Zusammenfassung
Während der Weimarer Republik war Cassirer einer der führenden Philosophen und öffentlichen Intellektuellen Deutschlands. Zu dem weitgespannten Netz von Kontakten, das er seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit Literaten, Künstlern, Wissenschaftlern und Philosophen geknüpft hatte, gehörten auch Mitglieder des Wiener Kreises und der Gruppe um Hans Reichenbach in Berlin. Aus diesen Verbindungen resultierten eine Reihe von Diskussionen und intellektuellen Auseinandersetzungen, von denen in der Wissenschaftsphilosophie am wohl Cassirers Debatten mit Schlick und Reichenbach über Einsteins Relativitätstheorien und das Verhältnis von empiristischer und neukantianischer Wissenschaftsphilosophie in den frühen zwanziger Jahren am bekanntesten geworden sind (Friedman 1999; Ryckman 2005). Tatsächlich umfaßte Cassirers kritische Rezeption der Philosophie des Wiener Kreises ein viel weiteres Spektrum.
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Notes
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Ob es später noch Kontakte zwischen Grelling und Cassirer gab, ist mir nicht bekannt. Grelling emigrierte 1938 nach Belgien und floh nach Kriegsbeginn nach Frankreich. Dort wurde er von der Vichy-Regierung in dem Internierungslager Gurs festgehalten, 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Jean Améry, nach eigenem Bekunden zeitweise ein begeisterter Anhänger des Wiener Kreises, berichtet in seiner Autobiographie, dass beide während ihres Aufenthalts in Gurs über Philosophie diskutierten (vgl. Améry 1971, 55).
- 2.
Zur Entstehung- und Rezeptionsgeschichte des Manifestes „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, siehe Uebel (2007).
- 3.
Merkwürdigerweise hat Frank an anderer Stelle Bergsons metaphorische Darstellungen wissenschaftlicher Sachverhalte explizit als „unwissenschaftlich“ kritisiert (cf. Frank 1930, 117 ff.).
- 4.
Ein vorläufiger Bericht über einige Texte findet sich in dem zu Anfang erwähnten Aufsatz Cassirer und der Wiener Kreis (Krois 2000).
- 5.
Vgl. (Coffa 1991, Kap. 9).
- 6.
Eine brillante Darstellung dieses philosophischen Großereignisses hat vor kurzem Peter Gordon mit Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos (Gordon 2010) vorgelegt.
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Siehe etwa Cassirers Ausführungen zu Ausdrucksfunktion und -wahrnehmung im ersten Teil von PSF III.
- 8.
Über das Manifest der “wissenschaftliche Weltauffassung” als Kodifizierung einer “Einstellung” (und nicht als “Theorie”) siehe neuerdings Romizi (2012).
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Cassirer begeht hier einen faux pas, den ein logisch-empiristischer Hardliner wie Neurath sicherlich scharf gerügt hätte: Nach der offiziellen Sprachregelung vertrat der Wiener Kreis keine Weltanschauung, sondern eine – natürlich wissenschaftliche – Weltauffassung.
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Den Wiener Kreis in die Rubrik „analytische Philosophie“ einzuordnen und Cassirer der „kontinentalen Philosophie“ zuzuschlagen, ist deshalb einigermaßen irreführend.
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Carnap legte großen Wert auf eine korrekte Unterscheidung der Ebenen: “… [T]here is no philosophy of nature, but only a philosophy of natural science … no philosophy of mind, but only a philosophy of psychology … always remembering that the philosophy of a science is the syntactical analysis of the language of that science.” (PLS, 88)
- 12.
Die Beschäftigung mit der Graphologie trieb in Carnaps Umgebung einigermaßen seltsame Blüten: Nach seiner Promotion bei Bruno Bauch in Jena zog Carnap 1923 nach Buchenbach bei Freiburg, um dort mit seiner Familie auf dem Gut seines Schwiegervaters als “Privatgelehrter” zu leben. Schon zu dieser Zeit befaßte sich seine damalige Frau Elisabeth mit Graphologie. Beide lernten in Buchenbach den dort ansässigen Privatgelehrten, Graphologen, und Philosophen Broder Christiansen kennen, der in Buchenbach eine “Schreibschule” betrieb. Auch Christiansen hatte bei einem Neukantianer promoviert, nämlich bei Bauchs Doktorvater Heinrich Rickert; Carnap erwähnte ihn wohlwollend im Aufbau (§ 148, § 172). Später publizierte Christiansen zusammen mit Elisabeth Carnap ein Lehrbuch der Handschriftendeutung (Christiansen und Carnap 1933 (1947)). In diesem Buch wurden auch Rudolf Carnaps Handschriften aus mehreren Lebensaltern einer Analyse unterzogen – nicht allzu verwunderlich weisen sie Merkmale auf wie “Fanatismus der Genauigkeit, kritische Schärfe, Aggressivität, …” auf (ibid., 134 f.)).
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Wie weit der Einfluß der Lebensphilosophie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts reichte, belegt folgende kuriose Tatsache: In dem frühen unveröffentlichten Manuskript Vom Chaos zur Welt (Carnap 1922, RC 081-05-01), welches Carnap selbst als „Keim des Aufbau“ bezeichnete, skizzierte er einen relationalen Aufbau der Welt aus Elementarerlebnissen, in dem er zwischen dem „lebendigen“ Teil (Empfindung) und dem „toten“ Teil eines Elementarerlebnisses (Vorstellung) unterschied. Es ist vielleicht nicht abwegig, in dieser Terminologie (natürlich uneingestandene) Anklänge an Bergson zu sehen. Wenn das richtig ist, könnte man sogar behaupten, daß der Aufbau ursprünglich auch die Intention hatte, eine „Synthese“ der „Welt des Lebens“ und der „Welt der Wissenschaft“ zustande zu bringen, was ja implizit auch schon in seinen Grundelementen, den „Elementarerlebnissen“, zum Ausdruck kommt.
- 14.
Ironischerweise erschien diese Arbeit Deweys ausgerechnet in der von Neurath, Carnap, und Morris herausgegebenen Encyclopedia of Unified Science. Deweys Bemerkung über die angeblich „unüberschreitbare Linie“ kann deshalb eigentlich nur auf Carnap gemünzt gewesen sein.
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Mormann, T. (2016). Wissenschaftliche Philosophie im Exil: Cassirer und der Wiener Kreis nach 1933. In: Neuber, M. (eds) Husserl, Cassirer, Schlick. Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, vol 23. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-26745-6_9
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