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Welchen Sinn hat es, die Phänomenologie Edmund Husserls mit der Klassischen Deutschen Philosophie in Beziehung zu setzen?

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Book cover Husserl und die klassische deutsche Philosophie

Part of the book series: Phaenomenologica ((PHAE,volume 212))

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Zusammenfassung

In einer berühmten Unterscheidung (aus einer Vorlesung während des WS 1965/66) hat Dieter Henrich einmal die Grundorientierungen Fichtes, Schellings und Hegels in Bezug auf die Selbstbewusstseinsproblematik folgendermaßen skizziert. Der Einheitsgrund des Mannigfaltigen sei in der cartesianischen Evidenz der Selbstgewissheit anzusiedeln. Bei Fichte spreche sich das so aus, dass etwas Unbedingtes im Ich zu denken sei; Schelling hingegen verlange, das Unbedingte im Ich sei als solches zu denken, während es für Hegel gelte, das Unbedingte im Ich als solchen zu denken, aus der Reflexion selbst einsichtig zu machen. Sofern nun in gleichem Maße auch bei Husserl das transzendentale Bewusstsein das weite Feld aller intentionalen Analysen umfasst und die Frage nach der – notwendigerweise je irgendwie bewusstseinsmäßigen – Selbsterfassung desselben für Husserls Phänomenologie natürlich ganz wesentlich ist, scheint sich die Bezugnahme Husserls zu den Klassischen Deutschen Philosophen durch das Prisma dieser Problematik von Bewusstsein und Selbstbewusstsein geradezu aufzudrängen. Meine dreifache These, der sich die folgenden Überlegungen annehmen werden, besteht nun darin, aufzuzeigen zu versuchen, dass dieser Fragestellung ein methodologisch tiefer liegender Aspekt vorangestellt werden muss, der zum einen den von Henrich und Manfred Frank aufgewiesenen problematischen Horizont in Bezug auf die Grundausrichtung der drei Protagonisten der Klassischen Deutschen Philosophie auf eine Problemstellung hin verdeutlicht, die als ein präziserer Leitfaden für das Verständnis des Grundproblems (freilich nur in theoretischer Hinsicht) der Philosophie des Klassischen Deutschen Idealismus dienen kann, als das bei Henrich und Frank der Fall ist. Zum anderen wird hierdurch klar werden – so hoffe ich jedenfalls –, welches gemeinsame Grundproblem sowohl das Denken der Klassischen Deutschen Philosophen als auch jenes Husserls umgetrieben hat – wodurch insbesondere der Status des „transzendentalen Idealismus“ in der Phänomenologie Husserls verdeutlicht werden soll. Und schließlich eröffnen sich hierin neue Erkenntnisse über die Methode der Husserl’schen Phänomenologie selbst – was dieser in systematischer Hinsicht neue Forschungsperspektiven eröffnet und diese ganze Problemstellung somit aus einem rein historischen bzw. historiographischen Rahmen weit herausführt.

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Notes

  1. 1.

    Vgl. Gondek/Tengelyi, 2011.

  2. 2.

    Und hier verschmelzen also der zweite und der dritte Erkenntnistyp, die ja weiter oben noch unterschieden wurden.

  3. 3.

    Womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sich Fichte niemals wirklich von der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/1795 losgesagt hat.

  4. 4.

    Siehe insbesondere Fichtes Grundriss und Schellings System des transzendentalen Idealismus.

  5. 5.

    Der hier entwickelte Leitfaden orientiert sich grundsätzlich an der Unterscheidung zwischen „Problematischem“ und „Kategorischem“ bei Kant, welche sich in der transzendentalen Perspektive der Kritik der reinen Vernunft in der Beziehung von „Möglichem“ zu „Notwendigem“ kristallisiert. Um die je unterschiedenen Perspektiven aller Transzendentalphilosophen an einem gemeinsamen Leitfaden orientieren zu können, werde ich diesen insofern über die genuin kantische Perspektive erweitern (auch wenn Kant natürlich den Anstoß hierzu liefert), als der Begriff des „Problematischen“ sowohl die Modalität des „Möglichen“ als auch die des „Kontingenten“ umfasst. Jener Perspektive gehören Kant und Fichte, dieser dagegen Schelling und Husserl an.

  6. 6.

    Siehe hierzu Schnell, 2013.

  7. 7.

