Zusammenfassung
Meine Analyse von Kafkas Wahrnehmung und Beschreibung von Interkulturalität beruht auf der Arbeitshypothese, dass seine interkulturelle Erfahrung erst im Schreibprozess manifest wird, und zwar in dem von ihm gesprochenen Deutsch, einer Sprache, die er von Geburt an spricht, in der Schule gelernt hat und die er schreibt. Er tritt erst spät in Kontakt mit dem Jiddischen; Hebräisch fangt er erst spät an zu lernen. Und wenn er auch mit dem Tsche-chischen umgeht, hat es nicht denselben Status bei ihm wie die (dominierende) deutsche Sprache. Dennoch stellt ihm diese Sprache Schwierigkeiten im Schaffensprozess, und er zweifelt an ihr. Seine Skepsis offenbart seinen problematischen Bezug zum Deutschen, eine Krise, die mit der in Verbindung gebracht werden kann, die Jacques Derrida in Bezug auf seine eigene Einsprachigkeit, auf das Französische, so zum Ausdruck bringt: „Oui, je n’ai qu’une langue, or ce n’est pas la mienne.“38 Das von Kafka gesprochene Deutsch entpuppt sich ihm als die Sprache des Anderen. Wie beschreibt und begründet er seinen Zweifel an der Sprache? Welche Bedeutung misst er der Sprache bei und wie reflektiert diese seine inter-kulturelle Erfahrung. Dass interkulturelle Erfahrung durch Sprache reflektiert wird, erscheint in diesem Zusammenhang als Handicap im Schreibprozess.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
References
J. Derrida, 1996, Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine, Paris, 15. So bringt der französisch-maghrebinische Jude französischer Sprache Derrida das Dilemma des Einsprachlers, der er ist, zum Ausdruck. Seine Sprache, das Französische, beschreibt er als die Sprache des Anderen. (Vgl. S. 47) Mit seinem Konzept der Einsprachigkeit, des Monolinguisme de l’autre, unternimmt er eine Dekonstruktion der Muttersprache. Damit lehnt er einen natürlichen Bezug zur (Mutter)sprache ab Das fuhrt ihn zu folgender aporetischen Formulierung: „1) On ne parle jamais qu’une seule langue; 2) On ne parle jamais une seule langue.“ (S. 21) Die Spaltung in der Sprache, ihr hybrider Charakter, legt bei ihm Zeugnis ab von einem gespaltenen Bewusstsein und einer Krise der Identität.
Vgl. F. Mauthner, 1969, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, Hildesheim (Leipzig, 1923), 30f
vgl. auch S. Kessler, 1983, Kafka. Poetik der sinnlichen Welt, Strukturen sprachkritischen Erzählens, Stuttgart, 6.
Kafka arbeitet zu dieser Zeit an den Betrachtungen, die in noch unvollständiger Fassung bereits um den 9. März 1908 in: Hyperion. Eine Zweimonatsschrift, I. Folge, I. Band, Heft I, erscheinen. Vgl. dazu F. Kafka. Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, hrsg. von W. Kittler u.a., Frankfurt/M., 1996.
vgl. dazu auch H.-U. Treichel, 1999, „Als geriete ich selber in Gärung“ — Über Hofmannsthals Brief des Lord Chandos, in: A. Honold/ M. Koppen (Hg.), „Die andere Stimme“. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Festschrift für Klaus R. Scherpe zum 60. Geburtstag, Köln u.a., 135–143. Es geht um eine Metaphysik der Sprache überhaupt. Die Sprachskepsis hat in der Tat manche Autoren entweder zum Schweigen gebracht, oder dazu, das Schweigen selbst zu thematisieren, oder aber auch dazu, sich der Lautpoesie zuzuwenden, da Erfahrungen mit der gewöhnlichen Sprache nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden können.
Vgl. z.B. E. Gomringer, 1998, Schweigen, in: Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, hrsg. von D. Bode, Stuttgart, 326
vgl. auch E. Jandl, 1998, schtzngrmm, in: Deutsche Gedichte, ebd. 328.
G. Deleuze/ F. Guattari, 1975, Kafka. Pour une littérature mineure, Paris, 34f.
C. Stölzl, 1979, Prag. In: Kafka-Handbuch, Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit, hrsg. von H. Binder, Stuttgart, 40–100, hier: 83.
Vgl. K. Wuchterl/ A. Hübner, 1979, Wittgenstein mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg, 75
vgl. auch B. McGuinness, 1989, Der Grundgedanke des Tractatus, in: Texte zum Tractatus, hrsg. und übersetzt von J. Schulte, Frankfurt/M., 32–48, hier: 32f.
K. Buchheister/D. Heuer, 1992, Ludwig Wittgenstein, Stuttgart, 28f.
L. Wittgenstein, 1963, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, 7, Frankfurt/M, hier: 115.
Ebd., 89; vgl. auch C. Bezzel, 2000, Wittgenstein zur Einführung, Hamburg, 83f.
