Zusammenfassung
Die Französische Revolution markiert den take-off in der Entwicklung der modernen Idee der Nation. Die Pariser Ereignisse des Jahres 1789 verleihen dieser Idee eine republikanische Prägung und stellen der Herausbildung der französischen nationalen Identität einen wirkungsvollen Gründungsmythos bereit. Die Ideen der Französischen Revolution1 kondensierten die neuzeitliche politische Philosophie und Entwicklung Westeuropas, andererseits wies der der Revolution folgende jakobinische Terror den Weg zum ideologisch motivierten staatlichen Massenmord. Als Auftakt einer weltgeschichtlichen Achsenzeit politisierte diese „Kulturrevolution“ in Frankreich in ihrer symbolpolitischen Inszenierung den gesamten öffentlichen Zeichenraum mitsamt der Sprache (vgl. Dörner 1995: 98–110) und konstituierte mit der Trinität ihrer normativen Verheißungen sowie dem universellen Anspruch der Menschenrechte ein originär politisches Verständnis der Nation als Staatsnation. Der französische Einheitsstaat hatte bereits im Ancien régime dem ethnisch und kulturell pluralen Land — la France déchirée — zu jener „inneren Einheit“ verholfen, die im vorpolitischen Bereich nicht herzustellen war (vgl. Schubert 1994: 178), bevor in der Ära der Revolution die Proklamation der Nation als une et indivisible in Anlehnung an die Identitätstheorie Jean-Jacques Rousseaus ideologisiert wurde.
„Die Deutschen arbeiten an ihrer Nationalität, kommen aber damit zu spät. Wenn sie dieselbe fertig haben, wird das Nationalitätswesen in der Welt aufgehört haben, und sie werden auch ihre Nationalität gleich wieder aufgeben müssen, ohne, wie Franzosen oder Briten, Nutzen davon gezogen zu haben.“
Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, 1869 (1964: 161)
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References
Vgl. für die Zahlen Erwin Scheuch / Ute Scheuch: Wie deutsch sind die Deutschen?, Bergisch-Gladbach 1992, S. 88; nach von Beyme 1998b: 63.
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Christian Graf von Krockow: Die Reise nach Pommern. Bericht aus einem verschwiegenen Land, Stuttgart 1985, S. 153; zit. n. Weidenfeld/Korte 1991: 202.
Peter Sloterdijk: Der gesprengte Behälter. Notiz über die Krise des Heimatbegriffs in der globalisierten Welt, in: Spiegel-Spezial Nr. 6, 1999, S. 24–29, hier S. 29; zit. n. Koziol 2003: 56. Sloterdijk verknüpft den topischen und den konstruktivistischen Aspekt des Heimatbegriffs, indem er fordert, „als Ort des guten Lebens“, der sich „immer weniger dort finden [ließe], wo man durch Zufall der Geburt schon“ sei, müsse Heimat „durch Lebenskünste und kluge Allianzen fortwährend neu erfunden werden“ (Hervorhebungen W. B.).
Rainer-Olaf Schultze: Ungleiche Entwicklung und Regionalpolitik in Kanada: Gibt es Alternativen?, in: Roland Vogelsang (Hg.): Kanada im Spannungsfeld regionaler Gegensätze. Untersuchungen zu Bevölkerungsentwicklung, Regionalpolitik und Verfassungsreform in den 80erJahren, Bochum 1990, S. 80–131, hier S. 111; zit. n. Raich 1995:25.
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Reflexionsgruppe: Regierungskonferenz 1996: Bericht der Reflexionsgruppe und dokumentarische Hinweise, Brüssel 1995; zit. n. Kohler-Koch 1998: 275.
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Vgl. Leon N. Lindberg / Stuart Scheingold: Europe’s Would-Be Polity, Englewood Cliffs, New Jersey 1970; zit. n. Rattinger 1996: 45.
Der Begriff stammt von Dominique Moisi: Dreaming of Europe, in: Foreign Policy, 115, Summer 1999, S. 44– 61, hier S. 45; zit. n. Weiss 2003: 183.
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So erkennt Karl Immermann 1840 in Bildung, Kunst und Wissenschaft die „Domäne der Intellektuellen“ (Karl Immermann: Autobiographische Schriften, in: Werke in 5 Bänden, hg. von Benno von Wiese, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1973, S. 581; zit. n. Bering 1978: 68).
Das hasserfüllte Geschrei „Tod den Juden! Hängt den Verräter! Tod dem Judas!“ war bereits bei der öffentlichen Degradierung des Hauptmanns Dreyfus in der Folge seiner Verurteilung 1894 ertönt (vgl. M. Paléologue: Tagebuch der Affäre Dreyfus, Stuttgart 1957, S. 30
P. Miquel: L’Affaire Dreyfus, 4. Auflage, Paris 1968, S. 30f.; zit. n. Bering 1978: 35). Auf die elsässische Herkunft des Hauptmanns weist Johannes Thomas hin (vgl. 1982: 158). Als Jude und als Elsässer war Dreyfus in den Augen der französischen Nationalisten gleich zweifach ein Anderer, ein Fremder.
R. M. Meyer: Das Alter einiger Schlagworte, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 3/1900, S. 464–503 und 554–585, hier S. 574; zit. n. Bering 1978: 349.
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Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf, Bd. 1, 1925, S. 267; Hinweis in Sternberger/Storz/Süskind 1968: 92.
Adolf Hitler: Es spricht der Führer. Sieben exemplarische Hitlerreden, hg. von H. v. Kotze / H. Krausnick, Gütersloh 1966, S. 281; zit. n. Bering 1978: 98.
Theodor Geiger: Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949, S: 71; zit. n. Lepsius 1990: 274.
Tony Judt: Europa am Ende des Jahrhunderts, in: Transit 1995, S. 5–28, hier S.19; zit. n. Hornbostel 1996: 493.
Jan Vansina: Oral Tradition as History, Madison 1985, S. 23 (zuvor London 1965, zuerst unter dem Titel De la tradition orale, 1961); zit. n. J. Assmann 1992: 48f. Ähnlich argumentiert auch Lutz Niethammer (1997: 200).
Reinhart Koselleck: Nachwort zu Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt a. M. 1994. S. 117–132, hier S. 117; zit. n. A. Assmann 1999: 14.
Volker Braun: Das Eigentum, in: Karl Otto Conrady (Hg.): Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende, Frankfurt a. M. 1993, S. 51; zit. n. Jäger/Villinger 1997: 28.
Heiner Müller: Mommsens Block, in: Sinn und Form 1993/2, S. 206–211
Volker Braun: Plinius grüßt Tacitus, in: Theater heute 1996/2, S. 20. Beide Texte werden besprochen in Kiesel 1997.
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Bergem, W. (2005). Konkretion: Politisierung von Identität. In: Identitätsformationen in Deutschland. Forschung Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80749-6_5
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