Zusammenfassung
Hans J. Morgenthau (1904–1980), ein Deutscher jüdischer Herkunft aus Coburg, gehört zu den einflussreichsten Gelehrten aus der deutschen Emigration. Der von ihm entwickelte politikwissenschaftliche Ansatz des Klassischen Realismus gilt als der geistesgeschichtliche Ausgangspunkt des systematischen Studiums der politikwissenschaftlichen Disziplin der internationalen Politik überhaupt. Sein Hauptwerk Politics Among Nations 1 wurde in verschiedenste Sprachen übersetzt. Auf deutsch heißt das Opus Macht und Frieden. Dessen Publikation schlug in den USA, einem von einem „historischen Optimismus“2 und von eigener moralischer Auserwähltheit3 überzeugten Land, ein wie eine Bombe. Denn es vermochte Antworten auf scheinbar dämonische historische Prozesse zu geben, denen sich die USA ausgesetzt sahen. Es stellte die internationale Umwelt nicht als eine Welt der Harmonie dar, die von einzelnen Übeltätern vorübergehend gestört würde, sondern als permanenten Schauplatz von Macht- und Interessenkonflikten, die sich häufig auch gewaltsam äußern würden, vor allem dann, wenn Macht in ungezähmter Form in der Weltpolitik vorliege4. Die von vielen Beobachtern angeblich nicht anerkannte5 Machtzent- riertheit der internationalen Politik erklärte Morgenthau aus der Natur des Menschen einerseits6 und den anarchischen Strukturbedingungen des internationalen Systandererseits.7 Die Dramen der beiden Weltkriege8 und die Tatsache des unerwartet aufkommenden Kalten Krieges wusste Morgenthau mit Hilfe seiner Mächtegleichgewichtstheorie plausibel zu erklären. Mit Hilfe einer historischen Analyse des nationalen Interesses der USA seit deren Gründung versucht Morgenthau zu zeigen, dass die USA ihre Grundinteressen in drei Kreisen vertraten: (1) der Vorherrschaft in der westlichen Hemisphäre, (2) der Verteidigung eines Mächtegleichgewichts zwischen den Nationen in Europa und (3) in Asien.9 Aus diesem Grundinteresse leitet er Strategien für die US-Außenpolitik ab.
„Arbeiten zu können im Dienste einer großen Idee, für ein bedeutendes Ziel; jeden Nerv, jeden Muskel und jeden Tropfen Schweißes einsetzen zu können für ein Werk, für eine große Aufgabe; mit dem Werke zu wachsen, im Kampfe mit Besseren selbst größer zu werden und dann am Ende sagen zu können: ich sterbe, aber hier bleibt etwas, das mehr bedeutet als mein Leben und länger dauern wird als mein Leib, mein Werk: das ist meine Hoffnung, wohl würdig, dass ich zu ihrer Verwirklichung die gewaltigsten Anstrengungen mache, das ist mein Ziel, wohl wert, dass ich dafür lebe, und, wenn es sein muss, auch dafür sterbe.“
Hans J. Morgenthau im Alter von 18 Jahren.
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