P. Bürger, 1988, Prosa der Moderne, Frankfurt/M., 396.
Th. W. Adorno, 1974, Noten zur Literatur, in ders., Gesammelte Schriften Bd. II, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt/M., 41–48, 43.
Th. W. Adorno, 1974, Noten zur Literatur, in ders., Gesammelte Schriften Bd. II, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt/M., 41–48, 43.
Vgl. R. T. Gray, 1987, Constructive Destruction. Kafkas Aphorism: Literary Tradition and literary Transformation, Tübingen, 63f.
Vgl. H. Binder, 1966, Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka, Bonn, 19ff.
Vgl. H. Binder, 1982, Kafka. Ein Leben in Prag, München, 50; auch ders., 1979, Franz Kafka. Leben und Persönlichkeit, Stuttgart, 100–109.
Christoph Stölzl hat die sozialgeschichtliche Biografie des Idealtypus eines Juden der Jahrhundertwende ausgehend von Kafkas Judentum untersucht. Sein Versuch ist im Zusammenhang einer Untersuchung über die Rolle der Juden im Böhmen des 19./20. Jahrhunderts entstanden, über die Rolle der Geschichte des jüdischen Problems und des Antisemitismus in einer Nationalitätengesellschaft. Nach Stölzl fängt der Assimilationsprozess der Familie drei Jahre vor der Geburt des Vaters an in einem sozialen Milieu, wo die jüdische Minderheit sich inmitten fremdenfeindlicher Völker gestellt sieht und nach Auswegen sucht. Die Juden schildert er als arme Ghettovölker, die den weder von Deutschen noch von Tschechen ausgeübten Handel übernehmen, was sich vom Hausieren bis zum Großhandel erstreckt. Die sich in diesem Aufstiegsprozess der Juden ausgebeutet fühlenden Tschechen verlieren allmählich an Bedeutung. Angesichts der Nationalitätenkämpfe sind die Tschechen uneinig, sie vermögen es nicht, ihre frühere Position in der Gesellschaft wieder zu erobern und entwickeln nach und nach einen Judenhass. Dabei stützen sie sich auf ihren mittelalterlichen Antisemitismus. Gesetzmäßig werden den Juden alle Rechte abgesprochen, als Außenseiter werden sie ausgebeutet, misshandelt und vergewaltigt. Die österreichische Monarchie bildet für die Juden dann das Sprungbrett in die deutsche kapitalistische Gesellschaft, da die habsburgische Monarchie, auf dem Wege der Konsolidierung der ökonomischen Lage, sich auf den Unternehmungsgeist der Juden stützt und ihnen behutsam, aber entschieden Rechte gewährt. Es ergibt sich also eine Begeisterung für das Deutschtum zu einer Zeit, wo die Juden nach Amerika zu fliehen beginnen. Die Öffnung durch die habsburgische Monarchie kommt den Juden recht, die, bereits in den Ghettos, an die deutsche klassische Literatur eines Goethe oder eines Schiller gewöhnt sind, da sie ja durch das Zeugnis ihrer deutschen Sprachkenntnisse auf einen sozialen Aufstieg und auf die Anerkennung ihrer Menschenwürde hoffen. Dies geht bis hin zur Selbstverleugnung, ja zur Ablehnung der jüdischen Kultur und Religion. Aber mit dem Sturz des Liberalismus verschlechtert sich ihre Lage erneut. Die Tschechen fangen an, die Juden für politische Zwecke zu gewinnen. Vgl. C. Stölzl, 1975, Kafkas böses Böhmen: Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden, München, Kap. 2.
In diesem Zusammenhang ist das Verhalten von Kafkas Vater zu verstehen. Zum Politisierungsprozess der Juden vgl. M. Graetz, 1991, Judentum und Moderne. Die Rolle des aufsteigenden Bürgertums im Politisierungsprozess der Juden, in: Judentum im deutschen Sprachraum, hrsg. von K. E. Grözinger, Frankfurt/M., 259–279.
Über die Tragweite der Akkulturation als Depersonalisationsmoment vgl. R. Robertson, 1988, Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur, Stuttgart, 12–15
vgl. auch H. A. Strauss, 1985, Akkulturation als Schicksal. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Juden und Umwelt, in: Juden und Judentum in der Literatur, hrsg. von H. A. Strauss und C. Hoffmann, München, 9–26.
Vgl. H. Binder/ J. Parik, 1992, Kafka. Ein Leben in Prag, München, 45.
Vgl. R. Thieberger, 1979, Sprache, in: Kafka-Handbuch in zwei bänden, Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart, 177–203, hier: 178. Das heißt im Grunde, dass das Prager Deutsch zurückgedrängt war.
Rights and permissions
Copyright information
© 2005 Deutscher Universitäts-Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Djoufack, P. (2005). Ästhetische als interkulturelle Erfahrung. In: Der Selbe und der Andere. Literaturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-81348-0_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-81348-0_3
Publisher Name: Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8244-4584-4
Online ISBN: 978-3-322-81348-0
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)