Zusammenfassung
Jedes gesellschaftliche Gebilde, das in der Zeit fortdauert und nicht nur ephemer ist, verfügt über einen bestimmten Grad an sozialer Organisation. Unter sozialer Organisation verstehen wir jene Regelungen des Verhaltens, welche die gegenseitige Anpassung, Assimilation oder Kooperation der in einem gesellschaftlichen Gebilde vereinigten Personen bestimmen. Diese Regelungen bilden ein umfangreiches System, beginnend mit einfachen Gewohnheiten, Bräuchen und Verhaltensmustern über die Sitte, das Gewohnheitsrecht, allgemeine moralische Leitideen, das Recht bis zu religiösen, philosophischen und politischen Gedankenkomplexen. In diesem Sinne entsteht bereits mit der anthropologischen Grundscheidung des menschlichen Geschlechts in Mann und Frau und mit der Tatsache der bisexuellen Fortpflanzung ein organisiertes Gebilde, die Familie, die sich zunächst in einem geregelten Verhältnis zwischen Mann, Frau und Kindern kundtut. Mit einem Wort: auch die Familie ist eine Erscheinungsform organisierter Anpassung, Assimilation und Kooperation. Ihrem Ansatz in einem allgemein anthropologischen und biologischen Grundtatbestand verdankt sie zudem ihre außerordentliche Widerstandsfähigkeit in den Stürmen der geschichtlichen Entwicklung und des sozialen Wandels, ohne sich jedoch darum in den rein biologischen Funktionen der Zeugung und Brutpflege zu erschöpfen. Ihre zentrale Funktion liegt vielmehr in der sogenannten „zweiten Geburt“ des Menschen, d.h. im Aufbau seiner sozial-kulturellen Persönlichkeit, die Trägerin und Vollstreckerin sozialer Regelungen und damit das unerläßliche Grundelement aller sozialen Organisation ist (zum Begriff der „zweiten Geburt“ siehe in diesem Bande das Kapitel „Versuch einer Definition der Familie“).
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Literatur
Gustav Heinrich Brlickner, Untersuchungen zur Tiersoziologie, insbes. zur Auflosung der Familie, in: Zeitschrift für Psychologie 128 (1933), S. 84.
Willy Hellpach, Mensch und Volk der GroBstadt, Stuttgart 1939, S. 16ff.
Richard Golhe, Der Arbeiter, Berlin 1934.
Wit übernehmen hier, indem wit ihn zugleich erweitern, einen Begriff von Hildegard Kipp, Die Unehelichkeit, Leipzig 1933.
Vgl. August Egger, Das Familienrecht, 2. Aufl. Zurich 1936, Bd. I, S. 196.
Mabel a Elliott und Francis E. Merrill, Social Disorganisation, 3. Aufl. New York 1951, S. 310ff.
J. Jörges, Psychiatrische Familiengeschichten, Berlin 1919, S. 107.
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König, R., Nave-Herz, R. (2002). Überorganisation der Familie als Gefährdung der seelischen Gesundheit (1949/1974). In: Nave-Herz, R. (eds) Familiensoziologie. René König · Schriften · Ausgabe letzter Hand, vol 14. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80878-3_5
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-80878-3_5
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Print ISBN: 978-3-322-89969-9
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