    Folgende Bemerkungen charakterisieren die transzendentale Methode Husserls auf eine Art und Weise, die in dieselbe Richtung geht: „Der regressive Weg der Begründung einer absolut rechtfertigenden (einer bis ins Letzte zu begründenden) Wissenschaft führt also von der Aufweisung der Voraussetzung, welche in der Vorgegebenheit der Welt für die positiven Wissenschaften wie schon für das vorwissenschaftliche Erfahrungsleben besteht, zur Forderung der Begründung dieser Voraussetzung; in Konsequenz davon zur Forderung der ‚Einklammerung‘ der Weltexistenz (zu ihrem konsequenten In-Schwebe-bleiben) und zur Aufweisung des Erfahrungs- und Seinsbodens, an den das fragliche Sein und jeder Weg der Entscheidung und Begründung gebunden ist. Dieser Seinsboden muß nun thematisch werden als Erkenntnisvoraussetzung für eine letztbegründete Welterkenntnis. Vor aller Erkenntnis positiver Wissenschaft liegt notwendig die Erkenntnis der reinen (transzendentalen) Subjektivität“ (Hua VIII, S. 476).

  8. 8.

    Zum Begriff einer „naiven Phänomenologie“ und den beiden hier erwähnten Stufen siehe die wichtige Beilage XXIX in Hua VIII.

  9. 9.

    Siehe den § 8 der Ersten Cartesianischen Meditation.

  10. 10.

    Die „primordiale Reduktion“, die Husserl im § 44 der Fünften Cartesianischen Meditation einführt, ist ein gutes Beispiel für eine solche „Abbaureduktion“.

  11. 11.

    Husserl spricht in diesem Zusammenhang von einem „konstruktiven Ergänzungsstück“ der phänomenologischen Methode (Hua VIII, S. 139).

  12. 12.

    Dies gilt zum Beispiel für G. Deleuze. Siehe hierzu Schnell, 2004, S. 40 ff.

  13. 13.

    Husserl schreibt am Ende der Cartesianischen Meditationen: „Eine konsequent fortgeführte Phänomenologie konstruiert also a priori, doch in streng intuitiver Wesensnotwendigkeit und -allgemeinheit, die Formen erdenklicher Welten, und diese wieder im Rahmen aller erdenklichen Seinsformen überhaupt und ihres Stufensystems“ (Hua I, S. 180).

  14. 14.

    Diese „konstruktive“ Methode wird von Husserl freilich nicht explizit entwickelt – und der Begriff einer „phänomenologischen Konstruktion“ ist bei ihm auch erst ab den dreißiger Jahren anzutreffen (direkt durch Fink inspiriert). Hermann Cohen führte zuvor den Konstruktionsbegriff in die neukantianische Tradition ein, und Heidegger gebrauchte seinerseits die „phänomenologische Konstruktion“ zum ersten Mal in den Paragraphen 63 und 72 in Sein und Zeit, bevor er ihn dann in seiner Vorlesung vom SS 1929, in der er sich insbesondere auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) stützt, tiefer entwickelt hat (siehe Heidegger, 1997).

  15. 15.

    Ein Beispiel – aus Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität – möge dafür genügen: Das zu genetisierende „Faktum“ ist hierbei jenes der intersubjektiv konstituierten „Erfahrungswelt“. Was es dabei zu „konstruieren“ gilt, ist die phänomenologische Einsicht, derzufolge die Fremd­erfahrung einerseits den Eingang des einigen „primordialen Ich“ in die Monadengemeinschaft ermöglicht, das heißt die Erklärung dafür liefert, dass es nur insofern einig ist, als alle anderen Iche es ebenfalls sind, und andererseits die Möglichkeitsbedingungen dafür aufstellt, dass die intersubjektive Gemeinschaft sich selbst in ihrem Sinn je nur auf die „Welt“ des primordialen Ich aufstuft. Dabei handelt es sich selbstverständlich um keinerlei spekulative Dialektik: Die Fremderfahrung wandelt nämlich die Erscheinung der Welt für das Ich in die Erscheinung einer „objektiven“ Welt, so wie sie für jedermann ist, um – wobei dann aber das „Rätsel“ der Phänomenologie der Intersubjektivität gerade in dieser „Sinnesaufstufung“, dank derer die Fremderfahrung der Welt jene Objektivität zuschreibt, die eben die einige Welt für jedermann kennzeichnet, besteht. Husserl „löst“ dieses „Rätsel“ in der Fünften Cartesianischen Meditation dadurch, dass er einerseits die transzendentalen Bedingungen der Fremderfahrung – insofern, als die sogenannte „Paarung“ nicht zwischen mir und dem dort apperzipierten Leib, sondern zwischen meinem und dem von dem dort erscheinenden Körper erweckten Apperzeptionsmodus (also zwischen zwei Modifikationen) gewährleistet wird – und andererseits eine, den Sinn der „verweltlichenden Selbstapperzeption“ verdeutlichende „objektivierende Gleichstellung“ von Ego und Alter Ego konstruiert. Der entscheidende Punkt dieser phänomenologischen Konstruktion besteht also darin, dass sie nicht lediglich einen phänomenologischen Sachverhalt in seinem ontologischen oder prä-ontologischen Gehalt beschreibt, aber auch nicht bloß vorauszusetzende, transzendentale (in einem eher formalen Sinne) Bedingungen der Erkenntnis festsetzt, sondern, wie gesagt diesseits jeder erkenntnistheoretischen und ontologischen Betrachtungsweise, auf der tiefsten konstitutiven Stufe transzendentale (im Sinne einer „Realnotwendigkeit“ (Kant)) Komponenten aufdeckt, die zwar nur für das zu Genetisierende Gültigkeit haben, gleichwohl aber nicht bloß frei entworfen werden, da sie sich eben erst in der Konstruktion in ihrer Notwendigkeit zeigen. – Gleiches gilt übrigens auch zum Beispiel für die phänomenologische Konstruktion des „Urprozesses“ mit seiner „Kernstruktur“ in den Bernauer Zeitmanuskripten oder für die der „Urhyle“ in Husserls Phänomenologie der Trieb- und Instinktintentionalität. Siehe zu alledem Schnell, 2007.

