Zusammenfassung
Hannah Arendt war 1945 davon ausgegangen, dass das Problem des Bösen1 die fundamentale intellektuelle Frage im Nachkriegseuropa sein würde.2 Sie sollte sich irren. Gerade im Kontext des Versuchs, die NS-Verbrechen durch Rationalisierung zu erklären, und im Zusammenhang mit dem durch die NS-Ideologie besonders inkriminierten dualistischen Schwarz-Weiß-Denken hielt man den Begriff des Bösen für belastet, problematisch und antiquiert. Man verbannte ihn als metaphysisches Relikt aus dem fortschrittlichen wissenschaftlichen Diskurs, tabuisierte ihn und überließ ihn im besten Fall den Religionswissenschaften und der Theologie. Dies sollte sich jedoch maßgeblich ändern, und zwar — keineswegs überraschenderweise — im Kielwasser der apokalyptischen Endzeitfantasien rund um die zweite Jahrtausendwende und im Kontext der aufklärungskritischen, teilweise auch antiaufklärerischen Tendenzen der Postmoderne.
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Literatur
Die Philosophie-und Religionsgeschichte und auch die Naturwissenschaften sind voll von Versuchen, das schwierig zu fassende Phänomen des Bösen zu definieren, es greifbar zu machen und, vor allem, es zu erklären. Vgl. „Kapitel 2. Das ‚Böse ‘— ein korrumpierter Begriff“ in meiner Dissertation Bilder des Bösen? Ikonografische Traditionen in der zeitgenössischen Kunst (Arbeitstitel). In Arbeit.
Hannah Arendt: „Nightmare and Flight“. In: Jerome Kohn (Hg.): Hannah Arendt. Essays in Understanding 1930–1954. New York: Harcourt, Brace & Co 1994, S. 132.
Einige Beispiele: Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve 1992 (Paris 1990); Alexander Schuller, Wolfert von Rahden (Hg.): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Berlin: Akademie Verlag 1993; Florian Rötzer (Hg.): Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern oder: Ist der Teufel ins System ausgewandert? Göttingen: Steidl 1995; Konrad Paul Liessmann (Hg.): Faszination des Bösen. Über die Abgründe des Menschlichen. Wien: Zsolnay 1997 (= Philosophicum Lech, Bd. 1); Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München, Wien: Hanser 1997; Jennifer L. Geddes (Hg.): Evil After Postmodernism. Histories, Narratives, Ethics. London, New York: Routledge 2001; María Pía Lara (Hg.): Rethinking Evil. Contemporary Perspectives. Berkeley, London: University of California Press 2001; Susan Neiman: Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy. Princeton, Oxford: Princeton University Press 2002.
Wieder nur einige Beispiele: Gothic: Transmutations of Horror in Late Twentieth Century Art 1997 am Bostoner MIT; Exorcism: Aesthetic Terrorism im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam 2000; Mirroring Evil im Jewish Museum New York 2002; Apocalypse: Beauty and Horror in Contemporary Art in der Royal Academy of Arts in London 2002; Africa Screams: Das Böse in Kino, Kunst und Kult in Bayreuth, Frankfurt am Main und Wien 2004–06; Il Male in der Palazzina di Caccia di Stupinigi in Turin 2005; All about Evil — Das Böse im Überseemuseum in Bremen 2007.
Lettner: Bilder des Bösen ?, op. cit. Anm. 1.
Elaine Pagels: Adam, Eve, and the Serpent. New York: Vintage Books 1988.
Vgl. John K. Bonnell: „The Serpent with a Human Head in Art and in Mystery Play“. In: American Journal of Archeology 21, 1917, S. 255–291; Henry Ansgar Kelly: „The Metamorphoses of the Eden Serpent during the Middle Ages and Renaissance“. In: Viator 2, 1979, S. 301–327; Nona C. Flores: „‚Effigies Amicitiae …Veritas Inimicitiae‘. Antifeminism in the Iconography of the Woman-Headed Serpent in Medieval and Renaissance Art and Literature.“ In: Dies. (Hg.): Animals in the Middle Ages. New York, London: Routledge 1996, S. 167–195.
Johannes Georg Deckers, Hans Reinhard Seeliger, Gabriele Mietke: Die Katakombe „Santi Marcellino e Pietro“. Repertorium der Malereien. Münster: Aschendorff 1987 (= Roma sotteranea cristiana 6).
Petri Comestoris Scolastica historia. Liber Genesis. Hg. Agneta Sylwan. Turnhout: Brepols 2005 (= Corpus Christianorum: Continuatio mediaevalis 191).
Beispiele finden sich bei Bonnell: „The Serpent With A Human Head“, op. cit. Anm. 7, S. 265–278; Kelly: „The Metamorphoses of the Eden Serpent“, op. cit. Anm. 7, S. 303–324; Flores: „Effigies Amicitiae“, op. cit. Anm. 7, S. 176–190.
