sagenhaftes`.
Virtanen, Leea: Varastettu isoäiti. Kaupungin kansantarinoita,Die gestohlene Großmutter. Stadtvolkssagen`. Helsinki, 1987. 12, 208.
Siehe Arnasons zweibändige Sammlung (1862–1864) der isländischen Volkssagen und Volksmärchen, gattungstypologisch zusammengestellt in: Bedker, Laurits: Folk Literature ( Germanic ). Copenhagen, 1965. 295.
Diese und andere Angaben der frühen „oral history“-Forschung siehe: Morrisey, Charles T.: Why call it,Oral History’? Searching for Early Usage of a Generic Term. In: Oral History Review 1980: 20–48.
Siehe die Sammlung ihrer diesbezüglichen Studien, in engstem Zusammenhang mit Massenmedienforschung: Dégh, Linda: American Folklore and the Mass Media. Bloomington, 1994.
Bonaparte, Marie: The Myth of the Corpse in the Car. The American Imago 2:2 (1941 July) 105–126. Das Kennwort heißt hier nun,Mythos`, in Amerika bedeutet es aber auch,Sage`.
Siehe seine Dissertation: Bausinger, Hermann: Lebendiges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählgutes auf Grund von Untersuchungen im nordöstlichen Württemberg. Tübingen, 1952 (also Jahrzehnte vor dem Boom der „modernen“ Folklore!).
Weber-Kellermann, Ingeborg: Berliner Sagenbildung. Zeitschrift für Volkskunde 52 (1955) 162–170. Übrigens handelt es sich um eine Variante der „Wahrsagerin“-Geschichte (siehe oben, Fußnote 9.), und die in West-Berlin ansässige Prophetin hat einen ungarischen Namen (die älteste ungarische,moderne` Sage?).
Röhrich, Lutz: Sage. Stuttgart, 1966. 30.
Siehe z. B.: Davidson, H. R. Ellis: Katharine Briggs: Story Teller. Cambridge, 1986.
Siehe: Modernization and „Modernization“ in African Folklore. In: Abstracts/Résumés. Tradition et Modernisation in Africa Today. 3e Congrès International. Budapest — Gödöllö, 27 août — 4 septembre 1989. Die eigentlichen Kongreßberichte sind nicht erschienen.
Marzolph, Ulrich: Reconsidering the Iranian Sources of a Romanian Political Joke. Western Folklore 47:3 (1988 July) 212–216. Über dieses Witzthema schrieb man auch schon früher und auch nach Marzolph.
Siehe die gute kritische Ausgabe, jedoch ohne folkloristischen Anmerkungen: S. Särdi, Margit, Hrsg.: Hermânyi Dienes József szépprózai munkâi. Budapest, 1992. 182–473, 572–605. (Régi Magyar Prózai Emlékek 9). Im allgemeinen siehe: Kapferer, Jean-Noel: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Leipzig, 1996.
Roff, Derek A.: The Evolution of Life Histories. Theory and Analysis. New York — London, 1992.
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© 1998 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden
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Voigt, V. (1998). Ergebnisse und Fehler bei der Bearbeitung von ‚heutigen‘ mündlichen Texten. In: Heissig, W., Schott, R. (eds) Die heutige Bedeutung oraler Traditionen / The Present-Day Importance of Oral Traditions. Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenchaften, vol 102. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83676-2_5
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