  16. 16.

    Siehe Schnell, 2004, S. 34.

  17. 17.

    Siehe den § 63 von Formaler und transzendentaler Logik (Hua XVII).

  18. 18.

    Dies soll keineswegs bedeuten, dass sich die „genetische Phänomenologie“ auf die „konstruktive Phänomenologie“ reduziert, sondern lediglich, dass diese eine Lesart (inmitten verschiedener anderer) des Begriffs der „Genese“ in der Phänomenologie ausmachen kann.

  19. 19.

    Und dort, wo sich diese Faktualität nicht mehr genetisieren lässt – und zwar nur dort, d. h. da, wo die Konstruktion aufhört, eine phänomenologische zu sein, und zu einer spekulativen wird – wird das Gebiet der Phänomenologie verlassen und tritt man in die Metaphysik ein.

  20. 20.

    Dem Vorwurf, aus dem begrenzten Rahmen einer bloßen „Synthesis post factum“ nicht heraus- zugelangen, sieht sich insbesondere Merleau-Ponty (und einige seiner Schüler) ausgesetzt.

  21. 21.

    Fichte bezeichnet mit diesem Begriff nicht ein Wissen eines beliebigen Gegenstandes, sondern das, was ein Wissen zu einem Wissen macht, also keinen Inhalt des Wissens, sondern das rein formale Wissen (was sich somit als ein Wissen „von nichts“ erweist).

  22. 22.

    Hiermit ist nicht gemeint, dass der transzendentale Status der phänomenologischen Konstruktion einer lediglich vorauszusetzenden kantischen „Bedingung der Möglichkeit“ entspricht. In der Tat setzt jene eine – in Finks Begriffen – „konstruktive Intuition“ voraus, die der hier veranschlagten „transzendentalen Erfahrung“ zugehört und über den Begriff der sinnlichen Erfahrung (bei Kant) selbstverständlich weit hinausgeht (siehe hierzu das letzte Kapitel in Schnell, 2010). Was den ontologischen Status des zu Konstruierenden angeht, handelt es sich bei demselben weder um ein im Voraus Gegebenes noch ein allererst Hervorzubringendes, sondern um etwas, das, um es in Begriffen, die Marc Richir entlehnt sind, zu sagen, einem anderen „architektonischen Register“ als alles je Gegebene angehört und der Unterscheidung zwischen „Erkenntnistheorie“ und „Ontologie“ vorausliegt.

  23. 23.

    Siehe das Kapitel „Phänomen, Bild, Realität. Grundlinien einer phänomenologischen Metaphysik“ in Schnell, 2011b.

  24. 24.

    Die Unendlichkeit des Umfangs der empirischen Begriffe unterscheidet sich wesentlich von jener der reinen Begriffe. Erstere (die dem „schlechten Unendlichen“ Hegels entspricht) macht nicht in evidenter Weise anschaulich, wie es möglich ist, die Menge der unter dem in Frage kommenden Begriff subsumierten Einzeldinge ad infinitum zu durchlaufen, während für letztere eine solche Möglichkeit tatsächlich in einer zweifellosen Evidenz gegeben ist.

  25. 25.

    In den Unterparagraphen a) und b) des § 87 unterstreicht Husserl, dass die Beliebigkeit der „Varianten“ auch eine solche der „Variationen“ ist.

  26. 26.

    Diese „Dreiheit“ erinnert stark an jene von „reinem Unwandelbaren“, „Wandelbarem“ und „bloßem reinen Wandelbaren“ in der dritten Vorlesung der Wissenschaftslehre von 1804/II von J.G. Fichte. Vgl. hierzu Schnell, 2004, S. 80 ff.

  27. 27.

    Ausführlicher hierzu Schnell, 2011a.

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Schnell, A. (2014). Welchen Sinn hat es, die Phänomenologie Edmund Husserls mit der Klassischen Deutschen Philosophie in Beziehung zu setzen?. In: Fabbianelli, F., Luft, S. (eds) Husserl und die klassische deutsche Philosophie. Phaenomenologica, vol 212. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-01710-5_4

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  • Publisher Name: Springer, Cham

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