Dazu eine Einschränkung: Nona C. Flores verweist auf ähnliche hybride Formen mit weiblichen Gesichtern in den mittelalterlichen Bestiarien und Monsterbüchern: die Viper, den Skorpion und die Sirene. Sie galten als Symbol der Täuschung (Viper), der Falschheit, der Heuchelei und des Verrats (Skorpion) sowie der Doppelzüngigkeit (Sirene) und sind damit nicht nur visuell, sondern auch inhaltlich mit der Sündenfallschlange verknüpft. Dies trifft vor allem auf die Sirene zu, die schon die Kirchenväter als Verkörperung sowohl tödlicher Lust als auch tödlichen Wissens interpretierten. Vgl. Flores: „Effigies Amicitiae“, op. cit. Anm. 7, S. 171–174.
Siehe dazu Kelly: „The Metamorphoses of the Eden Serpent“, op. cit. Anm. 7, S. 301 f.
Bruno Bettelheim: The Uses of Enchantment. The Meaning and Importance of Fairy Tales. New York: Vintage Books 1989 (1976), S. 212.
Walter Delius: Geschichte der Marienverehrung. München: Reinhardt 1963; Marina Warner: Alone of All Her Sex. The Myth and the Cult of the Virgin Mary. London: Vintage 1976.
In einer berühmt-berüchtigten, häufig zitierten Stelle bezeichnet Tertullian die Frau an sich als „diaboli ianua“ („Einfallstor des Teufels“) und führt dabei als Urbeispiel Evas Vergehen an. Quintus Septimius Florens Tertullianus: De cultu feminarum. Buch I, 1.
Flores: „Effigies Amicitiae“, op. cit. Anm. 7, S. 167.
Speculum humanae Salvationis, 2. H. 14. Jh., Deutschland. British Library, Arundel MS 120, fol. 5.
Petrus Comestor: Historia scholastica. Fragment. Kopist: Hesdin d’Amiens, Frankreich ca. 1450–1455. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, MMW 10 A 15, 21r und 25v.
Vgl. Michael Camille: Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. London: Reaktion Books 1992; Alixe Bovey: Monsters & Grotesques in Medieval Manuscripts. London: The British Library 2002.
Chris Ofili: The Blue Rider. Berlin: Contemporary Fine Arts 2005.
Die Schlangenfrau evoziert auch die in vielen afrikanischen Mythen verbreitete (und wahrscheinlich aus dem Christentum importierte und dann transformierte) Figur der Mami Water oder Mamba Muntu. Vgl. Birgit Meyer: „Die Erotik des Bösen. Mami Water als ‚christlicher Dämon ‘in ghanischen und nigerianischen Videos“. In: Tobias Wendl (Hg.): Africa Screams. Das Böse in Kino, Kunst und Kult. Wuppertal: Peter Hammer 2004, S. 199–209; Brian Siegel: „Water Spirits and Mermaids. The Copperbelt Case“. http://www.ecu.edu/african/sersas/Siegel400.htm.
Bazon Brock: „‚Die Herren Franz Marc und Wassily Kandinsky haften gesamtverbindlich für die Deckung der Kosten‘“. In: Chris Ofili: The Blue Rider. Contemporary Fine Arts Berlin 2005, S. 102.
Helaine Posner, Kiki Smith: Kiki Smith — Telling Tales. New York: International Center of Photography 2001.
Hugo van der Goes: Sündenfall-Erlösungs- Dip — tychon (um 1470/75), Kunsthistorisches Museum Wien.
Anne Baring, Jules Cashford: The Myth of the Goddess. Evolution of an Image. London: Viking Arkana 1991.
Weitere Beispiele bei Kiki Smith: Virgin Mary (1992), Mary Magdalene (1994), Lilith (1994), Lot’s Wife (1996), Sirens and Harpies (2001). Marina Warner bezeichnet dieses Figurenarsenal als „city of ladies, thronged with great foremothers“. Vgl. Marina Warner: „Wolf-girl, Soul-bird. The Mortal Art of Kiki Smith“. In: Siri Engberg (Hg.): Kiki Smith. A Gathering 1980–2005. Minneapolis: Walker Art Center 2005, S. 43–53, S. 43.
Kiki Smith, Brigitte Reinhardt: Small Sculptures and Large Drawings. Ulmer Museum. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001.
Bereits in einem 1990 geführten Interview betont Smith die Notwendigkeit des Heilens und Flickens (vgl. Helaine Posner: Kiki Smith. New York: Monacelli Press 2005, S. 14) — ein Aspekt, der in ihrem Werk zunehmend an Bedeutung gewann und keinesfalls immer auf ungeteilte Zustimmung der Kritik stieß bzw. ihr Werk dem Kitschverdacht aussetzte. U. a. Holland Cotter: „From the Ethereal to the Unmentionable“. In: The New York Times, 17.11.2006; Nicola Kuhn: „Raining Stars and the Fairy Tale Girl“. In: Der Tagesspiegel, 14.9.2006; Daniel Baird: „Kiki Smith. Prints, Books & Things“. In: The Brooklyn Rail. Critical Perspektives on Arts, Politics, and Culture. Februar 2004.
Vgl. das Monsterkapitel in meiner Dissertation Bilder des Bösen?, Kapitel 2. Das ‚Böse ‘— ein korrumpierter Begriff“ in meiner Dissertation Bilder des Bösen? Ikonografische Traditionen in der zeitgenössischen Kunst op. cit. Anm. 1; und Jeffrey Jerome Cohen (Hg.): Monster Theory. Reading Culture. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1996.
Ein weiteres Beispiel in der Installation ist Daughter (1999), ein Hybrid aus Rotkäppchen und dem bösen Wolf.
Vor allem die Kunst des Symbolismus reaktiviert für ihr misogynes Frauenbild zahlreiche männermordende Sphingen, Medusen, Vampire und weitere Tier-Weib-Hybride, die mit der frauenköpfigen Paradiesschlange in Zusammenhang stehen.
Beispielsweise die Borg Queen aus der Star-Trek-Serie. Näheres dazu in meiner Dissertation Bilder des Bösen?, Kapitel 2. Das ‚Böse ‘— ein korrumpierter Begriff“ in meiner Dissertation Bilder des Bösen? Ikonografische Traditionen in der zeitgenössischen Kunst op. cit. Anm. 1.
Diese Entsexualisierung stellt gegenüber Kiki Smiths früheren Arbeiten einen deutlichen Bruch dar. Vgl. beispielsweise die Adam-Eva-Konstellation in Untitled (1990) oder Mother/Child (1993).
Stephan Berg: „Vorwort“. In: Ders. (Hg.): Kara Walker. Kunstverein Hannover. Freiburg im Breisgau: Modo 2002, S. 13
Zit. nach Kathy Halbreich: „Forword“. In: Kara Walker: My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love. Walker Art Center, Minneapolis. Ostfildern: Hatje Cantz 2007, S. 1–3, S. 1.
Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren. Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg: Junius 1993, S. 20 ff.
Näheres dazu u. a. bei Robert Hobbs: „Kara Walker. Weiße Schatten, schwarz geschminkt“. In: Berg (Hg.): Kara Walker, op. cit. Anm. 38, S. 105–130.
David Pilgrim: The Picaninny Caricature. In: Jim Crow Museum of Racist Memorabilia. Ferris State University, Michigan: http://www.ferris.edu/jimcrow/picaninny/homepage.htm.
Robert Storr: „Spooked“. In: Walker: My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love, op. cit. Anm. 39, S. 63–73, S. 65.
Mit Spiral Woman (2003) reinterpretiert Louise Bourgeois ein Motiv, das sie unter demselben Titel während ihrer langen Künstlerkarriere immer wieder aufgegriffen hat. Schon 1950 nannte sie eine Gruppe von schwarzen und weißen abstrakt-geometrischen, totemähnlichen Stelen Spiral Women. 1984 schuf sie eine 30 Zentimeter hohe Spiral Woman aus Bronze, die das unmittelbare Vorbild für die lebensgroße Stoffskulptur von 2003 bildet.
Michelangelo: Sündenfall, Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508–12), Vatikanische Museen, Rom.
Kopflose Frauen bzw. Frauenfiguren, deren Köpfe durch etwas anderes ersetzt sind, hat Louise Bourgeois schon in Gemälden der 1940er-Jahre festgehalten, u. a. im von ihr sehr häufig variierten Thema der femme maison, eines Hybriden aus weiblichem Körper und Architektur. An die Stelle des Kopfes tritt hier ein Haus — eine überzeugende Metapher für das Verschwinden des weiblichen Intellekts im Rollenbild der Hausfrau und Mutter. Vgl. Robert Storr: „A Sketch for a Portrait“. In: Ders., Paulo Herkenhoff, Allan Schwartzman (Hg.): Louise Bourgeois. London: Phaidon 2003, S. 28–93, S. 50 f.
Das spiegelt sich nicht nur in der zeitgenössischen Kunst, sondern auch im neuen Interesse der Kulturwissenschaften an prämodernen Monstern sowie in der Wiederauferstehung der gothic monsters aus den 1930er-Jahren im Hollywoodkino der 1990er-Jahre. Vgl. dazu das Monsterkapitel in meiner Dissertation Bilder des Bösen?, Kapitel 2. Das ‚Böse ‘— ein korrumpierter Begriff“ in meiner Dissertation Bilder des Bösen? Ikonografische Traditionen in der zeitgenössischen Kunst op. cit. Anm. 1.
Warburg analysierte bekanntlich das „Nachleben“ der Antike in der Renaissance und konstatierte dabei das Phänomen der „Inversion“, also der völligen Neudeutung oder Umkehrung der Bedeutung eines Motivs, beispielsweise die zu positiven Figuren umgedeuteten orientalischen Sternendämonen in Renaissancefresken. Vgl. Aby Warburg: „Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912/1922)“. In: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. von Dieter Wuttke. Baden-Baden: Koerner 1980 (= Saecula Spiritualia 1).
Marlene Dumas: Measuring Your Own Grave. Los Angeles: The Museum of Contemporary Art Los Angeles 2008, S. 124 f.
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Lettner, N. (2010). Bilder des Bösen?. In: Bast, G., Bettel, F., Hollendonner, B. (eds) UNI*VERS. Edition Angewandte. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-211-99285-2_18
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